Prof. Dr. Vernor Muñoz[2] | Kosta Rika – Ehemaliger Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen über das Recht auf Bildung
Wir alle wissen etwas.
Wir alle wissen etwas nicht.
Deshalb lernen wir immer.
(Paulo Freire)
Für die Menschenrechte erziehen
Die Bemühungen, Bildung zu ihren zentralen Absichten hin zu führen, haben uns dazu motiviert, gegen die merkantilistischen Tendenzen zu kämpfen, die Bildung als eine verhandelbare Dienstleistung und nicht als ein Menschenrecht definieren.
Diese Absichten schlagen sich nieder in den wichtigsten Instrumenten des internationalen Rechts, der internationalen Erklärung der Menschenrechte (die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, das Übereinkommen über die Rechte des Kindes u.a.) und wurden von einigen Vertragsorganen erläutert.[3]
Wir wissen, das Bildung weit über den Zugang zu einer formalen Beschulung hinausgeht und das Recht auf eine spezifische Qualität der Erziehung und das breite Spektrum an Lebenserfahrungen und Lernprozessen umfasst, die es Menschen ermöglichen, ihre Persönlichkeit, Talente und Fähigkeiten individuell und kollektiv zu entwickeln und ein erfülltes und befriedigendes Leben in der Gesellschaft zu führen.[4]
Außerdem beruht Bildung nicht auf einer Garantie, die der Staat nur Kindern und Jugendlichen zuzusichern hat, denn sie handelt von einem Menschenrecht, das per definitionem alle Menschen, unabhängig von ihrem Alter, einfordern können[5].
Genau deshalb begründet die Notwendigkeit, den substantiellen Sinn der Bildungswesens wiederherzustellen, welcher auf die Entwicklung der Persönlichkeit und der Menschenwürde abzielt, die prinzipielle Zielrichtung, die unsere Arbeit motiviert, indem wir erkennen, dass es sich um ein Recht auf dauerhafte Praxis handelt, das im Rahmen der Konvergenz und des Lernens aller anderen Menschenrechte geschützt werden muss.
Bildung ist dann, über eine individuelle Garantie hinaus, ein soziales Recht, dessen maximaler Ausdruck die Person in der Ausübung ihrer Staatsbürgerschaft ist; es ist nicht auf eine Lebensperiode reduziert, sondern auf den gesamten Verlauf der Existenz von Männern und Frauen.
Die formale Schulbildung ist folglich ein integraler Mechanismus von Bildungsprozessen, aber niemals ein Phänomen, das Lernprozesse einschränkt und in vielen Fällen leider die Möglichkeiten von Erwachsenen reduziert, wenn der Staat Bildungsangebote begrenzt, ohne die Bedürfnisse und Interessen dieser Bevölkerung zu berücksichtigen.
Dieser Ausschluss beruht auf der falschen Annahme, dass die einzigen Empfänger von „Bildungsdienstleistungen“ Minderjährige oder junge Menschen sind, eine Annahme, die das Stereotyp verstärkt, welches die Subjekte der Bildung als bloße Rezeptoren der Sozialisierungskraft des Staates präsentiert.
Diese ätiologische Verzerrung ist besonders evident, wenn die Bildung von ihren eigentlichen Absichten abgekoppelt wird und sie die Widersprüche und Spannungen von Wirtschaftssystemen und patriarchalen Kulturen verdichtet.[6]
Die Globalisierung: Eine für alle geteilte Welt[7]
Wohl wissend, dass es nicht möglich ist, das Thema der Globalisierung und ihrer vielfältigen Erscheinungsformen in ein paar Zeilen zu behandeln, können wir zumindest auf ihrer Haupteigenschaft insistieren und bekräftigen, dass es sich um ein Phänomen handelt, das mit den totalitären Prozessen der Merkantilisierung zusammenhängt, von denen die gegenwärtige Welt heimgesucht wird.
Wir sprechen von der Globalisierung des Marktes und damit von der Beeinflussung eines wesentlichen Teils der zivilen, politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Manifestationen der Menschheit.
Die Rationalität, die diese Art von Globalisierung zu rechtfertigen versucht, führt zu asymmetrischen Werten in allen gesellschaftspolitischen Bereichen, die unweigerlich auch einen guten Teil der interindividuellen und gemeinschaftlichen Beziehungen herabstufen, die historischen kulturellen Prinzipien degradieren, die wenig oder nichts mit kommerziellem Utilitarismus zu tun haben, indem sie in die Kategorien von „Verlusten“ und „Profiten“, von „Investitionen“ und „Ausgaben“ gehoben werden.
Der bemerkenswerteste Effekt ist in dieser Hinsicht die Art und Weise, in der die Globalisierung die soziale Gleichheit und die Bedürfnisse nach Inklusion beeinflusst.
Die Globalisierung hat die Neuordnung von Akteuren, Normen, Regeln und Beziehungen hervorgebracht, die letztendlich ein neues Grundprinzip planetarischer Interaktionen generiert.[8]
Man hat geltend gemacht, dass die Globalisierung positive Auswirkungen haben könnte, indem sie die Schaffung eines respektvollen Umfelds des kulturellen Pluralismus provoziert. Es ist jedoch schwer zu verstehen, wie ein System, das auf Wettbewerb und Akkumulation basiert, irgendwelche Skrupel bezüglich Gemeinschaften einflößen könnte, die ein auf Solidarität basierendes politisches Projekt vorschlagen.
In der neuen „globalen Agenda“ werden soziale Gerechtigkeit, kulturelle Identitäten und die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, insbesondere Bildung, als entwicklungsfremde Faktoren behandelt und oftmals als Bedrohungen für Geschäftsprozesse verstanden oder sie werden unter der Vermarktungstendenz staatlicher Dienstleistungen subsumiert.
Statt diese Kohärenz zu erzeugen, richtet diese Art der Globalisierung die Kulturen gegen sich selbst und verwandelt spirituelle und soziale Werte in bloße Waren, die für die Party der Finanzspekulation genügen.
Die Absicht, die Bildung auf ihre wesentlichen Ziele zurückzuführen, muss daher die Notwendigkeit in sich einschreiben, eine Staatsbürgerschaft zu schaffen, die allen Menschenrechten aller Menschen verpflichtet ist.
Die weltweite Verbreitung der Menschenrechte ist angesichts der Globalisierung der Volkswirtschaften die überlegene politische Antwort, die von den Bildungsprozessen ausgehend erfolgen kann.
Auf dem Weg zu einem neuen Paradigma
Erwachsene stehen vor vielen Schwierigkeiten, ihr Recht auf Bildung zu verwirklichen. Es gibt jedoch zwei Hauptbedrohungen, die wir erwähnen sollten:
Die erste ist der Mangel an Bildungsmöglichkeiten und die Ausgrenzung.
Die zweite ist die curriculare Tendenz, erwachsene Frauen und Männer, die in formalen und nicht-formalen Systemen eingeschrieben oder inkorporiert sind, nur als „Ressourcen für die Arbeit“ zu betrachten und nicht als vollständige Subjekte eines Rechts auf integrale Bildung und den Genuss von Wissen.
Im ersten Fall handelt es sich um ein komplexes Netzwerk von Diskriminierung und Ausgrenzung aufgrund von Geschlecht, Alter, Armut, sozio-kulturellem Hintergrund, ethnischer Herkunft und Glauben.
Die uniforme Rolle, die die Globalisierung dem Bildungsbereich aufzwingt, befürwortet sich im Allgemeinen selbst als ein selektiver Mechanismus, der Erwachsene auf eine reproduktive Rolle verweist, die zunehmend von den pädagogischen Möglichkeiten abweicht, und sie als deplazierte Individuen betrachtet, die ihre Chance auf Bildung „verpasst“ haben.
Diese Art der Ausgrenzung manifestiert sich in der Praxis durch das Fehlen von Volkshochschulen und von alternativen Systemen und Modalitäten für Erwachsene, durch das Fehlen staatlicher Maßnahmen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse und durch die Begrenzung der (immer knappen) finanziellen Mittel zur Gewährleistung ihres Rechts auf Bildung.
Wenn die Globalisierung versucht, die kommerziellen und technologischen Möglichkeiten zu möglichst niedrigen Kosten zu maximieren, ist zu erwarten, dass diese Logik sich auf soziale und kulturelle Bereiche überträgt, was die falsche Vorstellung fördert, dass Bildung ein Faktor für den Markt ist und, als Mittel der Sozialisation, in erster Linie Individuen herauszubilden sucht, die von frühestem Alter an diesem Ziel entsprechen.
Der Mangel an Chancen und die soziale Ausgrenzung von Erwachsenen tritt dann als strukturelle Antwort eines Systems auf, das sie insoweit für „nutzlos“ als Bildungssubjekte ansieht, wie sie in der Dynamik der globalisierten Welt bereits eine bestimmte „Funktion“ erfüllen.
Im zweiten Fall, wenn der Zugang der Erwachsenen zu den Bildungssystemen oder -modalitäten erreicht wurde, gelingt es ihnen nicht, in allen Fällen die von der Globalisierung aufgezwungene Nützlichkeitstendenz zu überwinden, so dass das Curriculum sich hauptsächlich als Unterricht für Arbeit, oft für Unterbeschäftigung abzeichnet.
Wir sind nicht dagegen, Bildungsprozesse mit der Verbesserung der wirtschaftlichen Bedingungen von Menschen zu verbinden. Aber wir können auch nicht akzeptieren, dass Bildung in erster Linie dazu dient, die Nachfrage nach Arbeitskräften zu decken, unabhängig von der Notwendigkeit, die integralen Fähigkeiten der Menschen zu entwickeln (die es ihnen auf jeden Fall erlauben würden, sich erfolgreich mit produktiven Prozessen zu verknüpfen).
Die übermäßige Betonung der Marktmechanismen und die geringe curriculare Relevanz bedeuten das größte Risiko und Versagen in der Erwachsenenbildung, da diese Menschen für gewöhnlich an prekären Bedingungen der Inklusion teilhaben; es ist wert hervorzuheben, dass sie sich pädagogischen Praktiken unterwerfen, die ihre Bedürfnisse, Interessen und Rechte nicht erfüllen.
Dies führt nicht nur zur Verweigerung des Menschenrechts auf Bildung, sondern verletzt auch seinen spezifischen Inhalt, denn Erkenntnis, die sich nicht in der Entwicklung einer Persönlichkeit, die Menschenrechte respektiert, aufbaut, ist Wissen von niedriger Qualität.
Die Notwendigkeit, interkulturelle Verantwortung, Solidarität und Respekt in der globalisierten Welt zu entwickeln, verpflichtet die Bildung dazu, zu dieser Realität kritische Menschen auszubilden und es Jeder und Jedem ausnahmslos zu erlauben, unsere Talente und Fähigkeiten in der Errichtung einer partizipatorischen, bewussten, kritischen, solidarischen und gerechten Gesellschaft zu verbessern.[9].
Die Bildung zu einem neuen Paradigma zu führen, bedeutet Bildungsprozessen als umformendes Geltendmachen der sozialen und ökonomischen Ungleichheiten Rechnung zu tragen, die wesentlich zum Aufbau einer Art von Staatsbürgerschaft beitragen, die Demokratie als alltägliche Angelegenheit stärkt und mit Freude lebt in Bezug auf die Entscheidungsfindung und die familiäre und gemeinschaftliche Verantwortung.
Die Erwachsenenbildung darf nicht mehr als Ergänzung zum Bildungssystem betrachtet werden oder als eine Form der Buße für Sünden angesichts von Ausgrenzung und Gleichgültigkeit. Sie sollte jetzt als eine Bastion neuer Ziele und Handlungen bedacht werden, in einer Welt die trotz zerbrochener Träume und brennender Mauern weiterhin auf eigenen Füßen steht.
[1]Übersetzung aus dem Spanischen durch Wolfgang Jantzen
[2]Ehemaliger Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen über das Recht auf Bildung (2004-2010).
[3]So die UN-Kinderrechtskommission, die UN-Frauenrechtskommission und der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.
[4]In ähnlichen Termini die Artikel 28 und 29 der Kinderechtskonvention.
[5]Artikel 13 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.
[6]Muñoz, Vernor. The right to education. Report to the Commission on Human Rights submitted by the Special Rapporteur on the right to education. E/CN.4/2005/50. 17 December 2004. pp. 5-13.
[7]“Un mundo para todos dividido” (“Eine für alle geteilte Welt“) lautet der Titel eines Buches des honduranischen Dichters Roberto Sosa
[8]Samper Lizano, Ernesto. Educación y globalización. EN: Educación y globalización, los desafíos para América Latina. Vol. I. CEPAL-ECLAC-OEI, Santiago de Chile, 2002.
[9]Im gleichen Sinne La Mesa de Educación de Personas Adultas [Erwachsenbildungsbehörde] ALFALIT-CEES. San Salvador, 2004. Weiterhin: „Auf dem Gebiet der Politik ist Bildung eine Voraussetzung für den Aufbau einer Demokratie, die auf dem sozialen Rechtsstaat beruht. Bildung für Demokratie, Menschenrechte, Frieden, Toleranz. Mit einem Wort, politische Bildung. In gleicher Weise beinhaltet Demokratie die Produktion und den tatsächlichen Zugang zu Bildung, zu wissenschaftlichem, künstlerischem und politischem Wissen für alle. Der Aufbau einer Demokratie wird durch die Erziehung der Bürger erreicht.” Sánchez Ángel, Ricardo: El sentido de la época: sobre globalización y educación en derechos humanos. En: De miradas y mensajes a la educación en derechos humanos. Fundación Ideas, Santiago de Chile, 2004, p.23.(Der Sinn der Epoche: Über Globalisierung und Erziehung. In: Ausblicke und Botschaften zur Menschenrechtsbildung)