Prof. Dr. Michael Klundt | Hochschule Magdeburg-Stendal
„Ich liebe die schlecht Gebildeten.“
(Donald Trump, zit. nach: n-tv v. 24.2.2016)
Jemand möchte seine Stadt oder sein Bundesland vor der „Islamisierung des Abendlandes“ schützen, wobei in der betreffenden Stadt und dem Bundesland sich der Anteil von Menschen muslimischen Glaubens auf nicht mal 2 Prozent beläuft. Ein anderer möchte das christliche Abendland dadurch schützen, dass er ein überdimensionales Kreuz in Schwarz-Rot-Gold herumträgt. Beide hassen Ausländer, Muslime und überhaupt das sog. Morgenland. Sie bestehen aber darauf, Weihnachtslieder (für Mitmenschlichkeit) zu singen und den Tag der heiligen drei Könige (aus dem Morgenland!) zur Verbreitung ihres Hasses zu benutzen.
Frage: Kann dem zuerst genannten Individuum durch statistische Kenntnisse von seiner Bildungsferne abgeholfen werden? Bringt es etwas, dem zweiten Individuum durch Hinweis auf die fehlende deutsche Nationalität des Gekreuzigten und den christlichen Weltreligionscharakter von seiner bildungsfernen Blasphemie abzubringen? Beide stehen jedoch dem Philosophen Peter Sloterdijk, der von der „Überrollung“ und „Zerstörung“ Deutschlands durch Flüchtlinge spricht (siehe Cicero 2/2016), in punkto Panikmache kaum nach. Gemeinsam ist ihnen der Untergangs-Wahn, von dem sie sich nicht abbringen lassen wollen, schon gar nicht durch Empirie und Fakten. Das galt schon bei Sloterdijks Beschreibung des progressiven Steuersystems Deutschlands als einem „Semi-Sozialismus“, welcher den Reichen einen veritablen „Bürgerkrieg“ aufdränge (siehe Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 13.6.2009).
Es scheint, die Abendland-Apokalyptiker können nur Untergänge sehen, weil sie sie sehen wollen, weil sie sie brauchen. Sie wollen nicht dabei gestört werden; schon gar nicht durch Argumente oder Statistiken. Letztere stören sie in ihrem Irrationalismus. Vernunft wird zur Bedrohung der Identität des (Welt-)Untergangs-Propheten. Das Horror-Szenario vermittelt Sicherheit in der Welt-Orientierung. Dazu passen auch die täglich tausendfach erfundenen „Nachrichten“ und über asoziale Netzwerke verbreiteten Gerüchte über angebliche Supermarkt-Diebstähle durch Flüchtlinge in Halberstadt, Leipzig, Neu-Isenburg usw. Ihre Widerlegungen führten jedoch regelmäßig nicht zur Eindämmung der verbreiteten Hetz-Berichte, sondern gleichsam zu ihrer Potenzierung, da die rassistisch Orientierten unterstellten, die „Lügenpresse“, Polizei, Justiz, Bürgermeister usw. würden die Delikte nur absichtlich vertuschen.
So, wie also der Philosoph Sloterdijk sich seinen „Bürgerkrieg“ und seine „Zerstörung“ Deutschlands durch Flüchtlinge im Elfenbeinturm herbeiphantasiert, so brauchen auch die geistig etwas dünner gestrickten Pegidisten auf der Straße ihr Feindbild. Wie David Bebnowski schreibt, greift dabei die „Anziehungskraft eines klassenlosen und nationalistischen ‚Wir gegen Die‘“. Auf diese Weise werden real existierende gesellschaftliche Spaltungsprozesse regressiv wahrgenommen, interpretiert und beantwortet. „In einem Kapitalismus, in dem sich eine Mehrheit von sozialem Absturz bedroht fühlt, neigt auch in der Mitte ein wachsendes Milieu dazu, seine erlebte Erniedrigung in Hass gegen andere zu kanalisieren“ (siehe Neues Deutschland v. 21.3.2016), was der Rechtsextremismusforscher Wilhelm Heitmeyer mit der Kategorie „rohe Bürgerlichkeit“ zu fassen sucht (siehe Frankfurter Rundschau v. 28.10.2016).
Dass aber die sozial Benachteiligten in der Regel auch in den Bereichen Bildung und Gesundheit behindert werden, ist für die Bildungssoziologie kein großes Wunder. Was machen wir jedoch, wenn die PEGIDA-Ableger von Kathrin Oertel, „Direkte Demokratie für Europa“ (DDfE), Europa-Karten vorstellen, bei denen Deutschland ohne Schleswig-Holstein sowie ohne alle Ost- und Nordseeinseln vorkommt, während Europa auf alle Inseln im Atlantik, auf Sardinien, Sizilien, die Balearen, Albanien, Montenegro, Mazedonien und Griechenland verzichten muss? Liechtenstein gehört hier zu Österreich, der Kosovo zu Serbien und Malta, Island sowie Zypern existieren auf der DDfE-Europakarte gar nicht (vgl. Süddeutsche Zeitung v. 11.2.2015).
Was wissen wir über Bildungsferne, wenn der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer nicht weiß, dass die Donau von Ingolstadt nach Deggendorf fließt und nicht umgekehrt, wie er meint, obwohl er aus Ingolstadt kommt? Was, wenn der Golfverband Mecklenburg-Vorpommern auf seiner Internetseite die Insel Hiddensee im Meer versenkt oder, wenn der Fernsehsender CNN in einem Beitrag Hongkong neben Porto Alegre in Brasilien verortet? (vgl. ebd.)
Dass Britney Spears Japan in Afrika vermutet, dass die US-Sängerin Kellie Pickler glaubt, Europa sei nur ein Land, dass die US-Sängerin Christina Aguilera fragt, „wo die nächsten Cannes-Festspiele“ stattfinden oder die US-Sängerin Taylor Momsen ihrem schottischen Publikum von Glasgow zuruft, es sei „das beste Englands“, ist nicht gerade ein Ausweis besonderer Qualität des US-Bildungssystems. Allerdings, wenn uns jemand über die genaue Verortung der 50 US-Bundesstaaten befragen würde, könnte es schon sein, dass der eine oder die andere ins Schwanken gerät. Wenn aber der US-Präsidentschaftskandidat Obama 2008 meinte, es gäbe 58 US-Staaten, wenn der Kronprinz von Norwegen angibt, Norwegen und Portugal lägen beide an den warmen Stränden des Mittelmeeres, wenn George W. Bush Afrika für ein einziges Land hält, Nicolas Sarkozy im Elsass behauptet, er befinde sich in Deutschland und die US-Politikerin Sarah Palin Afghanistan als „Nachbarland“ der USA bezeichnet und fordert, „an der Seite unserer nordkoreanischen Verbündeten stehen“ zu müssen (siehe ebd.), dann sollte man sich ernsthaft Sorgen machen.
Etwas nicht zu wissen, ist ja eigentlich nicht schlimm; nicht dazulernen zu wollen, ist das eigentliche Problem.
Gesellschaftlich notwendige Formen der Bildungsferne und Sozialschwäche?
Bildungsferne, fehlende Bildung, Halb- oder Un-Bildung sind also relative Begriffe für einen bestimmten Sachverhalt, der kritisch unter die Lupe genommen werden sollte. Entscheidend ist dabei aber immer auch die Perspektive und der Standort des jeweiligen Sprechers und seiner Beurteilung. So spricht der Wiener Philosoph Konrad Liessmann mit Blick auf die vorwiegend europäischen Bildungs- und Hochschulsysteme von verbreiteter organisierter „Unbildung“. Dabei werde kaum Wissen, kaum Haltung, kaum Kultur, kaum Glück vermittelt bzw. angeeignet, während dafür aber vielmehr Abrichtung, Anpassung und Konsumismus auf dem (inoffiziellen) Lehr-/Lernplan stünden. „Was heute unter dem Titel Bildung firmiert, was von Bildungsjournalisten propagiert, was von Bildungsexperten verkündet, was von Bildungsforschern behauptet, was von Bildungspolitikern durchgesetzt, was an Schulen und Universitäten beworben wird, ist deren Gegenteil und Karikatur, eine Phrase, eine Schimäre, eine einzige riesige Sprechblase, ein Gespenst, das nicht um Mitternacht, sondern zur besten Unterrichtszeit sein Unwesen treibt: Geisterstunde!“ (Liessmann 2014, S. 10) Liessmann widmet seine Aufmerksamkeit dieser „Praxis der Unbildung, ihren Erscheinungsformen und Tendenzen, ihrer Ideologie und Verblendung, ihren Wortführern und Propagandisten, ihren Exzessen und Absurditäten“ (siehe ebd., S. 10f.). Bereits in seiner ein paar Jahre früher erschienen Schrift über die „Theorie der Unbildung. Irrtümer der Wissensgesellschaft“ (2008) charakterisierte Liessmann die selbst ernannten Bildungs-Ergüsse als Ausdrucksformen von Unbildung. „Gemessen an dem, was Bildung – wie fragwürdig auch immer – einmal intendierte, erweisen sich die Konfigurationen des Wissens heute – von den PISA-Tests bis zur Europäischen Studienarchitektur, von den Sensationen der naturwissenschaftlichen Forschung bis zu den Moden der Kulturwissenschaften, vom surfenden Wissensarbeiter bis zum jettenden Wissensmanager – als Erscheinungsformen der Unbildung.“ (Liessmann 2008, S. 8f.)
Für den Frankfurter Soziologen Theodor W. Adorno sprach dagegen schon 1959 einiges für eine „Bildungskrise“, die sich im Werdegang der Bildung zu „sozialisierter Halbbildung“ als „Allgegenwart des entfremdeten Geistes“ ausdrückte (Adorno 1984, S. 168). Für ihn stand aus soziologischer Perspektive fest, dass der Anspruch und das Ziel humanistischer Bildung für Menschen, die durch Arbeitswelt, Kulturindustrie und Warengesellschaft der dafür notwendigen Voraussetzungen wie z.B. Muße entbehrten, nur zur „Halbbildung“ herabsinken könne. „Im Klima der Halbbildung überdauern die warenhaft verdinglichten Sachgehalte von Bildung auf Kosten ihres Wahrheitsgehalts und ihrer lebendigen Beziehung zu lebendigen Subjekten.“ (Adorno 1984, S. 176) Segmentierter, unzusammenhängender und häppchenweiser, verdinglichter Bildungskonsum unterstütze auch weniger das Verstehen von Welt, sondern behindere dies geradezu und neige deshalb gleichsam zum Aberglauben. Für Adorno ist das „Halbverstandene und Halberfahrene (…) nicht die Vorstufe der Bildung, sondern ihr Todfeind“ (siehe ebd., S. 184). Aufgrund dieser Verdinglichung des Bewusstseins sei „Halbbildung gereizt und böse; das allseitige Bescheidwissen immer zugleich auch ein Besser-Wissen-Wollen“ (siehe ebd., S. 188), das bis zum Ressentiment führe – nicht jedoch zu wirklicher Bildung.
Insofern ließe sich die Frage stellen, inwiefern bereits die gesellschaftliche Ordnung und das Bildungssystem aus strukturellen Gründen reale Bildungsprozesse behindern und einen buchstäblichen Irrationalismus befördern (können). Notwendig ist somit nicht nur der Übergang von der Stigmatisierung zur Strukturanalyse, sondern auch die Erklärung der Stigmatisierungs-Ideologien aus der Strukturanalyse heraus. Das heißt, aus der Analyse und Kritik „sozial schwacher“ und „bildungsferner“ polit-ökonomischer Gesellschaftsstrukturen und den von ihnen hervorgebrachten Eliten heraus lässt sich vieles besser verstehen und erklären.
Bildung, Lernen und Wissenschaft sollen beitragen zur Befreiung der Individuen; darunter lässt sich auch die Befreiung von bisherigen Irrtümern und Täuschungen verstehen. Somit wären Bildung, Lernen und Wissenschaft auch fortwährend buchstäbliche Arbeit an der Ent-Täuschung – und damit nicht immer angenehm, ja geradezu: ent-täuschend (dass etwa die Sonne gar nicht auf und unter geht, sondern die Erde sich unterschiedlich zur Sonne dreht, kann eine große Ent-Täuschung sein – beispielsweise für Romantiker).