Alison Smale
The New York Times
Seit jener Nacht in September 2015 in der Kanzlerin Angela Merkel angeblich die schon offenen Grenzen von Deutschland weiter geöffnet hat gibt es eine starke Debatte darum, ob Berlin sich in ‘’splendid isolation’’ befindet, oder nicht. Zumindest am Anfang dieser Entwicklung, später Flüchtlingskrise genannt, ist es vor allem in dieser vermeintlichen deutschen Isolation um die Länder Ost- und Mitteleuropas gegangen, wo so gut wie niemand bereit war (oder ist) die nationale Souveränität zugunsten einer europäischen Verschmelzung aufzugeben. So kurz nachdem eben diese Länder Deutschland in der Euro- und Griechenlandkrisen unterstützt hatten, fiel es manchen hierzulande schwer, sich an diesen Widerstand seitens Mitteleuropa zu gewöhnen.
Die Flüchtlingskrise hat Deutschland tatsächlich isoliert insofern, dass auch Länder wie Dänemark, Schweden und Österreich sich auch allmählich abgeschottet haben und immer weniger bereit waren, sich an die ‘’Willkommenskultur’’ festzubinden. Deutschland aber auch: seit Herbst 2015 sind hier eine Reihe Massnahmen beschlossen worden, die den Flüchtlings- und Migrantenstrom eindämmen sollten.
Erfolg dieser Massnahmen hin oder her, die Flüchtlingskrise hat das zivile und politische Bewusstsein 2016 so geprägt, dass zum ersten Mal in der Geschichte des wiedervereinten Deutschlands eine rechtsradikale Partei, die Alternative für Deutschland, in mehrere Landtage einzog und es als sicher galt, sie würde auch den Sprung in den Bundestag schaffen, womöglich mit doppelstelliger Prozentzahl.
Es gehört aber AUCH zu den Entwicklungen des Jahres 2016 dass das ganze nach 1945 unter amerikanischer Führung gebaute internationale System zwei gravierende Schocks erlebt hat: zuerst das ‘’Brexit’’ Referendum und die Entscheidung der Briten, die Europäische Union zu verlassen, und danach die Wahl der Amerikaner selber, Donald Trump als Präsident ins Amt zu heben.
Seitdem scheinen manche Europäer, den Wert der Zusammenarbeit und überhaupt die Definierung gemeinsamer Werte als etwas Kostbares zu schätzen. In Österreich und dann in den Niederlanden haben die Wähler das auch beim Urnengang zum Ausdruck gebracht. In Deutschland ist die AfD zerstritten und weniger beliebt als vorher. Die letzten Umfragen geben ihr sogar Werte um die 8 Prozent.
Ob diese politische Wetterlage bleibt ist noch ungewiss. Die Kontakte zur Trump Administration entwickeln sich, aber langsam und manchmal schwierig. Am 31. März hat Aussenminister Sigmar Gabriel, vorher für die Wirtschaft zuständig, eine Entscheidung der Amerikaner scharf kritisiert, wobei nach ihm Washington die eigene Stahlindustrie gegen Salzgitter AG, Dillinger Hütte und Firmen aus Frankreich, Italien, Österreich und Belgien mit Berechnungsmethoden zu schützen versucht, die gegen das World Trade Organization stossen.
‘’Die Entscheidung ist deshalb so bedeutsam, weil es sich um das erste Anti-Dumping Verfahren im Stahlbereich unter der neuen Administration handelt,’’ sagte Gabriel in einer Presseerklärung. ‘’Die WTO-Regel sind das Rückgrat der Internationalen Handelsordnung. Sie bewusst zu verletzen, ist ein gefährlicher Schritt. Es ist das erste Mal, dass die USA in einem solchen Verfahren auf wettbewerbszerrende Methoden, die nicht den WTO-Regeln entsprechen, zurückgreifen.’’
In dieser Erklärung sieht man leicht, wo die großen Sorgen der Deutschen jetzt liegen: ohne zu erwähnen, dass dieses Verfahren noch in der Amtszeit von Präsidenten Obama begann, wird vor den möglich weitreichenden Folgen gesprochen, die natürlich für das Exportland Deutschland am gravierendsten in Europa sein könnten. Ausser der rein wirtschaftlichen Gefahren, die hier nur angedeutet werden (auch deswegen, weil für die EU Rechtswege in dieser Stahlsache noch offen sind), gibt es insbesondere für Deutschland, das nach 1945 eine vor allem von den Amerikanern geförderte, aufgebaute und gesicherte Demokratie, die bisher unvorstellbare Möglichkeit, dass die USA eine Politik verfolgen, die sich explizit gegen die Interessen der Deutschen wenden könnte.
In der Gestaltung der europäischen Politik und der transatlantischen Beziehungen ist es eventuell dann doppelt schade, dass die Briten in der EU nicht mehr dabei sind. Es gibt ab jetzt in der Europa der 27 kein explizit ängelsächsicher Blickpunkt mehr. Statt dessen versucht Premierministerin Theresa May die besonderen Eigenbeziehungen zu Washington aufzubauen. Herrn Trump scheint dabei zumindest die Aussicht einer Einladung der Queen zu gefallen (ob die Mehrheit der Briten damit einverstanden sind, scheint fraglicher zu sein).
Deutschland, als mächstigstes Land in Europa, wird aktiver werden müssen, wenn es bei seinem jetzigen Ziel bleibt, Europa zu retten und zu stärken. Ob das in einem Wahljahr gelingt, könnte schwierig sein. Die Erhöhung der Verteidigungsausgaben zum Beispiel ist kontrovers, selbst wenn viele Spezialisten der Meinung sind, einen solchen Schritt liege auch in Deutschlands Interessen und bei weitem nicht nur, weil die Trump Administration darauf pocht.
Die Gefahr einer Isolation bzw. einer Isolierung Deutschlands in Europa ist also nicht gebannt, auch wenn die neuesten Entwicklungen sowie wochenendlichen Demonstrationen von hunderttausenden Menschen einen neuen ‘’Puls für Europa’’ attestieren.
Um so dringlicher ist es daher, auch Richtung Osten zu blicken, nach Russland und in die Türkei. Wenn Deutschland mit diesen wichtigen Nachbarn in Zerwürfnis ist, dann riskiert es noch eine Portion mangelnder Solidarität zu erleben. Isoliert ist Berlin keineswegs z.B. in der Verurteilung der Versuche von Präsidenten Recep Tayyip Erdogan auch in Westeuropa Wahlkampf zu führen. Zwei Aspekte der deutschen Politik illustrieren aber, dass es Sonderheiten in der Verhältnis zwischen Ankara und Berlin gibt.
Erstens sind die bedeutsamen Verbündete in einer wichtigen militärischen Bündnis, der NATO. Man kann aber nicht einfach Truppen in Incirlik stationieren, und sich nicht um andere Aspekte der Verbindung mit der Türkei z.B. die Pressefreiheit äussern. Wenn aber, wie Kanzlerin Merkel in der ersten Dekade ihrer Amtszeit, man sich nicht sonderlich für die Türkei interessiert, riskieren deutsche Sorgen urplötzlich und gar etwas heuchlerisch zu klingen.
Zweitens beherbergt Deutschland eine grosse türkische Community, die zum grössten Teil so oder so integriert ist. Allein die Zahl der türkischstammenden Bevölkerung – etwa 3 Millionen Menschen – bedeutet, dass man eine bewusste Politik entwickeln sollte, die den besonderen Sorgen dieser Community in Betracht zieht. Zum Beispiel der komplizierte Umgang mit Islam, und welche Stelle diese Religion in Deutschland einnimmt.
Wenn man weiter nördlich in Richtung Osten blickt, stosst man natürlich auf Russland. Ähnlich wie mit den Türken hat man mit den Russen klare Interessen zu verfolgen. Erstens gibt es die Sicherheitsfragen. Was für ein Nachbar ist das heutige Russland? In dem man deutsche Truppen in die baltischen Staaten, bis vor kurzem Teil der Sowjetunion, hineinschickt, sieht man Russland mehr als Bedrohung und nicht als wichtiger Handelspartner? Ist Deutschland das einzige Land, welches immer mit Russland zwiedeutige oder gar widersprüchliche Interessen verfolgte? Sind diese Widersprüche ähnlicher Natur als die Interessen der USA gegenüber Russland?
Zweitens gibt es – ähnlich wie bei den Türken – eine grosse russischsprechende Community in Deutschland. Die meisten Kenner schätzen, dass diese Gemeinschaft etwa 3 Millionen Menschen umfasst. Sie sind wohl unterschiedlicher Abstammung – die allermeisten Russlanddeutsche hatten deutsche Vorfahren, die überwiegend im 18. Jahhundert ausgewandert sind, um in Russland ihr Glück zu versuchen und nach dem Kollaps der Sowjetunion ‚’in die Heimat’’ zurückkehrten. Es gibt aber auch viele russischsprechende Juden, die entweder vor Jahrzehnten bzw. in letzter Zeit, ausgewandert sind, und zusammen mit russischsprechenden Leuten die aus Zentralasien oder Kaukasus hier gelandet sind. Die deutschen Behörden waren längst überzeugt, dass alle sich zur Demokratie bekennen, und wurden rüde überrascht, als sie im berühmten ‘’Fall Liza’’ feststellen mußten, dass manche Russen viel eher an die Version des Kremls glaubten, auch wenn diese sich als Lüge entpuppte (ein deutschrussisches Mädchen wurde eben NICHT, wie von russisichen Medien berichtet, von Flüchtlingen gekidnappt und vergewaltigt). Wie loyal, tauchte die Frage auf, sind diese ehemaligen russischen Bürger?
Gerade auch an Hand Russland kann man einen kuriosen Aspekt der Debatte über die vermeintliche Isolierung Deutschlands beobachten. Und zwar sind es die vielen Beobachter, die angeblich mit Sorge nach Deutschland blicken, aber doch kein wirkliches Interesse an die eigentlichen Ereignisse haben, sondern eher ihre ‘’Sorge’’ als Grund dafür nehmen, den neuen Hang zum Populismus oder dem Nationalistischen als reale Gefahr einzustufen. Dieser etwas komplizierte Argument lautet in etwa: Deutschland geht seinen Weg, der nicht nur in die Isolierung sondern auch in Gefahr für Nichtdeutsche führt, auch wenn die Deutschen gerade über Jahrzehnte durch ihre Politik bewiesen haben, dass sie grosse Europaanhänger sind, und viel für das Kontinent und die Welt getan haben.
Diese Leute sehen gerade in diesen turbulenten Zeiten noch einen Beweis dafür, dass Deutschland nie ganz als wohlwollender Akteur betrachtet wird. Um die Welt zu überzeugen, also, muss Deutschland doppelt soviel Beweise liefern, dass es voll guter Absichten ist, als irgend ein anderes Land.
Dabei hilft am besten die grösstmögliche Erfüllung der Versprechen, die Deutschland abgibt. Und eine Vielfalt an strittiger aber glaubwürdiger Stimmen in jeder wichtigen Debatte. Der Historiker Heinrich August Winkler, zum Beispiel, der 2015 und 2016 die Kanzlerin für ihre Flüchtlingspolitik scheltete. Nicht eigentlich, weil sie die Flüchtlinge ins Land gelassen hatte. Doch aber ob Deutschland seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzte. ‘’Eine humanitäre Asylpolitik, die nachhaltig sein will,’’ sagte Winkler bei einer Preisverleihung auf der Leipziger Buchmesse vor einem Jahr, ‘’muss darauf achten, dass die Bedingungen ihrer Möglichkeit auch morgen und übermorgen gesichert sind. Zu diesen Bedingungen gehört nicht nur die Beachtung der Grenzen der Aufnahme- und Integrationsfähigkeit, sondern auch der politische Rückhalt in der Bevölkerung.’’