Da die Kinderrechte einen Teil der Universalität der Menschenrechte darstellen, darf der Kampf gegen Kinderarmut und für Kinderrechte niemals nur national betrachtet werden. Da es sich bei der Katastrophe im Gaza-Streifen auch um die schlimmsten Formen von (Kinder-)Armut und Kinderrechtsverletzungen durch Hunger, Durst, fehlendes Obdach, Vertreibung, fehlende Medikamente usw. gegenüber mehr als einer Millionen Kindern handelt, ist es nötig, als Kindheitswissenschaftler dagegen zu sprechen.
Die ersten Aufrufe von tausenden Kindheitswissenschaftler(inne)n weltweit kamen bereits von Ende Oktober 2023 (vgl. https://mondoweiss.net/2023/10/childhood-researchers-call-for-an-end-to-the-western-backed-israeli-genocide-in-gaza/; https://docs.google.com/forms/d/e/1FAIpQLSf6Y8T7YLQrQ32Nl_7JXrRKjJKw_JYxQKpAV4KGubNgEca3Ww/viewform). Da sie die Angriffe vom 7. Oktober 2023 nicht als den Ursprung des Nahost-Konflikts ansahen und zu früh vorm israelischen Genozid in Gaza warnten, warf man ihnen (v.a. unter deutschen Kolleg(inn)en) auch prompt mancherorts Antisemitismus vor.
In der Philosophie der Nato-Staaten waren die Positionen zwischen Judith Butler, Nancy Fraser u.a. und Seyla Benhabib, Jürgen Habermas, Rainer Forst u.a. aufgeteilt.
Butler, Fraser, aber auch Naomi Klein oder Angela Davis u.a. kritisierten die israelischen Kriegsverbrechen und wiesen besonders auf den jahrzehntelangen Besatzungs- und Belagerungsterror gegen die palästinensische Bevölkerung hin (vgl. https://drive.google.com/file/d/1N22Q0oCpwmIrCiW6yZYe1JunyPr1Tt0r/view).
Benhabib u.a. erwiderten, dass zunächst einmal der Opfer des Hamas-Angriffs vom 7. Oktober 2023 gedacht werden müsse als Beginn dieser neuerlichen Gewalt-Explosion (vgl. https://medium.com/amor-mundi/an-open-letter-to-my-friends-who-signed-philosophy-for-palestine-0440ebd665d8).
Habermas, Forst u.a. kamen dann am 13. November 2023 noch dazu und äußerten sich zunächst einmal gegen Antisemitismus und für den aus ihrer Sicht „prinzipiell gerechtfertigten Gegenschlag“ Israels (vgl. https://www.tagesspiegel.de/kultur/antisemitismus-in-deutschland-jurgen-habermas-halt-israels-gegenschlag-fur-prinzipiell-gerechtfertigt-10780735.html).
Zu diesem Zeitpunkt waren bereits im Rahmen des sog. Gegenschlags mehrere tausende Kinder durch israelische Bomben und Blockaden von Wasser- oder Medikamentenversorgung getötet worden.
Unterdessen haben die beiden renommierten Kindheitswissenschaftler Prof. Dr. Manfred Liebel und Prof. Dr. Doris Bühler-Niederberger einen Aufsatz zum Thema “Kinderrechte und Gaza-Krieg” ins Deutsche übersetzt (vgl. https://discovery.ucl.ac.uk/id/eprint/10190401/; im offenen Netz befindet sich davon nur noch die spanische Version: https://gsia.blogspot.com/2024/03/la-guerra-de-israel-contra-gaza-y-la.html). Um nur zwei Zahlen auszuwählen: die schon nach den ersten Monaten auf Gaza abgeworfene Sprengkraft entsprach bereits in etwa zwei Atombomben. Gleichzeitig betrug die Anzahl der unter fünfjährigen Kinder in Gaza, die den Massenvernichtungswaffen ausgesetzt wurden, (noch) etwa 335.000.
Weitere Initiativen von Wissenschaftler(inne)n ließen derweil auch nicht locker mit ihrer Empörung über die Verbrechen sowie das regierungsamtliche und mediale Schweigen (vgl. https://statementisraelgaza.wordpress.com/de/)
Umgekehrt gerieten relativ schnell ganze Wissenschaftsrichtungen wie die Postcolonial Studies in den Verdacht, Israel ungerecht zu beurteilen, die Verbrechen des Besatzungs- und Belagerungsregimes in den palästinensischen Gebieten überzubetonen, palästinensische Terroranschläge zu verharmlosen oder den Antisemitismus buchstäblich zu befördern (vgl. https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/der-streit-ueber-postkoloniale-studien-es-geht-letztlich-um-gleiche-rechte-fuer-alle-menschen-92758868.html).
Derweil wurde gerade auch von jüdischen Intellektuellen die Gefahr eines eingeschränkten Diskurses bemerkt (vgl. https://taz.de/Offener-Brief-juedischer-Intellektueller/!5965154/; https://www.fr.de/kultur/literatur/schriftstellerin-deborah-feldman-wir-stehen-am-beginn-eines-zivilisationsbruchs-92656041.html).
Die berühmten deutschen Philosophen Jürgen Habermas, Nicole Deitelhoff, Klaus Günther und Rainer Forst hatten sich indes in einer Stellungnahme vom 13.11.2023 insgesamt solidarisch mit der israelischen Seite im Gazakrieg geäußert. Dabei fiel auf, dass der von ihnen “prinzipiell gerechtfertigte Gegenschlag” Israels in Gaza (Forst/Habermas u.a. v. 13.11.2023) inzwischen selbst die Adorno-Preisträgerin Seyla Benhabib davon überzeugt hat, dass “es von israelischer Seite genozidale Kriegsverbrechen gegeben hat.” (FR v. 3.9.2024) Bekanntlich wurden in den letzten mehr als zwölf Monaten in Deutschland Menschen allein deshalb von der Polizei festgenommen, weil sie den Begriff “Genozid” bzw. “Kein Genozid in Gaza” geäußert haben. Forst, Habermas und die anderen hatten hierzu die Legitimation abgegeben, indem sie behaupteten, dass die Maßstäbe der Beurteilung vollends verrutschen würden, “wenn dem israelischen Vorgehen genozidale Absichten zugeschrieben werden.” (13.11.2023) Rein empirisch gesehen wirkte dies etwas befremdlich. Die massenhaften genozidalen Äußerungen israelischer Akteure vom obersten Präsidenten, über Regierungsmitglieder bis zu den tausenden von Social Media Artikulationen israelischer Soldaten und den multimedial verbreiteten „Pogrom-Partys“ in Israel mit den Slogan „Wir brennen ihre Dörfer nieder!“, „Wir rotten sie aus!“ usw., konnten einfach nicht übersehen werden (vgl. https://scheerpost.com/2024/10/09/the-first-live-streamed-genocide-al-jazeera-exposes-war-crimes-filmed-by-israeli-troops-themselves/). Letztere hatten in ihrer Selbstdarstellung auf Tik Tok und anderen Social Medias den Völkermord und Genozid an der palästinensischen Bevölkerung regelrecht abgefeiert, da es „in Gaza keine Unschuldigen“ gäbe und folglich alle über zwei Millionen Bewohner/innen – auch die hunderttausenden Kleinkinder – mitbestraft werden durften und sollten für den von etwa 2000 Militanten begangenen Angriff vom 7. Oktober.
Aus diesem und anderen Gründen ernteten die Frankfurter Philosophen verständlicherweise Gegendarstellungen vieler empörter internationaler Intellektueller (https://www.theguardian.com/world/2023/nov/22/the-principle-of-human-dignity-must-apply-to-all-people). Prof. Forst antwortete darauf, indem er Adorno bemühte (FR v. 25.11.2023), der sich dem Schwarz-Weiß-Denken verweigern wollte. Nur, genau das hatten Forst und die anderen vorher ja gerade nicht getan, indem sie Israels Gegenschlag “prinzipiell” rechtfertigten und zugleich auch nur die Annahme “genozidaler Absichten” als abwegig geradezu verdammten. Ob es der Staatsraison, der Solidarität oder dem Kampf gegen Antisemitismus wirklich dienlich war und ist, den Freunden ermunternd auf die Schulter zu klopfen, statt ihnen mit helfender Kritik in die Arme zu fallen, wenn sie im Begriff sind, ein furchtbares Verbrechen durch ein noch furchtbareres Verbrechen zu beantworten, lässt sich mit guten Gründen kritisch hinterfragen. Und, ob der von Forst u.a. “prinzipiell gerechtfertigte Gegenschlag” die Sicherheit Israels, der israelischen Zivilbevölkerung, der israelischen Kinder und der israelischen Geiseln wirklich verbessert hat, kann als ebenso zweifelhaft angesehen werden. Leider ist es bislang zu keiner Diskussion über (Kinderrechte und Kinderarmut in) Gaza mit dem Kollegen Forst gekommen und geantwortet hat er auf Kontaktversuche des Autors dieser Zeilen ebenfalls nicht.
Dabei sind die Kennzahlen und Sachinformationen zur Beleuchtung der Kriegsverbrechen in Gaza aus wissenschaftlichen Perspektive ziemlich evident (vgl. Klage des ICC gegen Hamas und Netanjahu v. 21.11.2024). Inzwischen sind nicht nur Seyla Benhabib, sondern auch die UN-Generalversammlung, der Internationale Gerichtshof sowie der Internationale Strafgerichtshof schon etwas weiter. Die von verschiedensten israelischen Medien, Ministern, Militärs und dem Staatspräsidenten Herzog selbst geäußerten genozidalen Forderungen sind nachlesbar. Motto: »In Gaza gibt es keine Unschuldigen an den Anschlägen vom 7. Oktober!« (vgl. S. 60ff. der südafrikanischen Anklageschrift vor dem Internationalen Gerichtshof gegen Israel wegen des Verdachts des Völkermords mit hunderten israelischen Politiker-, Militär- und Medien-Beispielen). Demnach sind – wie gesagt – alle schuldig und alle zu bestrafen. Auch die hunderttausenden unter Fünfjährigen, auch die eine Million Minderjähriger ohne Hamas-Mittäterschaft; alle sind in der genozidalen Logik schuldig und entsprechend zu »behandeln« (vgl. https://www.icj-cij.org/sites/default/files/case-related/192/192-20231228-app-01-00-en.pdf).
Die Leugnung dieser offensichtlich absichtlich und deshalb genozidal herbeigeführten Kollektivbestrafung aller Bewohner/innen des Gaza-Streifens für die Angriffe vom 7. Oktober 2023 seit dem 9. Oktober 2023 mit tagtäglichem Hunger, Durst, Wasser- und Medikamentenmangel, mit Bomben und Raketen, mit Tod und Massenvertreibung (auch der hunderttausenden Kleinkinder) wird in Debatten um (Kinder-)Armut und den Weltkinderrechtetag nicht nur in Deutschland gerne verdrängt.
Deshalb stellt sich die Frage, welche Rolle zumindest den Vereinten Nationen, vor allem der UN-Kinderrechtskonvention und UNICEF beigemessen werden kann, einen Anteil an einer Friedenslösung in diesem Krieg zu haben. Denn, wie alle Staaten, außer den USA, hat auch Israel die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert, das heißt, sich gesetzlich zu deren Umsetzung verpflichtet. Es ist evident, dass dies im Gaza-Streifen, im Westjordanland und nun auch im Libanon nicht geschieht. Manchmal machen sich israelische Regierungsvertreter vor der UNO über die Vereinten Nation regelrecht lustig und behaupten dreist, nicht zuständig zu sein für die von ihnen zu verantwortenden Zustände in den von Israel völkerrechtswidrig besetzten und/oder belagerten Gebieten.
In diesem Zusammenhang ist es nicht unerheblich, dass der israelische Premierminister den Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofes als einen »der großen Antisemiten der Moderne« (ZEIT.de v. 21.5.2024) bezeichnet hat, während der israelische UN-Botschafter mit seiner Davidstern-Aktion und seinem Schreddern der UN-Charta die gesamte UN-Generalversammlung aller Staaten als Haufen von Judenhassern hingestellt hat. Beide, Netanjahu und der israelische UN-Botschafter betreiben NS- und Holocaust-Verharmlosung.
Auch die Hunderten von getöteten UN-Mitarbeiter, Ärzte und Journalisten zeigen eine systematische Verachtung der „moralischsten Armee der Welt“ (Netanjahu) für das Völkerrecht (dass von 13.000 UNWRA-Mitarbeitern angeblich zwölf unter Folter eine Beteiligung an den Anschlägen vom 7. Oktober 2023 gestanden haben sollen, rechtfertigt in keiner Weise systematische Bombardierungen von UN-Institutionen und UN-Nahrungskonvois und dem gänzlichen UNWRA-Verbot im israelischen Besatzungsgebiet).
Als Kindheitswissenschaftler lässt sich von der bundesdeutschen Politik und Wissenschaft in dieser Situation nur dringend fordern, endlich das Beschweigen durch einen großen Teil deutscher Wissenschaftler/innen zu beenden, Schluss zu machen mit menschenrechtlichen Doppelstandards in den internationalen Beziehungen; Stopp der Waffenlieferungen in Kriegsgebiete; Einsatz für Waffenstillstand; aufhören mit der Genozid-Leugnung. Leider sieht es immer noch nach dem genauen Gegenteil und einer Unterstützung einflussreicher Wissenschaft und Politik beim Genozid aus (https://www.ossietzky.net/artikel/zeitenwende-an-den-hochschulen/). Trotz geringer Lichtblicke (vgl. https://docs.google.com/forms/d/e/1FAIpQLSfVy2D5Xy_DMiaMx2TsE7YediR6qifxoLDP1zIjKzEl9t1LWw/viewform?pli=1 und https://docs.google.com/forms/d/e/1FAIpQLSccTcNVPTUSpezw2v7wWgNVpoFPfYsYMa9QpLkmCaq4YWy1Nw/viewform), sieht es immer noch nach einer Komplizenschaft vorherrschender Wissenschaft und Politik aus, während Kriegskritiker mit Rufmord und scharfen Repressionen bedroht werden (vgl. https://www.ossietzky.net/artikel/zeitenwende-an-den-hochschulen/).
Welche Umgangsweisen mit einer entsprechenden Haltung der Bundesregierung und bestimmter Frankfurter Philosophen korrespondieren könnten, ließ sich vor kurzem sehen: Ein etwa 11jähriger Junge wurde am Ende einer Palästina-Demonstration von Berliner Polizisten über einen Platz gejagt, festgenommen und in einen Polizeiwagen gebracht, offenbar weil er angeblich eine kleine Palästina-Fahne gezeigt haben soll oder, weil er noch minderjährig ohne Erziehungsberechtigte/n an dieser Demo teilnahm und deshalb “in Obhut genommen werden musste”. Bislang durfte man zynischerweise denken, es sei nur “prinzipiell gerechtfertigt”, Palästinenser/innen jeglichen Alters in völkerrechtswidrig besetzten Gebieten zu jagen, aber man lernt nie aus. Außerdem ist das natürlich wieder mal nur die Schuld der Palästinenser selbst, die Kinder instrumentalisieren, wie die üblichen Beiträge aus dem Springerhaus zu wissen glauben. Als würde es auf allen anderen Demos dieser Welt keine (instrumentalisierten) Kinder geben – und trotzdem werden die nicht alle von schwer bewaffneten Einsatzkräften über einen Platz gejagt (vgl. https://overton-magazin.de/kolumnen/kohlhaas-unchained/clockwerk-orange-stanley-kubrick-in-berlin/). Eine STERN-Journalistin forderte allen Ernstes auf X, den Jungen “erzieherisch vermöbeln” zu lassen.
Wie diese Vorgänge auch einer letztlich rassistischen Entmenschlichung von Palästinensern dienen, palästinensisches Leid zu leugnen helfen und dadurch den Betroffenen die Empathie guten Gewissens versagt werden kann, lässt sich immer deutlicher erkennen (vgl. https://diefreiheitsliebe.de/politik/die-entmenschlichung-von-palaestinenser-im-medialen-diskurs/ sowie https://taz.de/Sawsan-Chebli-ueber-den-Gaza-Krieg/!6017664/).
Schließlich gefährdet der mediale, politische und wissenschaftliche Mainstream-Umgang mit dem Nahostkonflikt buchstäblich auch jüdisches Leben, wie Dave Braneck in der Zeitschrift Jacobin.de vom 13. November 2023 schreibt: »Politik und Medien erweisen Jüdinnen und Juden einen Bärendienst, indem sie sie mit Israels Regierung gleichsetzen, jüdische Stimmen für den Frieden unterdrücken und Fremdenfeindlichkeit und Abschiebungen als Lösungsansatz für Antisemitismus verfolgen.«