Prof. Dr. Claus Melter
Universität Bielefeld
„Wir können es uns nicht länger leisten, still zu sein!“ (KÜBRA GÜMÜŞAY 2016)
Rassismus-kritische Pädagogik in der Migrationsgesellschaft kann sowohl angesichts aktueller gesellschaftspolitischer Entwicklungen als auch im Hinblick auf koloniale und rassistische sowie völkisch-nationalistische Denktraditionen als professionell angemessene und politisch notwendige Pädagogik angesehen werden. Im Aufruf „Entschieden gegen Diskriminierung und Rassismus!“ werden diesbezüglich einige aktuelle gesellschaftliche und politische Phänomene skizziert:
- „Die zunehmende physische rassistische Gewalt gegen geflüchtete Personen und ihre Unterkünfte,
- systematische Praxen des Racial Profiling seitens Justizbehörden seitens Polizei (nicht nur bei den Nicht-Ermittlungen bei der so genannten NSU) und im Bildungssystem,
- die Verringerung der Rechte von Personen im Asylverfahren und mit einer Duldung,
- die systematische Diskriminierung von Menschen mit zugeschriebener Migrationsgeschichte, von People of Color und Schwarzen Deutschen im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt,
- der zunehmende antimuslimische Rassismus, der Rassismus gegen Roma und Sinti,
- die Demonstrationen von PEGIDA, ihre Aufmärsche und völkisch-rassistischen Parolen
- die Gründung der Partei „Alternative für Deutschland“, AFD, die in ihrem Parteiprogramm gegen die bestehende Vielfalt in der Gesellschaft hetzt sowie
- das vielfach Tod bringende EU Grenzregime gegenüber flüchtenden Menschen, die vor Krieg und Armut Schutz suchen,
erfordern eine Vielfalt von Widerstandsstrategien und unsere gemeinsame Entschiedenheit gegenüber Diskriminierung, Nationalismus und Rassismus.“ ( https://entschiedengegenrassismus.wordpress.com/ )
Eine rassismuskritische Soziale Arbeit und Bildung sieht die Entstehung des modernen Erziehungsdenkens u.a. eng mit dem europäischen Kolonialismus verbunden (vgl. Spieker 2014). Eine migrationsgesellschaftliche diskriminierungs- und herrschaftskritische Perspektive (vgl. Mecheril 2016) analysiert, ob und wie und mit welchen Mitteln und Folgen in die Gruppen von „Wir“ und „die Anderen“ in nationalisierenden, religionsbezogenen, kulturalisierenden oder ethnisierenden/ rassistischen Weise gesetzlich (z.B. durch aufenthalts- und asylrechtliche Regelungen) und sozial hergestellt werden, gesellschaftlich positioniert und wie ihnen pädagogisch, erziehend begegnet wird. Und eine diskriminierungs- und rassismuskritische Soziale Arbeit und Bildung (vgl. Melter 2015) vertritt normativ eine diskriminierungs- und rassismuskritische Perspektive, die darauf abzielt, weniger diskriminierend und rassistisch regiert zu werden.
Seit den 1990er Jahren wird zudem betont, dass Soziale Arbeit eine an Menschenrechten orientierte Profession ist bzw. sein soll (vgl. Prasad 2011). Sowohl in der Arbeit mit von Gewalt betroffenen Frauen als auch in der Arbeit mit geflüchteten Personen müssen Professionelle und Ehrenamtliche die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, jedoch insbesondere die rechtsverbindlichen UN-Konventionen zu Frauen, Kindern, zu Menschen, die behindert werden, die UN-Pakte sowie die EU-Sozialcharta kennen und anwenden können, um gemeinsam mit Adressat_innen Menschenrechtsverletzungen zu thematisieren, zu kritisieren und idealerweise – auch durch Gerichtsverfahren – zu beenden (Prasad 2011).
Notwendig sind Auseinandersetzungen mit aufenthaltsrechtlichen und rassistischen Diskriminierungen, ebenso wie die Arbeit mit den Angehörigen der Dominanzgesellschaft zur Ideologie „weißer Überlegenheit“ und den „Vorrechten der Deutschen“ sowie eine Thematisierung der Unterscheidung in „Wir“ und „die „Anderen“. Die Ausrichtungen und Praxen Sozialer Arbeit und Bildung in Migrationsgesellschaften und die gravierender unterbesetzte Flüchtlingssozialarbeit (vgl. http://www.fluechtlingssozialarbeit.de/ ) lassen sich unterscheiden in kulturalisierende und in „misionierend-zivilsierend-kolonialer“ Tradition stehende Anpassung- und Unterwerfungsansätze auf der einen Seite gegenüber emanzipatorisch-partizipatorischen sowie diskriminierungs- und rassismuskritischen Ansätzen. Oftmals findet sich eine Verbindung von beiden. Dabei ist diese Differenzlinie nicht an der Frage rassismuskritisch oder interkulturell (vgl. Attia 1997) zu klären, sondern u.a. an der Frage eines homogenisierend-essentialisierenden Kulturverständnisses gegenüber machtreflexiven dekonstruktiven Kulturverständnissen. Auch in der ehrenamtlichen Arbeit mit geflüchteten Personen ist neben einer Wertschätzung des Engagements auf die Fallstricke paternalistischen Bevormundungsdenkens hinzuweisen. Und es stellt sich die Herausforderung, die Menschenrechte gegenüber diskriminierenden nationalstaatlichen Regelungen und Handlungspraxen der Behörden einzufordern (vgl. Prasad 2017).
So stellt sich die Aufgabe der migationsgesellschaftlichen sowie diskriminierungs- und rassismuskritischen Öffnung der Sozialen Arbeit und Bildung in der aktuellen Migrationsgesellschaft, in der auf der einen Seite zivilgesellschaftliche Unterstützungsbereitschaft und professionelle menschenrechtsorientierte Soziale Arbeit und Bildung realisiert wird. Auf der anderen Seite gibt es systematische rechtsextreme und alltagsrassistische Handlungssysteme (auf institutioneller, struktureller, diskursiver, interaktivierende und subjektivierender Ebene), die mit rechtlichen Diskriminierungen in Aufenthalts- und Asylrecht einhergehen. Demgegenüber heißt es sich, diskriminierungs- und rassismuskritisch zu positionieren: „Wir wollen nicht gegenüber der neuerlichen Konjunktur menschenverachtender, rassistischer Positionen abwarten und alles ausschließlich beobachten und analysieren. Wir brauchen ein noch größeres systematisches rassismuskritisches und gerechtigkeitsorientiertes Projekt. Wir wollen als ein Teil dieses Projektes – in Kooperation mit bestehenden Netzwerken – daran arbeiten..“ (https://entschiedengegenrassismus.wordpress.com/)
Literatur:
Attia, Iman (1997): Antirassistisch oder interkulturell? Sozialwissenschaftliche Handlungskonzepte im Kontext von Migration, Kultur und Rassismus” In: Mecheril, Paul /Teo, Thomas (Hg.) (1997): Psychologie und Rassismus. Reinbek bei Hamburg: rororo, S. 259-286
Entschieden gegen Rassismus (2016): Aufruf Entschieden gegen Rassismus! Zu finden unter: https://entschiedengegenrassismus.wordpress.com/ (Zuletzt aufgerufen am 29.11.2016)
GÜMÜŞAY, KÜBRA (2016): Organisierte Liebe. Rede auf der Re-Publica 2016. Zu finden unter: https://re-publica.de/16/session/organisierte-liebe (Letzter Aufruf 29.11.2016)
Mecheril, Paul (2016): Migrationspädagogik – ein Projekt. In: Mecheril, Paul unter Mitarbeit von Kourabas, Veronika und Rangger, Matthias (Hrsg.): Handbuch Migrationspädagogik. Weinheim/ Basel: Beltz, S. 8-30
Melter, Claus (Hrsg.) (2015): Diskriminierungs- und rassismuskritische Soziale Arbeit und Bildung. Praktische Herausforderungen, Rahmungen und Reflexionen. Weinheim/ München: Beltz/ Juventa
Prasad, Nivedita (2011): Mit Recht gegen Gewalt. Die UN-Menschenrechte und ihre Bedeutung für die Soziale Arbeit. Ein Handbuch für die Praxis. Juristische Beratung Heike Rabe. Opladen/ Farmington Hills: Barbara Budrich
Prasad, Nivedita (2017): Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession im Kontext von Flucht. In: : Gebrande, Julia/ Melter, Claus/ Bliemetsrieder, Sandro (Hrsg.): Kritisch ambitionierte Soziale Arbeit. Intersektional praxeologische Perspektiven. Weinheim, Basel (im Erscheinen)
Spieker, Susanne (2015): Die Entstehung des modernen Erziehungsdenkens aus der europäischen Expansion. Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag