Prof. Dr. Werner Nell | Martin-Luther Üniversität – Halle-Wittenberg
Während alle Welt: Medien, Parteien, besorgte Bürger sich um den Zustand der inzwischen Millionen AfD-Wähler – vermutlich nicht ganz zu Unrecht – Sorgen machen, gerät das politische Personal der Partei nahezu ganz aus dem Blick. Es scheint so, als ob die knapp 100 Bundestagsabgeordneten, ebenso wie die zahlreichen Landtagsvertreter und deren Entourage, also in etwa 500 bis 600 mehr oder weniger engagierte Akteure im politischen und vor allem gesellschaftlichen Feld der Bundesrepublik lediglich umsetzen, was der unzufriedene und verängstigte Bürger so denkt und will. Dabei muss es doch auch umgekehrt herum gesehen werden: Sie haben ihre ganze Kraft und viele Tricks darauf verwandt, einem aus unterschiedlichen Quellen gespeisten Unbehagen, auch einem Streben nach Veränderung, das manchmal, man denke an die sogar mit altgriechischen Vokabeln unterfütterten Erregungshoffnungen des AfD-Philosophen Jongen, nicht mehr weit von einer Lust auf Krawall entfernt ist, nicht nur einen Raum, sondern vielmehr auch eine Richtung, ja ein Feindbild zu geben: Wenn schon nicht die Juden, dann der Islam, der Westen, die Flüchtlinge und Undeutschen, nicht zuletzt also alle Ansatzpunkte und Entwicklungen, die seit den 1960er Jahren Impulse dafür waren, aus der in ihre Volksgemeinschaft ebenso wie in ihr Obrigkeitsdenken eingemauerten älteren deutschen Gesellschaft die heute weitgehend (noch) vorhandene (und gelebte) multikulturelle, freiheitliche, offene und einigermaßen auch nach Außen und Innen hin eher friedfertige Gesellschaft der Bundesrepublik zu machen.
Dass es Menschen aus diversen Gründen nicht passt, unter diesen Umständen zu dieser Zeit in dieser Gesellschaft zu leben bzw. leben zu „müssen“, kommt vor. Auch dass manche sich unbehaglich fühlen und auf Abhilfe, ja Erlösung sinnen: Vor dem Alter, vor der Armut, der Zukunft, der Selbständigkeit der Frauen, der Einsamkeit und den Nachbarn, muss immer wieder in Rechnung gestellt werden – und ist wohl auch schon immer vorhanden, zumindest seitdem Menschen sich auf die „ärgerliche Tatsache der Gesellschaft“ (Ralf Dahrendorf) beziehen (müssen). Tatsächlich, das wissen wir allerdings bereits seit ca. 220 Jahren ist es eine Zumutung in der Moderne zu leben. Ohne Vater, Mutter und auch ohne Führer ist es schwer und erfordert ein zumindest weitgehendes Erwachsensein. Freilich gehört zum Erwachsenen auch ein Wissen um die Unbeständigkeit der Dinge und die Begrenztheit des Lebens, auch um die Grenzen des eigenen Handelns und um die Wechselhaftigkeit der Verhältnisse – ein Wissen um die Welt und die Menschen, das es seit der Antike gibt und das für Europa gerade in jener Zwischenwelt des östlichen Mittelmeers und seiner Anrainer-Landschaften seinen Ursprung hat, gegen die heute das Abendland (auf welchen Grundlagen?) verteidigt werden soll. Zum alteuropäischen Weltwissen, geschöpft aus den Quellen aller Zeiten und Völker – also auch von den Fremden – gehört außerdem, dass es sich ohne Recht, ohne Gastfreundschaft und Mitleid, aber auch ohne Toleranz und Humor nicht mit anderen leben lässt. Es ist ohne diese Tugenden und Vermögen auch kein Staat zu machen und schon gar nicht eine Gesellschaft, die sich wie es das Grundgesetz fordert, der Würde des einzelnen Menschen verpflichtet sieht. Ohne diese Rahmensetzungen, ohne Reflexion, Verhandlungs- und Kompromissbereitschaft, dies ist weniger den Wählern der AfD anzulasten, die es vermutlich nicht oder nicht besser wissen, sondern vor allem den Repräsentanten dieser Bewegung, die es besser wissen oder wissen müssten, lässt sich auch keine demokratische Willensbildung begründen. Demokratie ist nicht der Wille des Volkes, sondern, hier ist an Edmund Burke und Hannah Arendt ebenso zu erinnern wie an die Väter der us-amerikanischen Verfassung (und auch die Väter und Mütter des Grundgesetzes), sie isst vielmehr die Umsetzung eines Volkswillens unter der Herrschaft des Rechts und unter der Achtung von Menschenwürde und Vielfalt, die allen zusteht und von allen einzufordern ist. Wer wie die AfD-Bundestagsabgeordnete Alice Weidel im Mai 2018 Flüchtlinge und andere Migranten lediglich mit den Stichwörtern „Burkas, Kopftuchmädchen und alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse“ [http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/weidel-loest-tumulte-aus-burkas-kopftuchmaedchen-und-sonstige-taugenichtse-15593274.html (26.05.2018)] anspricht, möchte nicht nur andere verletzen und demütigen, sondern zeigt auch, dass er/sie die Verfassungsordnung und den Rahmen ihrer Institutionen nicht ernst nimmt, vielmehr darauf ausgeht, den das Diskurs- und Handlungsfeld einer pluralistischen Demokratie zu zerstören.