Gutwillige Politiker führen die Ruhrpolen gern als Beispiel an, an dem sich zeige, dass es in Deutschland eine Tradition des Willkommens gegenüber Migranten gebe. Leider irren sich die Politiker. Betrachtet man die Sache vom Anfang her, stellt sie sich als Modellfall für misslungene Integration heraus, an dem zu lernen ist, wie Aufnahmege- sellschaft und Zuwanderer sich nicht verhalten sollten, damit der Zusammenhalt einer modernen Migrationsgesellschaft gelingen kann.
Ein paar Daten
Zwischen 1870 und 1914 nahm die Kohleproduktion im Ruhrbergbau um das Zehnfa- che zu. Der wachsende Bedarf an Arbeitskräften wurde durch die Zuwanderung von Menschen gedeckt, die zwar aus den wirtschaftlich rückständigen Ostprovinzen des Deutschen Reichs kamen, ihrer kulturellen Identität nach aber Polen waren.
Wie bei der Arbeitsmigration in die Bundesrepublik Deutschland in den 1960er Jahren zogen anfangs hauptsächlich polnische Männer ins Ruhrgebiet, die aber rasch ihre Fa- milien nachkommen ließen. Vor dem Ersten Weltkrieg lebte etwa eine halbe Million Po- len im Ruhrgebiet. Die große Mehrheit von ihnen wollte nicht in die ländliche Heimat im Osten zurückkehren, sondern sah in der dynamischen Industrieregion an Rhein und Ruhr ihre Zukunft.
Die meisten Ruhrpolen sind aber nicht im deutschen Revier geblieben. Ende der 1920er Jahre war die Zahl der Menschen mit polnischem Migrationshintergrund dort auf 150.000 gesunken. Nur etwa 40.000 Abwanderer sind in den wieder errichteten polni- schen Staat zurückgekehrt, über 300.000, sind in die nordfranzösischen Industrieregi- onen weitergezogen. 1922 beklagte sich der für Dortmund zuständige Regierungsprä- sident darüber, dass das plötzliche Fehlen der polnischen Hauer die Kohleförderung beeinträchtigte. Wie stark die Abwanderung der Ruhrpolen nach Frankreich war, zeigt sich u. a. daran, dass die beiden in Bochum und Herne erscheinenden polnischspra- chigen Zeitungen „Viarus Polski“ und „Narodowiec“ ihren Lesern nach Lille und Lens hinterherzogen, wo sie noch bis in die 1970er Jahre existierten.
Beispiel für Integration?
Die massive Abwanderung einer ganzen Bevölkerungsgruppe mit Migrationshinter- grund kann kaum als Beispiel für gelungene Integration gelten. Auch in einer Einwan- derungsgesellschaft, deren Zusammenhalt nicht auf ethnischer Gleichartigkeit ihrer Mitglieder, sondern auf gemeinsamer Anerkennung allgemeiner Werte (Verfassung, Menschenrechte), auf Verständigung und wechselseitigem Respekt beruht, setzt Zu- sammenhalt den Willen zum Dableiben voraus. Der erfordert ein hinreichendes Maß an Wohlbeinden dort, wo man lebt. Das war bei den Ruhrpolen offensichtlich nicht gegeben.
Keine Frage: Heute sind die Nachfahren der in Deutschland gebliebenen Ruhrpolen al- lenfalls noch an ihren slawischen Familiennamen zu erkennen. Von der Gegenwart aus betrachtet sind die Ruhrpolen ein Beispiel für vollständige Assimilation. Sie ist in die- sem Fall nicht nur durch die lange Verweildauer, sondern auch durch die Selbstauswahl der in den 1920er Jahren Bleibewilligen und vor allem durch den besonders starken Anpassungsdruck des NS-Regimes zu erklären, unter dem aktive Mitglieder polnischer Vereine mit Verfolgung und sogar Lagerhaft rechnen mussten.Betrachtet man sie dage- gen vom Anfang her und legt einen interkulturellen Begriff von Integration zugrunde, der von Migranten mitgebrachte kulturelle Identitäten respektiert, dann sind die Ruhr- polen eben ein Modellfall gescheiterter Integration.
Historische Faktoren des Scheiterns
Eine günstige Voraussetzung für Integration war der Umstand, dass 99 Prozent der pol- nischen Migranten bereits mit der deutschen Staatsbürgerschaft zugewandert waren, so dass ihrer Partizipation an der Politik, der Arbeitswelt, der Sozialversicherung usw. von Beginn an rechtlich nicht mehr im Wege stand als bei den einheimischen Deut- schen. Ungünstig war dagegen, dass sich in der langen Phase der durch Österreich, Preußen und Russland unterdrückten Staatlichkeit Polens ein polnischer Nationalis- mus entwickelt hatte, der kulturelle Identitätsmerkmale wie Sprache, religiöse Sym- bole oder Geschichte betonte. Diese beiden Faktoren mögen sich im Vergleich zu den Chancen interkultureller Integration heute etwa ausgeglichen haben.
Für einen anderen Faktor gilt das nicht. Während Deutschland heute ein prosperieren- des Land ist, war die Weimarer Republik wirtschaftlich schwach. Das galt besonders für das Ruhrgebiet, wo französische Grubensyndikate 1921 sogar ein Anwerbebüro für Bergleute eingerichtet hatten.
Allein damit kann das Scheitern der Ruhrpolen-Integration aber nicht erklärt werden. Die Abwanderung setzte sich auch fort, als sich die ökonomische Situation Mitte der 1920er Jahre besserte. Vor allem aber hatte es auch schon vor dem Ersten Weltkrieg eine Abwanderung polnischer Migrantenfamilien in das nordfranzösische Industrie- gebiet gegeben.
Die deutsche Seite: Germanisierungsdruck und Ignoranz
Das deutsche Kaiserreich war ein Produkt der Epoche des Nationalismus. Mit seinem Selbstverständnis als ethnisch homogene Kulturnation hängt zusammen, dass nicht erst das NS-Regime, sondern auch schon das wilhelminische Deutschland die ins Ruhrgebiet zugewanderten Polen einem starken Germanisierungsdruck ausgesetzt hat. Die- ser „Hakatismus“ war darauf gerichtet, die kulturellen Besonderheiten der Polen zu unterdrücken. 1896 hatte der Oberpräsident der Provinz Westfalen das Programm des Hakatismus so formuliert: „Scharfe Überwachung der Agitation und Vereinstätigkeit, Fernhaltung nationalpolnischer Geistlicher, Beschränkung des Gebrauchs der polni- schen Sprache in öffentlichen Versammlungen, ausschließlich deutsche Schulbildung, das werden die Mittel sein, mit denen das Polentum im Westen der Monarchie der Ger- manisierung zugeführt wird.“
Zum ausdrücklich formulierten Hakatismus kam, dass die Ruhrpolen sogar in Orten von der Lokalpresse nicht zur Kenntnis genommen wurden, wo sie wie in Reckling- hausen ein Viertel der Bevölkerung und fast die gesamte Belegschaft mancher Zechen stellten. Der „Recklinghäuser Zeitung“ war nur durch die slawischen Namen in den Zi- vilstandsmitteilungen der Standesämter und in Berichten über Straftaten zu entneh- men, dass es Polen in dieser Stadt gab.
Assimilationsdruck und diskriminierende Ignoranz können nicht integrationsför- dernd sein, weil sie bei Migranten Obstruktion hervorrufen müssen.
Die polnische Seite: ethnozentrische Widerborstigkeit
Das wird deutlich, wenn man sich in der damals im Ruhrgebiet verbreiteten polnisch- sprachigen Presse umschaut, aus der die unter den Ruhrpolen herrschende Mentalität ersichtlich ist. 1913 erschien z. B. im „Viarus Polski“ ein Text, der den Lesern unter dem Titel „Zehn Gebote für Polen“ befahl: „Ich bin Polen, dein Vaterland. Du sollst kein an- deres Vaterland haben neben mir. Beschmutze nicht die Muttersprache durch Anwen- dung fremder Worte und Redensarten, denn die polnische Sprache ist reich wie keine andere auf der Welt. Du sollst mir meine Kinder nicht stehlen. Verbiete ihnen, unterein- ander Deutsch zu sprechen und sprich niemals selbst mit ihnen Deutsch. Du sollst nicht begehren ein Weib fremder Nationalität, sondern dich nur mit einer Polin verheiraten.“
Es kann nicht integrationsfördernd sein, wenn Medien für Migranten ihrem Publikum empfehlen, sich in kulturelle Gettos zurückzuziehen, und die Aufnahmegesellschaft ignorieren oder madig machen.
Assimilationsdruck der Aufnahmegesellschaft auf der einen und ethnozentrische Sub- kultur von Einwanderern auf der anderen Seite schaukeln sich wechselseitig auf. Des- halb konnte interkulturelle Integration im Falle der Ruhrpolen nicht gelingen. Men- schen und Medien auf beiden Seiten der gegenwärtigen Migrationsgesellschaft können aus diesen Fehlern lernen.
Literatur:
Kleßmann, Christoph (1978): Polnische Bergarbeiter im Ruhrgebiet 1870-1945. Soziale Integration und nationale Subkultur einer
Minderheit in der deutschen Industriegesellschaft. Göttingen.
Murzynowska, Krystyna (1979): Die polnischen Erwerbsauswanderer im Ruhrgebiet während der Jahre 1880-1914. Dortmund.
Pöttker, Horst/Bader, Harald (2009): Gescheiterte Integration? Polnische Migration und Presse im Ruhrgebiet vor 1914. In: Geiß-
ler, Rainer/Pöttker, Horst (Hrsg.): Massenmedien und Integration ethnischer Minderheiten in Deutschland. Bd. 2: Forschungs-
befunde. Bielefeld, S. 15-46.