Die letzten Jahre waren und sind – sowohl weltweit und auch in Deutschland – durch multiple Krisen gekennzeichnet, die zu einer Grundverunsicherung der Menschen führten, auch weil Politik und Verantwortliche keine schnellen Lösungen anbieten können bzw. deren Lösungskompetenz häufig angezweifelt wird. Bürger:innen bewerten die gesellschaftliche Stimmung und ihre persönliche Lage zusehends pessimistisch, was dazu führt, dass das Vertrauen in politische Parteien, staatliche Institutionen sowie in das demokratische System zunehmend erodiert.
Das stärkste Bollwerk in Demokratien gegen politische Gefährdungen sind starke Institutionen und mündige Bürger:innen, die bereit sind, freiheitlich-demokratische Werte zu verteidigen, dadurch dass sie sich einmischen, hinterfragen und im Idealfall demokratiegefährdenden Entwicklungen eine Absage erteilen (vgl. Kiehl/Schnerch 2018).
Die nachwachsenden Generationen erwerben in der Schule idealerweise nicht nur Wissen über die Demokratie als politische Herrschaftsform, sondern lernen darüber hinaus die Relevanz von Demokratie als Gesellschaftsform kennen und die Auswirkungen auf das eigene Leben (Demokratie als Lebensform). Im besten Fall erhalten sie die Gelegenheit, in schulisch-unterrichtlichen Kontexten grundlegende demokratische Ziele und Werte zu benennen sowie anschaulich und praktisch zu erproben (Diskursfähigkeit, Argumentationskompetenz, Wahloptionen, Gremienarbeit, …).
Demokratieskepsis und Offenheit für Populismus unter Jugendlichen
Ergebnisse aktueller Jugendstudien verweisen auf eine zunehmende Demokratieskepsis bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland. Bereits die 18. Shell Studie von 2019 zeigte, dass 33 Prozent der befragten Jugendlichen offen für populistische Aussagen waren (Albert u.a. 2019). Die 19. Shell Studie von 2024 verdeutlichte, dass insbesondere der Anteil männlicher Jugendlicher, die sich als eher rechts bezeichnen, zwischenzeitlich zunahm und jeder vierte Befragte (25 Prozent) sich als eher rechts bzw. rechts einordnet; bei den weiblichen Jugendlichen sehen sich 11 Prozent politisch als eher rechts oder rechts (Albert u.a. 2024).
Auch innerhalb der Gruppe von Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte nahmen Demokratiedistanz und Zustimmung für nationalistisches und extremismusaffines Gedankengut zu. Die MOTRA-Studie aus dem Jahr 2023 konnte nachweisen, dass innerhalb der Jugendlichen der ersten Generation aus dem Nahen Osten, die selbst nach Deutschland eingewandert sind, der Anteil demokratiedistanter Einstellungen bei 25 Prozent lag. Bei Jugendlichen aus der Region „Türkei/Balkan“ betrug dieser Wert 17 Prozent, bei Jugendlichen aus Osteuropa 13 Prozent. Innerhalb der einheimischen Jugendlichen ohne Zuwanderung konnten bei 10 Prozent demokratiedistante Einstellungen festgestellt werden (Farren u.a. 2023).
Diese Studie hebt hervor, dass schulische Sozialisation in hiesigen Bildungseinrichtungen entscheidenden Einfluss auf die Verminderung demokratiedistanter Einstellungen sowie extremismusaffinem Gedankengut bei Jugendlichen aus zugewanderten Familien haben kann, denn während in der ersten Zuwanderungsgeneration, die selbst nach Deutschland einwanderte, demokratiedistante Einstellungen 22 Prozent betrugen, sank dieser Prozentsatz bei Jugendlichen der zweiten Generation, also denjenigen, die von Anbeginn in Deutschland schulisch sozialisiert wurden, auf 12 Prozent ab, in etwa auf das Niveau einheimischer Jugendlicher ohne Zuwanderungserfahrung (10 Prozent) (Farren u.a. 2023).
Zur Wahrheit gehört ebenfalls, dass bei Kindern und Jugendlichen mit (familiärer) Zuwanderungserfahrung, gerade aus bildungsarmen Elternhäusern und sozial prekären Lebenslagen, potenziell die Gefahr gegeben ist, dass Wissen um demokratische Grundrechte und um die Bedeutung der freiheitlich demokratischen Grundordnung sich nicht ausreichend ausbilden, auch weil Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft aus Drittstaaten, weder auf Bundes-, Landes- noch kommunaler Ebene, kein Wahlrecht besitzen, was in der Konsequenz bedeutet, dass sie bei gesellschafts-politischen Entscheidungen ohne Mitspracherecht bleiben und damit die Abläufe in demokratischen Institutionen nicht persönlich erfahren und internalisierten.
Mehrere Studien machen darüber hinaus auf den Zusammenhang von Demokratieskepsis von individuellem Bildungsniveau aufmerksam. 2024 untersuchte die Studie „Demokratie und Bildung“ den Stellenwert von Bildung unter anderem bei der Informationsbeschaffung und Entscheidungsfindung. 79 Prozent der Befragten antworteten, dass sie fehlende Bildung als potenzielle Bedrohung für die Demokratie sehen. Obzwar 66,6 Prozent der Befragten die Meinung vertraten, dass Bildung keine Garantie für eine funktionierende Demokratie sei, stimmten 83,6 Prozent der Aussage zu, dass Bildung bei Wahlentscheidungen eine zentrale Rolle spiele (vgl. Internationale Hochschule 2024).
Die vom Deutschen Jugendinstitut 2024 durchgeführte Jugendbefragung „Politische Sozialisation und Demokratieförderung“ belegte einen großen Bedarf demokratiefördernder Maßnahmen bei Jugendlichen. Die Studie stellt fest, dass die Skepsis gegenüber Politik und Demokratie umso größer ist, je geringer das Bildungsniveau der Befragten. Die Studienautor:innen empfehlen als Konsequenz Schulen mit niedrigqualifizierenden Bildungsabschlüssen den unterrichtlichen Umfang politischer Bildung signifikant auszubauen. Darüber hinaus erscheint es wichtig, alternative Zielgruppenzugänge und Konzeptionen zu entwickeln, mit denen besser als bisher gelingt, gerade auch junge Menschen mit niedrigem Bildungsniveau und aus weniger privilegierten Sozialmilieus zu erreichen. Die Studienbefunde unterstreichen mit Vehemenz die gesellschaftspolitischen Konsequenzen von Bildungsungleichheit bzw. weisen auf die weitreichenden Folgen sozialer Ungleichheit hin.
Demokratiebildung als Querschnittskompetenz in Bildungseinrichtungen ausbauen
Angesichts der zunehmenden Bedrohung freiheitlicher Grundwerte kommt Schulen als Orte der Gesellschaftsbildung – mehr denn je – eine tragende Rolle zu, die zentralen Werte der freiheitlichen Demokratie stärker als bisher unterrichtlich aufzugreifen. Demokratiebildung sollte zur verbindlichen Querschnittskompetenz schulischer Bildung und Erziehung aller Unterrichtsfächer werden – und nicht auf einige wenige Fächer wie Geschichte/Weltkunde oder politische Bildung beschränkt bleiben.
Darüber hinaus erscheint es notwendig, zeitnah in allen Bundesländern flächendeckend verbindliche Fortbildungen und Angebote für Lehrkräfte und weitere pädagogische Fachkräfte wie Schulsozialarbeit zu diesem Themenkomplex anzubieten, damit Jugendliche an konkreten Praxis-Beispielen demokratisches Handeln und Urteilen erproben können. Es bedarf darüber hinaus der Einrichtung einer Datenbank, in der alle bundesweiten Maßnahmen und Praxisprojekte zur Demokratiebildung hinterlegt werden.
Lehrkräfte sowie pädagogische Fachkräfte benötigen ein Mindestmaß an Wissen und Handlungskompetenz in folgenden Themenfeldern:
- Grundlagen der freiheitlich demokratischen Grundordnung: Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Umgang mit Pluralität und Diversität;
- Aktuelle Herausforderungen: Globalisierung, Pandemie, Klimawandel, Militärische Konflikte und Kriege, Fluchtmigration, Vertrauenserosion gegenüber staatlichen Institutionen;
- Gefährdungspotenziale für Gesellschaft und Schule: Politischer Extremismus, religiös motivierter Extremismus, Diskriminierung und Ausgrenzung, Rassismus, Radikalisierung des öffentlichen Raumes, offene und verdeckte Gewaltanwendung gegenüber Minderheiten;
- Demokratiepädagogik: Wissenserwerb, (Selbst-)Reflexionskompetenz, Diversitätskompetenz, Förderung gesellschaftlicher Teilhabe und Teilnahme durch Förderung von Selbstwirksamkeit.
Ausblick:
Auch wenn Schulen nicht die Rolle einer „gesellschaftlichen Feuerwehr“ einnehmen können, sind sie imstande, die Grundlagen für Demokratiebildung und Werterziehung zu legen, und zwar nicht nur im Gemeinschafts-/Politikunterricht, sondern in allen Fächern. Ausgehend von Deweys Verständnis von Schule als einer „Gesellschaft im Werden“, wird ihre Verpflichtung offenbar, Lehr-/Lernbedingungen zu ermöglichen, lebensweltlich relevante Inhalte und zentrale Werte handelnd erfahrbar zu machen (vgl. Kiehl/Schnerch 2018).
Mit Demokratiebildung rücken auch Mündigkeit und Ambiguitätstoleranz in den Fokus pädagogischen Handelns. Sie bildet eine zentrale Kompetenz von Demokratiepädagogik, da sie Lehrende und Lernende anleitet, mit gesellschaftlichem und politischem Wertepluralismus sowie deren Widersprüchen und Mehrdeutigkeiten umzugehen, konkret gesprochen, auf der Grundlage der Verfassung und unter Respektierung von Individualrechten einander widersprechende Standpunkte anzuerkennen und zuzulassen (vgl. Kiehl/Schnerch 2018).
Künftig sollten sich Schulen – mehr denn je – zu Sozialräumen weiterentwickeln, in denen im Kleinen zentrale gesellschaftliche Fragen aufgegriffen und in pädagogischen Lehr-/Lernarrangements ausgehandelt werden, Schüler:innen aktiv mit Fragen von Mündigkeit und Ambiguitätstoleranz konfrontiert sind und dadurch gesellschaftliche Ambivalenzen real erleben können.
Als Willy Brandt 1969 in seiner Regierungserklärung verlangte, mehr Demokratie zu wagen, war sein Ziel des einen gesellschaftlichen Neustarts, hin mehr zur Mündigkeit und zur politischer Teilhabe aller Bürger:innen. Gerade für die heutige gesellschaftspolitische Situation erscheint ein ähnlicher Neustart auch dringend geboten.
Literatur:
- Albert/Hurrelmann/Quenzel (2020): 18. SHELL JUGENDSTUDIE – JUGEND 2019: Eine Generation meldet sich zu Wort. Weinheim/New York.
- Albert/ Quenzel/ de Moll Valerian (2024): 19. SHELL JUGENDSTUDIE – JUGEND 2024: Pragmatisch zwischen Verdrossenheit und gelebter Vielfalt. Weinheim/New York.
- Farren/Fischer/Brettfeld/Endtricht/Kleinschnittger/Wetzels (2023): Demokratiedistanz, extremismusaffine Einstellungen, Akzeptanz politisch motivierter Gewalt sowie Intoleranz gegenüber Minderheiten und Fremdgruppen bei Jugendlichen und Heranwachsenden in Deutschland 2022. https://www.jura.uni-hamburg.de/die-fakultaet/professuren/kriminologie/media/uhh-forschungsbericht-10-jumid.pdf%20
- Henschelmann, Karl-Philipp/Meijer, Laura/Sauermann, Pia/Kroiß, Anna-Lena/Sarnau, David (2024): Standardisierte Online-Erhebung mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen von 16 bis 27 Jahren. Teilbericht 4 des Projekts “Ermittlung von Bedarfslagen im Bereich Demokratieförderung und Extremismusprävention”. Halle (Saale). unter: https://www.dji.de/veroeffentlichungen/literatursuche/detailansicht/literatur/34996-standardisierte-online-erhebung-mit-jugendlichen-und-jungen-erwachsenen-von-16-bis-27-jahren.html
- IU Internationale Hochschule (2024). Demokratie und Bildung. Kurzstudie 2024. unter: https://static.iu.de/studies/demokratie-und-bildung.pdf
- Kiehl, Carolin; Schnerch, Barbara (2018): Demokratiekompetenzen auf dem Prüfstand – Schule als Erfahrungsraum für Mündigkeit und Ambiguitätstoleranz? In: Wissen schafft Demokratie. Band 3: Gesellschaftlicher Zusammenhalt. Schriftenreihe des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft. Jena, S. 111-120.