Havva Engin – Pädagogische Hochschule Heidelberg
Wenn in Deutschland Ergebnisse von (inter-)nationalen Leistungsstudien veröffentlicht werden, ist häufig eine reflexartige Reaktion von Bildungspolitiker/innen für das schlechte Abschneiden den „hohen Anteil von Schüler/innen mit Migrationshintergrund“ verantwortlich zu machen. Ende Oktober 2022 wiederholte sich dieses Ritual erneut, als die Ergebnisse der nationalen IQB-Studie bekannt gegeben wurden.
Der jüngste „bildungspolitische Schnellschuss“ soll in diesem Beitrag als Anlass genommen werden, zu überprüfen, inwieweit die hergestellte Kausalität, den Bildungsmisserfolg von Schüler/innen mit (familiärer) Zuwanderungserfahrung mit deren Migrationsgeschichte zu „erklären“, Bestand hat. In einem weiteren Schritt sollen Faktoren benannt werden, die im hiesigen Bildungssystem über Schulerfolg bzw. Misserfolg entscheiden, um abschließend Vorschläge für eine bildungsgerechte Bildungspolitik zu formulieren.
Begriffliche Einordnung – Bildungsgerechtigkeit
Der Begriff „Bildungsgerechtigkeit“ wurde in den vergangenen Jahren nicht nur zum Schlüsselbegriff in Diskursen über das hiesige Bildungssystem, sondern entwickelte sich zwischenzeitlich zur eigenständigen Analysekategorie, um auf institutionelle Strukturen zu verweisen, die bestimmte Gruppen von Kindern und Jugendlichen systematisch benachteiligen und dadurch von Bildungsteilhabe ausschließen. Die Verfasserin orientiert sich beim Terminus „Bildungsgerechtigkeit“ an der Definition von Anger/ Plünnecke (2022), nach der ein bildungsgerechtes Bildungssystem folgende Eigenschaften zeigt:
- Der Anteil von Schüler/innen, welche die Schule abbrechen bzw. ohne Abschluss verlassen, ist auf dem niedrigsten Wert.
- Eine hohe Zahl von Schüler/innen erreicht die Mindeststandards und damit bessere (berufliche) Qualifikationschancen.
- Die Bildungsteilhabe erfolgt unabhängig von der familiären sozioökonomischen Herkunft.
- Alle Schüler/innen werden gemäß ihrer individuellen Leistungspotenziale gefördert.
Herkunftsbedingte Unterschiede als Ursache von Leistungsdisparitäten
Zwischenzeitlich liegen für Deutschland ausreichend Studienergebnisse vor, die aufzeigen, dass es nicht der Migrationshintergrund per se ist, welcher sich nachteilig auf die schulischen Leistungen auswirkt, sondern die Nichtbeachtung unterschiedlicher familiärer und soziökonomischer Kontexte, kurz gesprochen: „die Gleichbehandlung des Ungleichen“. Aktuelle Daten aus dem Familienministerium zeigen auf, dass viele Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund in Familien mit niedrigerem Bildungsniveau aufwachsen, das mit einem geringen Familieneinkommen korreliert, d.h., fehlendes „Bildungskapital“ mit fehlendem „ökonomischem Kapital“ einhergeht. Wie die Zahlen der Studie „Bildung in Deutschland“ von 2016 belegen, sind von diesem Umstand die Hälfte der Kinder und Jugendlichen mit familiärer Zuwanderungserfahrung betroffen. Entstammen dagegen zugewanderte Schüler/innen aus Elternhäusern mit hohem Bildungsniveau, zeigen ihre schulischen Leistungen keine Unterschiede zu einheimischen Schüler/innen aus der gleichen sozialen Schicht. Was also den gravierenden Unterschied macht – und bisher nicht genügend in Debatten berücksichtigt wird – ist der Anteil innerhalb der sozial schwachen Schicht: während die Hälfte der migrierten Familien in die sozioökonomisch schwächste Gruppe zu subsumieren ist, beträgt ihr Anteil innerhalb der sozioökonomisch hohen Statusgruppe lediglich zehn Prozent (im Vergleich zu 27 Prozent der einheimischen Familien), ist, was die signifikanten Leistungsunterschiede zwischen eingewanderten und einheimischen Schüler/innen erklärbar macht. Bereits die Auswertung der IGLU-Ergebnisse von 2006 verwies auf diesen Umstand, nämlich die enge Kopplung von Schulerfolg und Bildungshintergrund der Eltern (vgl. Schwippert/Wendt/Tarelli 2012; Tarelli/Schwippert/Stubbe 2012, zit. n. SVR 2016:20), doch wurde dieser Zusammenhang in der Politik zu wenig beachtet und demzufolge auch nicht ernsthaft bildungspolitisch angegangen.
Es kann resümiert werden, dass ausbleibender Bildungserfolg weniger von der (familiären) Zuwanderungsgeschichte als vielmehr von einer „Gleichbehandlung des Ungleichen“ durch die Bildungsinstitutionen verursacht wird, was zu einer systematischen Benachteiligung von allen Schüler/innen aus sozio-ökonomisch schwachen Elternhäusern führt (vgl. Anger/Plünnecke 2022).
Verschärft wird fehlende Bildungsgerechtigkeit darüber hinaus durch die weiterhin schwache inter-/transkulturelle Ausrichtung der Bildungsinstitutionen sowie einer ausbleibenden Diversitätssensibilität ihrer Bildungsakteur*innen.
Der Sachverständigenrat Migration und Integration verwies bereits 2014 auf drei Kerninhalte für eine gelingende Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus (vgl. SVR 2014): Erstens „Informationsvermittlung“, d.h. die kontinuierliche Einbindung von Eltern in schulisch-pädagogische Entwicklungen und Prozesse und deren regelmäßige Unterrichtung, zweitens die „Schulung von Kompetenzen“, d.h. die Schaffung von Rahmenbedingungen, welche eine Beteiligung von Eltern in verschiedenen schulischen Gremien ermöglichen und drittens „Partizipation“, was ihre Mitwirkung in schulisch-institutionellen Strukturen sichert. Werden die seitens des SVR benannten Aspekte als Maßstab für die Kooperation zwischen Schule und Elternhaus grundgelegt, so ist festzuhalten, dass gegenwärtig in keinem Bundesland ein flächendeckendes und niedrigschwelliges Eltern-Mitwirkungsangebot als integraler Bestandteil des Bildungsprogramms realisiert wird. Dabei belegen aktuellere Studien wie die von Hillmayr et al. (2021), dass die schulischen Leistungen gerade bei Schüler/innen mit familiärer Zuwanderungserfahrung zunehmen und ihre schulische Motivation zunimmt, wenn Eltern schulisch mitwirken (Hillmayr et al. 2021:33). Daher empfehlen die Autor/innen, mit Blick auf diese Elterngruppe, in den Schulen Vermittlungspersonen wie Elternbegleiter/innen oder Kulturdolmetscher/innen einzusetzen und eine aufsuchende Elternzusammenarbeit zu realisieren (Hillmayr et al. 2021:38).
Von den skizzierten Studienergebnissen ausgehend ist festzuhalten, dass für ein bildungsgerechtes Bildungssystem die Realisierung einer diversitätssensiblen und inklusiven Pädagogik von zentraler Bedeutung ist, da mit ihr die Chance erwächst, zum einen gängige Kategorisierungen, welche Schüler/innen in finale Einordnungen wie „Migrationshintergrund“ zwängen, auf ihre Funktion und „gesellschaftliche Wirkmächtigkeit“ kritisch zu überprüfen, (vgl. Walgenbach 2021: 47), zum anderen Veränderungen im Bildungssystem auf unterschiedlichen Ebenen zielgerichtet und konkret anzustoßen. Auf der institutionellen Ebene bedeutet dies die Überwindung der schulischen Mehrgliedrigkeit, auf der professionellen Ebene die Realisierung einer pädagogischen Handlungskompetenz der Bildungsakteur/innen im Umgang mit verschiedenen Diversitätsdimensionen, auf didaktisch-methodischer Ebene die Fokussierung auf Lernprozesse mit unterschiedlichen Leistungsniveaus der Schülerschaft, auf der intersubjektiven Ebene die Ermöglichung des Lernens in verschiedenen Lehr-/Lernarrangements und in bildungspolitisch-finanzieller Perspektive die Sicherstellung aller inklusiven Beschulungsformate (vgl. Prengel 2018).
Resümierend ist festzustellen, dass die hiesige Bildungspolitik im eigenen Interesse diskriminierende Erklärungsansätze für existierende Leistungsdisparitäten zwischen Schüler/innengruppen überwinden und sich stattdessen mit Studienergebnissen auseinandersetzen sollte, wonach nicht die „Betroffenen“ das „Problem“ sind, sondern institutionelle Strukturen und Einstellungen, welche auf aktuelle Herausforderungen bisher keine zielführenden pädagogischen Antworten zu geben vermögen. Es bleibt daher für Politik und Pädagogik gleichermaßen als Ziel bestehen, das Versprechen einzulösen, allen Schüler/innen die bestmögliche Förderung ihrer Bildungspotenziale zu ermöglichen!
Literaturquellen
- Anger, Christina / Plünnecke, Axel (2021): Bildungsgerechtigkeit. Herausforderung für das deutsche Bildungssystem, IW-Analysen, Nr. 140, Köln. URL: https://www.iwkoeln.de/studien/christina-anger-axel-pluennecke-herausforderung-fuer-das-deutsche-bildungssystem.html
- BMFSFJ (2020): Gelebte Vielfalt: Familien mit Migrationshintergrund in Deutschland. URL:https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/gelebte-vielfalt-familien-mit-migrationshintergrund-in-deutschland-116882
- Hillmayr, Delia; Täschner, Janina; Brockmann, Lilo; Holzberger, Doris (2021): Elternbeteiligung im schulischen Kontext. Potenzial zur Förderung des schulischen Erfolgs von Schülerinnen und Schülern.
- Prengel, Annedore (2018): Pädagogik der Vielfalt. Inklusive Strömungen in der Sphäre spätmoderner Bildung – In: Müller, Frank J. (Hrsg.): Blick zurück nach vorn – WegbereiterInnen der Inklusion. Band 2. Originalausgabe. Gießen: Psychosozial-Verlag 2018, S. 33-56
- Schwippert, Knut/Wendt, Heike/Tarelli, Irmela 2012: Lesekompetenzen von Schülerinnen und
Schülern mit Migrationshintergrund, in: Bos, Wilfried/Tarelli, Irmela/Bremerich-Vos, Al-
bert/Schwippert, Knut (Hrsg.): IGLU 2011. Lesekompetenzen von Grundschulkindern in
Deutschland im internationalen Vergleich, Münster, 191–208.
- SVR (2020): Ungleiche Bildungschancen. Fakten zur Benachteiligung von jungen Menschen mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem. 04.2020. URL: https://www.svr-migration.de/wpcontent/uploads/2019/03/2020_Kurz_und_Buendig_Bildung_final.pdf
- SVR (2016): Doppelt benachteiligt? Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem, Berlin. URL: https://www.svr-migration.de/wpcontent/uploads/2017/07/SVR-FB_Doppelt_benachteiligt.pdf
- SVR (2013): Segregation an deutschen Schulen: Ausmaß, Folgen und Handlungsempfehlungen für bessere Bildungschancen, Berlin. URL: https://www.svrmigration.de/wp-content/uploads/2013/07/SVR-FB_Studie-Bildungssegregation_Web.pdf
- Walgenbach, Katharina (2021): Erziehungswissenschaftliche Perspektiven auf Vielfalt, Heterogenität, Diversity/Diversität, Intersektionalität. In: Hedderich, Ingeborg; Reppin, Jeanne; Butschi, Corinne (Hrsg.): Perspektiven auf Vielfalt in der frühen Kindheit. Mit Kindern Diversität erforschen. 2., durchgesehene Auflage. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2021, S. 41-59.