Prof. Dr. Alexandre Magno Tavares da Silva
Bundesuniversität von Paraíba/Brasilien
Der Beitrag Paulo Freire[1] für unsere Artikel gründet vor allem in der Tatsache, dass sein Denken einer der hauptsächlichen Bezugspunkte für die Arbeit in den Bildungsprojekten mit Straßenkinder war und ist, bei der Entwicklung und Suche nach einem sozialerzieherischen Konzept, das die Kinder und Jugendlichen als Subjekte der Geschichte begreift (ein Konzept für eine Bildung mit ihnen und nicht nur für sie).
Es soll eine Kritischer Pädagogik sein, die die Lebensbedingungen der Kinder und Jugendlichen für sie selbst zum Gegenstand der Reflexion maacht (innerhalb der Tätigkeiten im Bildungsprojekt – vor allem in den Projektwerkstätten), damit sich daraus ihr notwendiges Engagement für den Kampf um ihre Befreiung entwickeln kann (FREIRE, Paulo. 1981-35).
Wir haben uns die Sicht Paulo Freires zu eigen gemacht, Erziehung und Bildung als einen Humanisierungsfaktor im Leben der menschlichen Person aufzufassen und die Bildung durch Lebenserfahrung als eine Praxis des Dialogs zu gestalten, die bei ihm, nach Gadotti, „von Liebe, Demut, Hoffnung, Glauben und Vertrauen getragen wird“ (GADOTTI; Moacir. 1988-26) und so den jungen Menschen zu einer Begegnung mit sich selbst führt, bei der er sein Wissen und seine Erfahrung reflektiert, um auf dieser Grundlage ein neues Wissen und eine Kultur zu entwickeln, die mit seinen Interessen verbunden ist.
Das Wichtige bei dem erzieherischen Geschehen ist, in dem Kind und dem Jugendlichen das Bewusstsein zu bilden, dass der Vorgang des Erlernens, wie man einen Besen herstellt in dem Moment politisch wird, in dem sie den Herstellungsprozess (und den Ort, der ihnen bei diesem Prozess zugewiesen ist) mit dem Subjekt in Verbindung bringt, das den Besen benutzen wird.
Sowohl der Jugendliche, der den Besen herstellt, wie auch die Straßenkehrerin, die das Produkt seiner Arbeit benutzt, sind in ein und dieselbe soziale Problematik verwickelt, oft sogar als Mütter und Kinder. Und beide werden den Weg ihrer Befreiung von dem Moment an beschreiten, wo sie sich als kollektive Subjekte in diesem Prozess erkennen, denn für Freire befreit kein Mensch einen anderen, noch befreit sich jemand selbst: Die Menschen befreien sich in Gemeinschaft (FREIRE, Paulo. 1981).
Die Demontage des Lernens durch Arbeit
Die Entwicklung von Praktiken der Bildungsarbeit mit marginalisierten Kindern und Jugendlichen, bei denen Arbeit als erzieherisches Mittel eingesetzt wird, ist bis heute (leider) von einem Bildungskonzept geprägt, bei dem die Kinder und Jugendlichen lernen sollen, um arbeiten zu können, damit sie diesen oder jenen Gegenstand herstellen können. Es wird in diesem Rahmen aber nicht als notwendig erachtet wird, dass der Schüler ein bewusstes Verständnis seiner Lebenswelt als Arbeiter (seiner Wünsche, seiner Erlebnisse etc.) entwickelt.
Diese Konzeption kommt einer „ökonomistischen Praxis von Bildung durch Arbeit“ in dem Maße gleich, wie sich die Rolle der Kinder und Jugendlichen auf ein Lernen nach vorbestimmten Modellen beschränkt, durch die nur die Bedürfnisse des Marktes bedient werden. Dabei wird kein „Wissen“ präsent, denn nach Freire „existiert Wissen nur im kreativen Schaffen und Neuschaffen, in dem ruhelosen, ungeduldigen und ununterbrochenen Suchen, das die Menschen in der Welt, mit der Welt und mit den anderen entfalten.“ (FREIRE, 1981:66).
Die Rolle der pädagogischen Betreuerinnen und Betreuer bei der Bildung durch Arbeit
Ausgehend von den Aspekten, die wir angeführt haben, sind wir der Ansicht, dass die Einsicht der pädagogischen Betreuer (in den Projektwerkstätten) in die Notwendigkeit des politischen Charakters der sozialerzieherischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in Armutsverhältnissen ihnen (den Betreuern) helfen kann, zu erkennen, dass die Problematik der marginalisierten Kinder und Jugendlichen nicht durch eine Beschäftigung mit produktiver Arbeit, mit berufsbildenden Tätigkeiten gelöst werden kann ohne eine gleichzeitige Reflexion über den alltäglichen Lebensalltag.
Im Hintergrund des Lebens in Leid und Elend, das die marginalisierten Kinder und Jugendlichen führen, existiert eine Welt, die gewisse Werte, gewisse Ansichten und gewisse Kompetenzen in sich einschließt.
Da sich das Leben der Kinder und Jugendlichen in Armutsverhältnissen in den Straßen, Gassen und auf den Plätzen abspielt, wo sie sich mit den verschiedensten „Gaunereien“ durchschlagen, bewegen sie sich in einer Welt, die nicht die Welt des Betreuers ist, und es kommt zu einem unvermeidbaren Schock, der den Betreuer zu einer Haltung verleitet, bei der er die Welt der Kinder und Jugendlichen verändern will, aber nicht seine eigene.
Für Freire müssen die Kinder und Jugendlichen, die in den Programmen von Bildung durch Lebenserfahrung der Bildungsprojekte mitarbeiten und gleichzeitig in der Wirklichkeit des Lebens auf der Straße stehen, „kritisch verstehen lernen, was der Grund für ihren Kampf ist, sie müssen verstehen, warum sie in den Straßen umherlaufen, (…) sie verändern sich nur, wenn sie in dem Leben, das sie führen, eine bewusste Rolle annehmen. Das heißt, sie verändern sich nicht definitiv, aber sie machen sich bereit für Veränderungen“ (FREIRE, 1985-13).
Dies ist keine leichte Aufgabe für den pädagogischen Betreuer, denn sie erfordert neben dem streng wissenschaftlichen Begreifen der Realität soziale und historische Sensibilität, die den Betreuer lehrt, gewisse Formen purer Auflehnung oder anderer fatalistischer Haltungen bei den Kindern und Jugendlichen zu verstehen, um mit ihnen zu versuchen, diese Haltungen zu überwinden, denn unsere Zuneigung diesen Kindern gegenüber, denen ein Daseinsrecht verweigert wird, gelangt nur dann authentisch zum Ausdruck, wenn wir uns von dem Traum leiten lassen, eine besser Welt zu erschaffen (FREIRE, Paulo. 1985-13).
Den Lebens- und Arbeitsalltag in einer Projektwerkstatt zu verstehen bedeutet nicht einfach, sich mit den Kindern und Jugendlichen über die entwickelten Tätigkeiten zu unterhalten, darüber, was hergestellt wird, wie und wann es hergestellt wird etc., sondern es bedeutet vor allem die Kinder und Jugendlichen in ihrer Lebenswelt zu begreifen, ihre Wirklichkeit und ihre Möglichkeiten zu erkennen sich zu fragen, wer dieses Kind ist und was es für mich (Betreuer/in) bedeutet.
Wie Paulo Freire wissen wir jedoch, dass die praktische Arbeit der Befreiung Beschränkungen unterliegt, und es ist die Erfahrung selbst, die uns das lehrt, denn „oft tut man, was man kann und nicht, was man gerne tun würde. Es gibt ökonomische Beschränkungen, soziale und ideologische Beschränkungen, historische Beschränkungen und Beschränkungen des Wissen und der Erkenntnis“. (FREIRE, Paulo: 1985-22).
Literatur
FREIRE, Paulo. Pädagogik der Unterdruckten – Bildungs als Praxis der Freiheit. Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1998
FREIRE, Paulo. Paulo Freire e Educadores de Rua – uma abordagem crítica. Projeto Alternativa de atendimento a meninos de rua. UNICEF/SAS/FUNABEM.
FREIRE, Paulo. Educação e Mudança, 10a. Edicao. Sao Paulo. Pay e Terra, 1985.
FREIRE, Paulo. Pedagogia do Oprimido. 10a. Edicao. Sao Paulo. Paz e Terra, 1981.
FREIRE, Paulo; BETTO, Frei. Esta escola chamada Vida. Editora Atica, 4a. Edicao. Sao Paulo. 1986.
GADOTTI, Moacir. Historia das Ideias Pedagógicas. 8a. ed. Sao Paulo: Zahar, 1988
[1] Freire war selbst die Opfer. 1921 ist er in Recife, Brasilien geboren. Die Familie, die dem Burgertum angehörte, geriet in den Strudel der Weltwirtschaftskrise nach 1929. Er erfuhrt, was Hunger ist und was der Hunger der Entwicklungs- und Lernfähigkeit eines Kindes antut. Mit e elf Jahren legte er ein Gelubde ab: er wollte sein Leben dem Kampf gegen den Hunger wirdmen, dem Kampf fur die Hungernden. Er wurde zunächst Rechtsanwalt. Als er entdeckte, dass Recht, das er studiert hatte, das Recht der Eigentümer gegen die Habenichtse war, gab er den Beruf auf. Er wurde Lehrer, Professor fur Geschichte und Philosophie der Pädagogik. (FREIRE, 1998)