Prof. Dr. Michael Klundt
Hochschule Magdeburg-Stendal
Von Nationalisten und Rassisten sollte man sich nicht die „deutsche Kultur“ vorschreiben und schon gar nicht wegnehmen lassen.
Ein paar Monate vor seinem Tod schrieb Goethe einen Brief an Wilhelm von Humboldt (17. März 1832). Darin stellte er fest: „Verwirrende Lehre zu verwirrtem Handel waltet über die Welt (…)“. Wie wahr, könnte man dazu heute ausrufen. Denn „was ihr den Geist der Zeiten heißt, Das ist im Grund der Herren eigner Geist, In dem die Zeiten sich bespiegeln.“ (Faust)
In Zeiten wie diesen wünscht man sich nicht Unendlichkeit, sondern Aufklärung, politische Kultur. Kultur? Deutsche Kultur? Nun ja. Was ist das denn? Sollen das die Zuwanderer und Unterprivilegierten nicht erstmal lernen? Oder muss das – die deutsche Kultur – nicht sogar vor ihnen, vor allem den Moslems geschützt werden? Weil die „Islamisierung“ droht? Unser Goethe! Unser Beethoven! Unser Brecht! Ja, was sagt er denn über Bildung und Lernen, der gute Brecht? Er fordert die Unterprivilegierten auf, sich durch Bildung darauf vorzubereiten, das Steuer der Gesellschaft zu übernehmen. Ganz schön revolutionär.
Lob des Lernens
Lerne das Einfachste! Für die,
Deren Zeit gekommen ist,
Ist es nie zu spät!
Lerne das ABC, es genügt nicht, aber
Lerne es! Lass es dich nicht verdrießen!
Fang an! Du musst alles wissen!
Du musst die Führung übernehmen.
Lerne Mann im Asyl!
Lerne, Mann im Gefängnis!
Lerne, Frau in der Küche!
Lerne, Sechzigjährige!
Du musst die Führung übernehmen.
Suche die Schule auf, Obdachloser!
Verschaffe dir Wissen, Frierender!
Hungriger, greif nach dem Buch:
es ist eine Waffe.
Du musst die Führung übernehmen.
Scheue dich nicht, zu fragen, Genosse!
Lass dir nichts einreden,
Sieh selber nach!
Was du nicht selber weißt,
Weißt du nicht.
Prüfe die Rechnung,
Du musst sie bezahlen.
Lege den Finger auf jeden Posten,
Frage: wie kommt er hierher?
Du musst die Führung übernehmen.
Was bedeutet „deutsche Kultur”? Lässt sich die Behauptung, dass die “deutsche Kultur” Armen und Migranten nicht beigebracht wird, überhaupt nachweisen, geschweige denn erklären? Welche Migranten und welche Armen sind gemeint? Zu den Begriffen „Bildung und Kultur“ hat der leider allzu früh verstorbene Literaturwissenschaftler Georg Bollenbeck herausgefunden, dass sie auch als Kampfbegriffe des deutschen Nationalismus seit Beginn des 19. Jahrhunderts gegen die westliche Aufklärung und Bildung fungierten.
Dieser Text möchte zeigen, dass auch klassische große deutsche Kunst und Kultur viel weltoffener, vielfältiger und heterogener war, als die Nationalisten und Kreuzzügler es gerne hätten. Die sagen bei „deutscher Kultur“ immer gleich: „Goethe“. Also bleiben wir doch ruhig bei Goethe, seinem „Westöstlichen Divan“, seinen Gedichten über Orient und Okzident, seiner Hochachtung für die islamische Kultur und seiner großen Verehrung für orientalische Literatur und chinesische Dichtung: Doch, lassen wir ihn selbst sprechen:
„Wer sich selbst und andre kennt,
Wird auch hier erkennen:
Orient und Okzident
Sind nicht mehr zu trennen.
Sinnig zwischen beiden Welten
Sich zu wiegen, lass’ ich gelten;
Also zwischen Ost und Westen
Sich bewegen, sei’s zum Besten!“
Die selbst ernannten „Abendland-Verteidiger“ haben keine Ahnung von Goethes Begriff der „Weltliteratur“, welcher auch deutlich machte, dass jegliche große Kultur zumeist im fruchtbaren Austausch mit anderen Völkern, Traditionen und Kulturen entstanden ist. Demnach ist „Kultur“ kein Gefängnis, sondern eine reichhaltige Möglichkeit, sich gemeinsam Wirklichkeit anzueignen und zu schaffen.
Wer gehört zur „deutschen Kultur“?
Selbst wenn wir bei Goethe an Weimar denken, sollten wir dabei die deutsche (Un-)Kultur des nebenan liegenden Konzentrationslagers Weimar-Buchenwald mit seinen über 260.000 Häftlingen aus ganz Europa und seinen über 55.000 Toten während des Faschismus nicht vergessen. Auch die darin litten und jede Stunde um ein wenig Menschenwürde stritten und in der ihnen möglichen Form Zeugnis darüber ablegten, sind ein Teil der „deutschen Kultur“ geworden: Oder fallen uns deutsche Kulturschaffende im Exil vor der Nazi-Tyrannei ein – z.B. solche in Amerika oder diejenigen in der Türkei? Und dabei sind die immer zahlreicheren Einwanderer(-Kinder) der jüngsten Zeit, die die „deutsche Kultur“ durch ihre Werke in Politik, Wissenschaft und Medien, in Dichtung und Malerei, Musik und Schauspielkunst (oder auch durch ihr Engagement für eine demokratische politische Kultur) prägen und bereichern, noch weitgehend ausgespart.
Denken wir an Beethoven, der Schillers „Ode an die Freude“ komponierte, „alle Menschen werden Brüder“ vertonte und am rückständigen Deutschland litt, Heine, der für ein fortschrittliches Deutschland stritt – und vorzüglich dichtete, aber dafür in die Emigration getrieben wurde; Bertha von Suttners und Rosa Luxemburgs Texte gegen Kriege und für Gerechtigkeit in der Welt; die Bilder von Käthe Kollwitz und Lea Grundig; Clara Zetkins Einsatz für die Frauen- und Kinderrechte; Hans Eislers von Schönberg geschulter Beitrag zur Musik des 20. Jahrhunderts. Sehen wir vor uns die Auschwitz-Überlende Sängerin Esther Bejarano und die Band „Microphone Mafia“ mit ihren deutsch-türkisch-jiddisch-französisch-italienischen HipHop-Texten.
Die großen deutschen Dichter des 20. Jahrhunderts, wie Thomas Mann und Bertolt Brecht in Prosa und Drama, waren Flüchtlinge, Emigranten, Exilanten. Sie suchten vor der verbrecherischen Nazi-„Kultur“ Schutz in anderen Ländern. Trotzig sagte Thomas Mann in seinem kalifornischen Exil: „Wo ich bin, ist die deutsche Kultur.” Unterdessen verbrannte man in Deutschland Bücher – und dann bald auch Menschen.
Die Sprache von Gisela Elsner und Elfriede Jelinek wäre zu nennen; letztere ist Österreicherin, doch auch hier lässt sich hervorheben, dass es Österreicher waren, die die „deutsche Kultur“ bereichert haben – und nicht nur einer, der sie für immer mit Massenmord in Verbindung gebracht hat. Denken wir nicht nur an Mozart, sondern auch an den großen Musikwissenschaftler des 20. Jahrhunderts, Georg Knepler, den Musiker Georg Kreisler und v.a. an den Universalgelehrten Walter Hollitscher, welcher in Natur- wie Gesellschaftswissenschaften enzyklopädisch gebildet und in der Lage war, dieses Wissen mit Normalsterblichen verständlich zu teilen und damit Kultur zu fördern. Ein Vordenker und Praktiker des Volkshochschulgedankens.
Lange Rede, kurzer Sinn: Wenn es Lernens- und Lehrenswertes an der “deutschen Kultur” gibt, dann ihre enorme Vielfalt, ihren fruchtbaren Austausch mit den Kulturen anderer Völker, ihre Dynamik, ihre Nicht-Abgeschlossenheit und Offenheit für neue Einflüsse, die schöne deutsche Sprache, die von Luther über Kant, Hegel, Heine, Marx, Mann, Brecht, Anna Seghers und Peter Hacks die schwierigsten und schönsten Dinge auszudrücken vermag.
Wir fassen zusammen: Dort ist große Kultur, auch große “deutsche Kultur”, wo Menschen andere Menschen als Bereicherung und Hilfe ansehen. Sie war nie homogen und wird es auch nicht werden. Diese große, weltoffene, reiche Kultur(landschaft) müssten Schülerinnen und Schüler (egal ob arm oder reich, mit Migrationshintergrund oder ohne) kennenlernen dürfen.
Und wenn sie vom Nibelungenlied hören, wäre es gut, dass sie von seinen Hintergründen in der sog. Völkerwanderung und von seinen vielfältigen internationalen Wurzeln erführen (die übrigens auch erklären könnten, warum manche Charaktere im Anfangsteil als Identifikationsfiguren und im Endteil als negativ erscheinen – und umgekehrt).
Erfahren unsere Kinder, dass Karl der Große um 800 n.u.Z. seine christlichen und jüdischen Diener an den Hof des muslimischen Herrschers Harun al Raschid in Bagdad geschickt hatte, von wo seine Diener mit einem grandiosen Geschenk (einem weißen Elefanten) zurückkehrten? Lernen unsere muslimischen und nicht-muslimischen Kinder etwas über das sog. „goldene Zeitalter” des Islam und seiner vielseitigen Errungenschaften für die Menschheit in Wissenschaft, Medizin und Aufklärung – die Zeit, welche in Europa häufig nur das “dunkle Mittelalter” heißt? Erfahren sie etwas über Spanien vor 1492, über die Zeit von Ibn Sina (Avicenna, 11. Jahrhundert) bis Ibn Ruschd (Averroes, 12. Jahrhundert)?
Hören sie etwas über den Staufer-Kaiser Friedrich II., der im frühen 13. Jahrhundert seinen Kreuzzug beendete und Frieden schloss mit dem Sultan von Jerusalem? Und der muslimische, christliche, jüdische Gelehrte und Diener um sich versammelte. Zwar ist es in der Forschung umstritten, ob der Friedensvertrag als Zeichen für Friedrichs Offenheit und Toleranz gegenüber den Arabern und dem Islam zu deuten ist, jedoch ist alleine die auch nicht-kriegerische interkulturelle Kooperation bemerkenswert.
Lernen sie noch Lessings “Nathan den Weisen” kennen und seine sog. Ringparabel als Auftrag an alle religiösen und nicht-religiösen Menschen, dem Mitmensch ein Helfer zu sein?
Ob das geschieht, müssten Lehrerinnen und Lehrer untersuchen, Schülerinnen und Schüler beantworten. Denn bei aller Gewalt in der Geschichte liegt die Betonung der genannten Beispiele auf dem humanen Miteinander aller Menschen als Inbegriff von „Kultur“.
Und was wäre unsere daraus folgende Aufgabe? Vielleicht die des Zöllners aus Brechts „Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration“:
„Als er siebzig war und war gebrechlich,
drängte es den Lehrer doch zur Ruh.
Denn die Güte war im Lande wieder einmal schwächlich
und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu.
Und er gürtete den Schuh.
Packte ein, was er so brauchte:
Wenig. Doch es wurde dies und das.
So die Pfeife, die er abends immer rauchte
und das Büchlein, das er gerne las.
Weißbrot nach dem Augenmaß.
Freute sich des Tals noch einmal und vergaß es,
als er ins Gebirg’ den Weg einschlug.
Und sein Ochse freute sich des frischen Grases,
kauend, während er den Alten trug.
Denn dem ging es schnell genug.
Doch am vierten Tag im Felsgesteine
hat ein Zöllner ihm den Weg verwehrt:
“Kostbarkeiten zu verzollen?” – “Keine,”
sprach der Knabe, der den Ochsen führte, “er hat gelehrt.”
Und so war auch das erklärt.
Doch der Mann in einer heit’ren Regung
fragt noch: “hat er etwas rausgekriegt?”
Sprach der Knabe: “daß das weiche Wasser in Bewegung
mit der Zeit den mächt’gen Stein besiegt.
Du verstehst, das Harte unterliegt. ”
Daß er nicht das letzte Tageslicht verlöre
trieb der Knabe nun den Ochsen an.
Und die drei verschwanden schon um eine schwarze Föhre,
da kam plötzlich Fahrt in unseren Mann
und er schrie: “He, Du! Halt an!
Was ist das mit diesem Wasser, Alter?”
Hielt der Alte: “Interessiert es Dich?”
Sprach der Mann: “Ich bin nur Zollverwalter,
doch wer wen besiegt, das interessiert auch mich.
Wenn du’s weißt, dann sprich!
Schreibt es auf! Diktier es diesem Kinde!
So was nimmt man doch nicht mit sich fort.
Da gibt’s doch Papier bei uns und Tinte
und ein Nachtmahl gibt es auch, ich wohne dort.
Nun, ist das ein Wort?”
Über seine Schulter sah der Alte
auf den Mann: Flickjoppe, keine Schuh.
Und die Stirne eine einz’ge große Falte.
Ach, kein Sieger trat da auf ihn zu.
Und er murmelte: “Auch Du?”
Eine höflich’ Bitte abzuschlagen,
war der Alte, wie es schien, zu alt.
Denn er sagte laut: “Die etwas fragen,
die verdienen Antwort.” Sprach der Knabe: “Es wird auch
schon kalt. ”
“Gut, ein kleiner Aufenthalt.”
Und von seinem Ochsen stieg der Weise,
sieben Tage schrieben sie zu zweit.
Und der Zöllner brachte Essen (und er fluchte nur noch leise
mit den Schmugglern in der ganzen Zeit).
Und dann war’s so weit.
Eines morgens händigte der Knabe
jenem Zöllner 81 Sprüche ein.
Und mit Dank für eine kleine Reisegabe
bogen sie um jene Föhre ins Gestein.
Sagt jetzt: kann man höflicher sein?
Aber rühmen wir nicht nur den Weisen,
dessen Name auf dem Buche prangt!
Denn man muß den Weisen ihre Weisheit erst entreißen.
Darum sei dem Zöllner auch gedankt:
Er hat sie ihm abverlangt.“