Prof. Dr. Wolfgang Kaschuba | Universität Berlin Humboldt
Auf die Frage nach den Feinden der offenen Gesellschaft würden heute vermutlich viele reflexhaft antworten: der IS – als die weltweite Verkörperung von geistiger Unfreiheit und physischem Terror! Nicht wenige aber würden inzwischen wohl auch einen anderen Namen nennen: Donald Trump! Denn die präsidiale Number One der USA entpuppt sich mehr und mehr auch als eine Number One auf der Liste der Demokratiefeinde. Als Gefährder Nr. 1 im Blick auf Lebensweisen und Ideen einer pluralistischen Gesellschaft, wie sie sich in den USA vor allem in den großen Städten entwickelt hat. Insofern muss uns die Tatsache, dass sich viele dieser Städte heute offensiv als „Zufluchtsstädte“ bezeichnen, um sich gemeinsam gegen Trump´sche Rassismen und Erpressungsversuche zur Wehr zu setzen und sich weiterhin als offene Räume auch für Migranten und Flüchtlinge anzubieten, endlich aufschrecken, weil es dabei um mehr geht als um einzelne Städte und um us-amerikanische Not- und Missstände.
Nach der Jahrtausendwende sind unsere Städte noch intensiver zu einem globalen „Raum der Lebensstile“ ausgestaltet geworden. Zu einem sozialen und kulturellen Labor, in dem wir Stadtmenschen nun unsere eigenen politischen, sozialen und kulturellen Experimente unternehmen. Denn Lebensstil meint heute mehr als nur Status, Konsum und Freizeit. Er umfasst vielmehr die rasant wachsenden individuellen Möglichkeiten und Freiheiten der Gestaltung unserer äußeren Erscheinung, unsere inneren Einstellung wie unserer persönlichen Lebensentwürfe. Und er hat damit – zumindest für große gesellschaftliche Gruppen – „identitäre“ Qualität erreicht. Wie ich mich kleide und welche Musik ich höre, was ich esse und wie ich wohne, was ich glaube und was ich „facobooke“: Dies alles macht mich letztlich aus, unterscheidet mich von anderen und ordnet mich wieder anderen zu.
Hier führen uns die städtischen Kulturen anschaulich vor, dass wir keineswegs mehr eine Gesellschaft allein der Einheimischen oder der nationalen Leitkulturen oder der Grundgesetze sind, sondern längst eine „Gesellschaft der Lebensstile“. Und wenn es gut geht, sind in diese vielfältigen Lebensstile feste gemeinsame Werte eingeschrieben: Verantwortung, Respekt, Solidarität, Toleranz. Da verkörpert sich in der städtische Tradition und Gegenwart längst die Erfahrung einer zutiefst pluralistischen Gesellschaft: die Permanenz und Normalität von Einwanderung wie Auswanderung; die Akzeptanz von sozialer Vielfalt und kultureller Vieldeutigkeit; die Respektierung von Dissens und Widerspruch; der freie Zugang zu gesellschaftlichen Räumen und die aktive Teilhabe an sozialen Praxen; kurz: eine in ihrem Kern „empathische“ und „partizipative“ Grundeinstellung gegenüber der gesellschaftlichen Umgebung.
Wenn dieses urbane Experiment hingegen nicht gut ausgeht, dann neigen auch unsere Lebensstile zum Fundamentalistischen. Dann werden Werte und Meinungen, Milieuzugehörigkeiten und Lebensstile zu Glaubensfragen, die nicht mehr verhandelbar sind. Dann gilt: „mein“ Auto, Kind, Trump, Verein, Ernährungskonzept, Glaube – sonst gar nichts! Dann entstehen aus erstarrtem Individualismus, aus der Unfähigkeit sich in Außenwelten einzufügen auch deutliche Anfälligkeiten für isolationistische und sektiererische Gruppenidentitäten. Eine Gruppe im rechten Spektrum nennt sich genau so: „die Identitären“. Und die salafistischen Sekten funktionieren auf der anderen Seite des demokratiefeindlichen Spektrums und auf ihre Art in ganz ähnlicher Weise.
Denn diese mitunter atemberaubende neue Vielfalt und Lebendigkeit der Städte gefällt eben längst nicht allen. Vor allem denjenigen nicht, denen die städtische Gesellschaft insgesamt als Verkörperung des Fremden, des Bösen, des Feindes erscheint. Die also die kulturelle Vielfalt und soziale Vielstimmigkeit einer „offenen“ Gesellschaft ablehnen, weil diese ihren sozialen oder ethnischen, ihren religiösen oder lokalistischen Vorstellungen widerspricht. Die deshalb auch wie Trump die Stadtwelt letztlich als das Epizentrum aller negativen, bedrohlichen, verhängnisvollen Veränderungen in der Gesamtgesellschaft betrachten. Weil dort durch Migration und Flucht „Umvolkung“ stattfinde, weil dort ohne Polizei und Videoüberwachung nur „Anarchie“ herrsche oder weil dort die eigenen (christlichen oder vice versa muslimischen) Glaubensgenossen in den Sog der „Ungläubigen“ gerieten.
Insofern eint die Feindschaft zur offenen urbanen Gesellschaft auch in Deutschland in ganz bezeichnender Weise die radikalen Ränder der Gesellschaft: von der AfD bis hin zu den Islamisten. Und an diesen Rändern beginnen sich gegenwärtig auch neue soziale Lager und politische Fronten zu formieren, die eine Politik der sozialen Spaltung und der kulturellen Abschließung verfolgen. So kommt es inzwischen einerseits zu einer deutlichen Ausweitung und Verdichtung rechter „Subkulturen“. Ein Begriff, der noch vor jenen Jahrzehnten für den linken und avantgardistischen urbanen Underground reserviert war und der nun sogar vom Bundesnachrichtendienst dazu benutzt wird, einen neuen rechten Habitus zu beschreiben. Gemeint ist damit die Schaffung von „neu-rechten“ Räumen und Enklaven – bevorzugt auf dem Lande, der systematische Aufbau von Fake-News- und Info-Netzwerken, die pop-kulturelle Inszenierung durch Musik und Feste, jugendkulturelle Anmutungen in Clips und Symboliken. – Kurz: der Ausbau weltanschaulicher Einbahnstraßen und rechter Lebensstile, die letztendlich in eine fundamentalistische Grundhaltung führen: „Nur so! Nur wir!“
Dahinter stehen angeblich immerhin 12.000 gewaltbereite Rechtsextreme als organisierte Kerne. Aber auch nicht wenige derjenigen, die sich gerne verharmlosend als verunsicherte „Angstbürger“ beschreiben lassen, teilen vielleicht nicht diesen Hardcore-Habitus, gehen jedoch bereitwillig mit über „völkische“ Brücken und Abgründe.
Andererseits arbeiten auch die Islamisten mit ähnlichen subkulturellen Konzepten. Auch sie vergemeinschaften in Sektenformation: durch die Einbindung in enge Gruppen- und Loyalitätsstrukturen, durch scharfe Differenzbilder eines heroischen „Wir“ und eines wertlosen „Die“, durch ästhetisch anspruchsvolle Informations- und Musikvideos, durch die Legitimation von Gewalt und Terror als religiösen Auftrag und soziale Notwehr. –
Entscheidend dabei ist: Wie die Neurechten haben auch die Islamisten ihren speziellen „subkulturellen“ Stil ebenfalls hier, „bei uns“ gelernt und entwickelt. Darauf wies der tunesische Außenminister vor wenigen Tagen hin, als es um die „Rücknahme“ islamistischer Gefährder ging: Diese Menschen seien schließlich erst in Europa zu Dschihadisten geworden seien.
Nun sind wir uns sicherlich alle einig darin, dass diese expliziten Feinde der städtischen und offenen Lebenswelten, von Trumps Alt-Rights in den USA und den Neurechten bei uns bis zu den islamistischen Bewegungen, unbedingt und aktiv zu bekämpfen sind. Und einig sind wir uns wohl auch darüber, dass in den harten Kernen und bei deren hermetischem Denken „aufklärende“ Informationen und Fakten nur wenig mehr ausrichten.
Diese Erkenntnis enthebt uns jedoch nicht die Aufgabe, uns mit den damit sympathisierenden Menschen und Milieus intensiver zu beschäftigen. Und dies bedeutet einerseits, „Integrationspolitik“ in der Tat als eine umfassende Aufgabe zu verstehen, die in den Städten wie gerade auch in den Dörfern nicht nur auf Geflüchtete und Migranten zielt, sondern auf Gesellschaft insgesamt. Andererseits muss jenes Gefühl ernster genommen werden, von den gesellschaftlichen Entwicklungen ausgeschlossen und abgehängt zu sein, wie das häufig heute vor allem in ländlichen Räumen und bei den älteren Generationen geäußert wird.
Denn ihnen erscheint offenbar die große und neue Freiheit der Städte und der jüngeren Generationen als kein Versprechen einer eigenen Zukunft, sondern eher als eine Bedrohung. Weil sie diese Freiheit als zu groß, als zu individualistisch, auch als zu anstrengend empfinden – aus materiellen wie aus mentalitären Gründen. Diese Besorgnisse ziehen sich als kleine Risse durch unsere Gesellschaft und vergrößern sich allmählich zu einem sozialen Spalt.
Ihn nicht endlich ernst zu nehmen, wäre ebenso fatal wie arrogant. Denn es würde den Verdacht eines moralisch überheblichen Kosmopolitismus der Eliten und des Establishments weiter nähren. Also einer Ignoranz von privilegierten „Weltbürgern“ wie uns, die wir all unsere Freiheiten nutzen können, weil uns keine alltäglichen Sorgen um Job und Wohnung, und Miete und Hartz IV plagen.
Gerade die plurale und urbane Gesellschaft muss in ihrem Inneren eben noch mehr als ein sicherer und fairer Raum gestaltet werden, in dem nicht Herkunft oder Einkommen oder Wohnort über die Lebenschancen und Lebensgestaltung des Einzelnen entscheiden, sondern seine Fähigkeit und seine Bereitschaft zur Teilnahme am diesem Prozess „offene Gesellschaft“. – Dann sind auch alle Städte ganz selbstverständlich: „Zufluchtsstädte“.