Prof. Dr. Patrizia Tolle / Daniela Richter | Hochschule Frankfurt
Die Zahl der Pflegeheime ist in den letzten Jahren deutlich angestiegen und insgesamt kann von einem Trend weg von der häuslichen Pflege hin zur stationären Pflege gesprochen werden (Auth 2017, 314).
Gemäß der §§ 114 ff SGB XI wird seit 2011 durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung bzw. den Prüfdienst der privaten Krankenversicherung mindestens einmal im Jahr die Pflegequalität in stationären Pflegeeinrichtungen geprüft. Bei diesen Prüfungen kommt es häufig zu guten bis sehr guten Ergebnissen (Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e.V. 2014). Die vorgegebene Umsetzung der Nationalen Expertenstandards wie beispielsweise „Dekubitusprophylaxe in der Pflege“ oder „Ernährungsmanagement zur Sicherung und Förderung der oralen Ernährung in der Pflege“ (§ 113a SGB XI), scheint eingehalten und damit die aktuell geltenden Maßgaben guter Pflegequalität erfüllt. Dennoch berichtet das Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) (2017, 6) auf der Basis einer repräsentativen Untersuchung für stationäre Einrichtungen in Deutschland, dass knapp die Hälfte der befragten Pflegedienstleitungen bzw. Qualitätsbeauftragten darlegen, dass Konflikte, Aggressionen und Gewalt in der Pflege die Einrichtungen vor ganz besondere Herausforderungen stellen. Gemäß der Befragung ist die verbale Aggressivität die am häufigsten bezeichnete direkte Gewaltform, dieser folgen die Vernachlässigung sowie die körperliche Gewalt (ZQP 2017, 7). Das ZQP (2017, 7) geht davon aus, dass die Häufigkeit von Gewaltanwendungen in der stationären Pflege im Rahmen der vorliegenden Untersuchung eher unterschätzt wird. Wenn über Gewaltanwendung in der Pflege gesprochen wird, geht es neben der direkten körperlichen Gewalt u.a. um das Risiko der Mangelernährung, um freiheitseinschränkende Maßnahmen, um soziale Isolierung und Demütigungsprozesse (Görgen 2015, 12). In einer Pressemitteilung vom 14.06.2017 des ZQP betont Suhr, Gewaltprävention sei eine Grundvoraussetzung guter Pflege, diese werde jedoch weder bei der Bewertung noch bei der Darstellung von Pflegequalität angemessen beachtet (https://www.zqp.de/gewalt-im-pflegeheim-ist-ein-relevantes-problem/, 12.09.2017).
Wie lässt sich das Revidieren von Prüfkriterien der Qualitätssicherung zur Stärkung der Gewaltprävention vor dem Hintergrund der Auswirkungen von Ökonomisierungsprozessen in der Pflege einschätzen?
Für eine Einschätzung müssen, neben der direkten Gewalt, Formen der strukturellen und kulturellen Gewalt in den Blick genommen werden, da diese auch unabhängig von bestimmten Personen existieren (Galtung 1998, 17ff.). In stationären Pflegeeinrichtungen lassen sich verschiedene Typen der Demütigung beobachten (Trescher 2014, 36). Dazu gehört zum Beispiel die Objektivierung, die besagt, dass Menschen in der Regel nach ihren Defiziten kategorisiert und entsprechend der Kategorien bestimmten Versorgungssettings zugeordnet werden, ein Beispiel wäre hier die so genannte „Demenzstation“ (Trescher 2014, 38f.). In der Segregation spiegeln sich unsichtbare Formen der Gewalt. Dies ist gleichermaßen für die Einführung neuer Qualitätsprüfungsrichtlinien anzunehmen, da diese letztlich in der Logik des Bestehenden und selbstverständlich Erscheinenden verfasst werden. Die Rahmenbedingungen von Gewaltanwendungen werden nicht wirklich berührt, um den besonderen Herausforderungen, von denen in der Untersuchung des ZQP (2017, 6) von den Pflegenden selbst im Hinblick auf Gewalt in stationären Einrichtungen gesprochen wird, entgegenzuwirken. Mit der Einführung der Pflegeversicherung hat sich in der Pflege ein stark körper- und tätigkeitsbezogenes Pflegebedürftigkeitskonzept etabliert (Auth 2017, 311). Deutlich wird dies u.a. auch an der Bezeichnung „Ernährungsmanagement“ im Expertenstandard, die nicht unbedingt sofort impliziert, dass es sich um die pflegerische Begleitung und Unterstützung eines Menschen handelt, der Assistenz in welcher Art auch immer bei der Ernährung bzw. beim Essen benötigt.
Zur kulturellen Gewalt gehört, dass es im Alltagsdiskurs selbstverständlich zu sein scheint, dass ein Mensch bei einer fortgeschrittenen Demenz am besten in einer spezialisierten Einrichtung, eben der Demenzstation oder dem Demenzdorf, versorgt sei. Damit ist erklärbar selten, einem pflegebedürftigen Menschen mit Demenz beim Spazierengehen im Stadtteil zu begegnen. Dies sollte jedoch gemäß der UN-BRK auch für Menschen mit Demenz zum alltäglichen Miteinander und Geschehen gehören (Jantzen et al. 2012, 158). Pflegende sind damit in einem vermeintlich spezialisierten und gesellschaftlich legitimierten Raum tätig, der durch einen Mangel an Zeit für die Begleitung einzelner Bewohner und Bewohnerinnen sowie durch isolierende Bedingungen (Jantzen 2007) gekennzeichnet ist. Die gravierende Bedeutung der psychischen Reproduktion von Isolation und fehlendem Dialog auf die Identitätsbildung sind hinreichend beschrieben (z. B. Jantzen 2003, 2007). Der Möglichkeitsraum, in der dialogischen Begegnung Erfahrungen zu sammeln und mit anderen Menschen zu teilen oder an die Verhaltens- und Handlungsweisen der eigenen vergangenen Lebenswelt anzuknüpfen, ist unter Bedingungen der stationären Pflege gegenwärtig beachtlich eng geworden. Der heutige Heimalltag ist insbesondere für Menschen mit Demenz und auch für Pflegende keine geeignete Struktur, um die Lebens- und Pflegesituation von Menschen zu verbessern (Jantzen et al. 2012, 164).
In heutigen stationären Einrichtungen arbeiten Pflegende zu einem hohen Anteil als Teilzeitbeschäftigte und/oder in einem befristeten Arbeitsverhältnis mit einem zu hohen Arbeitspensum (Auth 2017, 336f.). Die Pflege nach Standard, der Bezug auf die körperliche Ebene mit dem damit einhergehenden Risiko, einen pflegebedürftigen Menschen als Ding zu verobjektivieren (Jantzen 2003, 18), dem sich per Tourenplan angenähert werden kann, sind Möglichkeiten, sich mit den vorherrschenden Bedingungen zu arrangieren. Es kann vermutet werden, dass hierdurch die Möglichkeit der Kontrolle einer unzumutbaren Lebens- und Arbeitssituation suggeriert wird, die letztlich die Individualität einer Person unsichtbar werden lässt.
Pflegende bringen genau dies zum Ausdruck, denn ihrer Ansicht nach ist vor allem eine Änderung der Rahmenbedingungen notwendig. Dazu gehört der Einsatz von mehr Pflegepersonal (ZQP 2017, 10). Fortbildungen oder Trainings zum Thema Gewalt oder Deeskalation, die in der Fachliteratur als förderlich für die Gewaltprävention in Pflegeeinrichtungen geschildert werden, stellen Pflegende demgegenüber hier nicht auf Platz 1 der Prioritätenliste (ZQP 2017, 11). Aus dem bisher Dargestellten geht hervor, dass die Einschätzung der befragten Pflegenden das Wesentliche über die Symptomebene hinaus trifft, auf der vermutlich eine Revidierung einer Qualitätsrichtlinie verbleibt: zunächst muss der Möglichkeitsraum wieder geschaffen werden, in dem Pflegearbeit nicht, wie mit Einführung der Pflegeversicherung geschehen, zu einem „Gegenstand der Rationalisierung“ (Auth 2017, 314) wird. Durch die Effizienzorientierung und Privatisierung der Einrichtungen werden diese vordringlich nach der Maxime der Kostensenkung und Gewinnmaximierung gemanagt, dies bedingt, dass es zu Mängeln in der elementaren Versorgung kommt und die psychosoziale Dimension der Pflege an Bedeutung verloren hat (Auth 2017, 338). Dies führt zu unzumutbaren Verhältnissen sowohl für Bewohner und Bewohnerinnen als auch für Pflegende. Neue Perspektiven bieten eine öffentliche Finanzierung einer Pflege, die den Wünschen pflegebedürftiger Menschen entspricht, veränderte ökonomische Vorgaben für stationäre Einrichtungen und ein universeller Zugang zu pflegerischen Versorgungsangeboten, unabhängig vom sozio-ökonomischen Status einer Person (Auth 2017, 454; Klie 2014, 110). Damit kann sich dem Ziel genähert werden, den Ausnahmezustand in Heimen zu überwinden und einem pflegebedürftigen Menschen zu ermöglichen, im gewohnten Sozialraum zu bleiben mit der Chance zur Teilhabe am gesellschaftlich üblichen Leben in der jeweils individuell möglichen Weise.
Literatur
Auth, D. (2017): Pflegearbeit in Zeiten der Ökonomisierung. Wandel von Care-Regimen in Großbritannien, Schweden und Deutschland. Westfälisches Dampfboot
Galtung, J. (1998): Frieden mit friedlichen Mitteln. Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur. Leske und Budrich
Görgen, T. (2015): Wo Gewalt in der Pflege vorkommt. In. Zentrum für Qualität in der Pflege (Hrsg.), Gewaltprävention in der Pflege, 12-15, Berlin. URL: http://www.pflege-gewalt.de/upload/pdfs/B_TR_Gewalt_11web_vf.pdf (06.09.2017)
Jantzen, W.; Meyerholz, M.; Tolle, P. (2012): Demenz: Vielfalt in der Differenz oder Verdammung zur Pseudokollektivität? Behindertenpädagogik, 51, 2, 157-166
Jantzen, W. (2007): Allgemeine Behindertenpädagogik Bd. I und II. Lehmans media
Jantzen, W. (2003): Gewalt ist der verborgene Kern von geistiger Behinderung. vds-Fachverband für Behindertenpädagogik, LV Bremen, Mitteilungen 27, 1, 18-45
Klie, T. (2014): Wen kümmern die Alten? Auf dem Weg in eine sorgende Gesellschaft. Pattloch Verlag.
Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e.V. (MDS) 2014: 4. Pflege-Qualitätsbericht des MDS nach § 114A ABS. 6 SGB XI. Qualität in der ambulanten und stationären Pflege. Köln: asmuth druck + crossmedia gmbh & co. kg
Trescher, H. (2014): Demenz als Hospitalisierungseffekt? Demenz als sonderpädagogische Herausforderung! Behindertenpädagogik, 53, 30-46
Zentrum für Qualität in der Pflege (2017): ZQP‐Befragung „Gewalt in der stationären Langzeitpflege“. Berlin: Zentrum für Qualität in der Pflege. URL: https://www.zqp.de/wp-content/uploads/2017_06_13_AnalyseGewaltStationaerePflege_vf.pdf (20.7.2017)
Zentrum für Qualität in der Pflege (2017): Gewalt im Pflegeheim ist ein relevantes Problem. URL: https://www.zqp.de/gewalt-im-pflegeheim-ist-ein-relevantes-problem/ (12.09.2017)