Seit einiger Zeit rücken Lehrkräfte mit Migrationserfahrung in bildungspolitischen Debatten des deutschsprachigen Raumes medial vermehrt in den Vordergrund. Ausgangspunkt solcher Debatten ist das Ungleichverhältnis zwischen dem Anteil von Lehrer_innen mit Migrationserfahrung und d em Anteil der Schüler_innen mit Migrationserfahrung in den Schulen. Damit einher geht die Problematisierung benachteiligter Kinder und Jugendlicher mit Migrationserfahrung mitsamt deren tatsächlichen und vermeintlichen schulischen Schwierigkeiten.
In diesem Kontext haben in den letzten Jahren international vergleichende Studien allen voran die PISA Studie stets den Blick auf die Leistungsdifferenzen und defizite, darin inbegriffen die Benachteiligungen und Schlechterstellung von Schüler_innen mit Migrationserfahrung im Vergleich zu jenen ohne Migrationserfahrung, gelenkt. Die Integrations und Bildungspolitik ist stark bemüht, diesem Missverhältnis entgegenzuwirken und plädiert daher vermehrt für mehr Heterogenität im Lehrer_innenzimmer durch eine verstärkte Präsenz von Lehrer_innen mit Migrationserfahrung. Das Motto dabei lautet: Vielfalt im Klassenzimmer setzt auch Vielfalt im Lehrer_innenzimmer voraus. Im Zuge solcher bildungspolitischer Debatten wird Lehrer_innen mit Migrationserfahrung ein enormer Ressourcenreichtum zugesprochen. Demzufolge sollten das Potential und die Effektivität ihrer Kompetenzen nicht unterschätzt werden (vgl. Rotter 2013: 7).
Darüber hinaus werden vielfältige, ineinandergreifende Erwartungen an Lehrer_innen mit Migrationserfahrung gestellt. Aufgrund ihrer er und gelebten Migrationserfahrung und die ihnen auf dieser Grundlage zugesprochenen biografisch bedingten Kompetenzen sollen Lehrer_innen mit Migrationserfahrung als Kulturvermittler_innen und Vorbilder zu einer besseren Integration beitragen (vgl. Rotter 2012: 204).
Sie werden von bildungspolitischer Seite immer wieder stark umworben und in der einschlägigen Forschungsliteratur als die neuen „Hoffnungsträger“, „Brückenbauer“ und „Krisenlöser” im Schulsystem gesehen (vgl. Strasser & Steber 2010; Rotter 2013; Georgi/Ackermann/Karakaș 2011; Massumi 2014), wobei ihrer Präsenz im Klassenzimmer eine enorme Effektivität auf mehreren Ebenen zugesprochen wird.1
Diese Debatte scheint seit den 1980er Jahren in Österreich an Aktualität nicht zu verlieren. Im Gegenteil: Heute scheint sie wichtiger zu sein denn je (vgl. Rotter 2013: 7ff.). Dies liegt unter anderem daran, dass jede_r vierte Volksschüler_in in Österreich eine sogenannte Migrationserfahrung hat wobei an dieser Stelle be tont werden sollte, dass in diesem Zusammenhang selten vermerkt wird, dass nicht alle Schüler_innen, die eine Migrationserfahrung aufweisen, auch mehrsprachig sind und nicht alle Schüler_innen, die mehrsprachig sind, auch eine Migrationserfahrung aufweisen und diese beiden Gruppen folglich zu unterscheiden sind. Es gilt jedoch festzuhalten, dass etwa 40 % der Volksschüler_innen in Wien und anderen dicht besiedelten Gebieten Österreichs eine andere Muttersprache als Deutsch haben (vgl. Nationaler Bildungsber icht Österreich 2018: 44).
Des Weiteren sei an dieser Stelle hervorzuheben, dass über den tatsächlichen Anteil von Schüler_innen, aber auch über den Anteil von unterrichtenden Lehrer_innen mit Migrationserfahrung an österreichischen Schulen nur wenig beka nnt ist. Grund hierfür ist, dass es kaum aktuelle Zahlen und Daten bzw. verlässliche empirische Untersuchungen gibt, die Aussagekraft über das Verhältnis des Anteils von Lehrer_innen und Schüler_innen mit Migrationserfahrung an österreichischen Schulen Aus kunft geben. Hinzu kommt, dass, ähnlich wie in Deutschland, aus rechtlichen Bedenken bei den Lehrkräften keine Merkmale ihrer ethnischen Zugehörigkeit und damit ihre Migrationserfahrung erhoben werden dürfen (vgl. Karakaşoğlu 2010: 122).
Umso wichtiger ist es, auf dieses Thema hinzuweisen und darauf aufmerksam zu machen, dass, während die Heterogenität und damit die spezifischen Probleme wie etwa der mangelnde Bildungserfolg und die sprachlichen Defizite in den Klassenzimmern anwachsen, in einer Schulklasse nur selten Lehrer_innen mit Migrationserfahrung unterrichten. In der Realität gibt es somit zunehmend das multikulturelle Klassenzimmer, dem gegenüber ein „monokultureller und monolingualer“ Lehrkörper steht (vgl. Gogolin 2008: 30).
Forderungen und Erwartungen seitens der Bildungspolitik
In zahlreichen Studien, wie etwa in der PISA Studie, wird auf die Lernschwierigkeiten und Lerndefizite von Schüler_innen mit Migrationserfahrung hingewiesen. Daraus resultierend werden seit Anfang der 2000er große Hoffnu ngen auf Lehrer_innen mit Migrationserfahrung als „Problemlöser_innen“ in den Schulen gesetzt und unterschiedliche Forderungen und Erwartungen an diese formuliert:
Lehrerinnen und Lehrer mit einem Migrationshintergrund stellen (…) eine große Bereicherung für unsere Schule dar. Mit ihrem oftmals vielgestaltigen Bildungsgang, der eigenen Überwindung sprachlicher Hürden als Voraussetzungen für eine erfolgreiche Lehramtsausbildung und ihrem besonderen kulturellen Hintergrund bringen sie Erfahrunge n ein, von denen alle im Schulleben Beteiligten in vielfältiger Weise profitieren können. Durch ihre besonderen kulturellen und sprachlichen Kompetenzen können sie allen Schülerinnen und Schülern erweiterte Perspektiven und neue Erfahrungen vermitteln, sie können bei schulischen Schwierigkeiten den Zugang zu Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund eröffnen und das Gespräch zwischen Schule und Elternhaus erleichtern. Damit können diese Lehrerinnen und Lehrer einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass ihre Schule und die darin Unterrichtenden ihren Erziehungs und Bildungsauftrag erfolgreich wahrnehmen. (Rau 2008:4)
Lehrer_innen mit Migrationserfahrung werden Kompetenzen wie Mehrsprachigkeit, diagnostische Fähigkeiten sowie Empathiefähigkeit zuge sprochen. Sie sollen als Vorbilder und Integrationshelfer_innen fungieren, bei der Vermittlung des Deutschen und bei der Elternarbeit eine große Stütze im Schulsystem sein und dazu beitragen, dass die Bildungschancen von Schüler_innen mit Migrationserfahru ng verbessert werden. Durch die erhoffte Heterogenität und die gewünschte Vielfalt im Lehrer_innenzimmer wird eine positive Wirkung auf Schüler_innen mit Migrationserfahrung erwartet. Damit sollen die vorherrschenden Leistungs und Integrationsprobleme von Schüler_innen mit Migrationserfahrung gelöst und die „Bildungsverlierer“ im Schulsystem bei ihrer Integration unterstützt werden (vgl. Akbaba/Bräu/Zimmer 2013: 40).
Forderungen für mehr Präsenz von Lehrer_innen mit Migrationserfahrung an Schulen werden in der Bildungspolitik wie Pingpongbälle hin und her formuliert. Es scheint so, als wären die Bildungspolitiker_innen aus ihrem „Dornröschenschlaf“ erwacht und könnten nun die zahlreichen Probleme von Schüler_innen mit Migrationserfahrung schlagartig mit de r Hilfe von Lehrer_innen mit Migrationserfahrung bzw. durch die ihnen zugesprochenen Ressourcen lösen. Damit geht die Vermutung einher, dass Lehrer_innen mit Migrationserfahrung über ein besonderes Potenzial im Umgang mit migrationsbedingter Heterogenität verfügen, wovon sowohl die Schüler_innen mit Migrationserfahrung als auch deren Eltern stark profitieren würden (vgl. Mantel/Leutwyler 2013: 3). Die erhofften Kompetenzen von Lehrer_innen mit Migrationserfahrung werden auf ihre eigene Migrationsgeschichte zurückgeführt.
So sollen Lehrer_innen mit Migrationserfahrung, aufgrund ihrer Erfahrungen eine „diffuse Sozialbeziehung” (Rotter 2013: 9), eine Beziehung, die auf ähnlichen Erfahrungen beruht, aufbauen und damit eine besondere Nähe zu Schüler_innen mit M igrationserfahrung herstellen können. Durch eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden soll eine positive Wirkung der Lehrer_innen auf die Schüler_innen erfolgen, die wiederum zu einer Stärkung der Leistungsmotivation derselben führt u nd ihnen hilft, berufliche Perspektiven aufzuzeigen (vgl. Rotter 2013: 9). Außerdem wird angenommen, dass Lehrer_innen mit Migrationserfahrung als Vorbilder und wird angenommen, dass Lehrer_innen mit Migrationserfahrung als Vorbilder und Identifikationspersonen sowie als „Brückenbauer” mit spezifischen Erfahrungen und Identifikationspersonen sowie als „Brückenbauer” mit spezifischen Erfahrungen und SprachkenntniSprachkenntnissen die Integration von Schüler_innen mit ausländischen Wurzeln erleichtern (vgl. ssen die Integration von Schüler_innen mit ausländischen Wurzeln erleichtern (vgl. Niedersächsischer Landtag, 16. Wahlperiode, Drucksache16/971, 2009:1). Niedersächsischer Landtag, 16. Wahlperiode, Drucksache16/971, 2009:1).
Wie zusammenfassend festgestellt werden kann, wird von Lehrer_innen mit Migrationserfahrung ein besonders hohes Engagement für migrationsspezifische Schulangelegenheiten gefordert und davon ausgegangen, dass sich diese durch ihre eigene Migrationserfahrung sehr gut in die Situation von Schüler_innen mit Migrationserfahrung hineinversetzen können (vgl. Karakaşoğlu/Wojciechowicz/Gruhn 2013: 70). Zu wenig wird allerdings bedacht, wie Lehrer_innen mit Migrationserfahrung ihre eigene Rolle im Schulkontext sehen und dass der ihnen zugeschriebene Kompetenzen und Ressourcenreichtum eben faktisch Folgendes ist: E twas, das von außen an sie herangetragen und ihnen zugeschrieben wird. Dass eine solche Zuschreibung keineswegs unproblematisch ist, sollte stets im Hinterkopf behalten und kritisch reflektiert werden.2
Bibliographie
Akbaba, Y./Bräu, K./Zimmer, M. (2013): Erwartungen und Zuschreibungen Eine Analyse und kritische Reflexion der bildungspolitischen Debatte zu Lehrer/innen mit Migrationshintergrund. In: Bräu, K./Georgi, V. B./Karakasoglu, Y./Rotter, C. (Hrsg.): Lehrerinnen und Lehrer mit Migrationshintergrund: Zur Relevanz eines Merkmals in Theorie, Empirie und Praxis. Münster: Waxmann. S. 37 57.
Georgi, V.B./Ackermann, L./ Karakas, N. (2011): Vielfalt im Lehrerzimmer. Selbstverständnis und schulische Integration von Lehrenden mit Migrationshintergrund in Deutschland. Münster: Waxmann.
Gogolin, I. (2008). Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. 2. Aufl., Münster: Waxmann.
Karakaşoğlu Y. (2010): Lehrer, Lehrerinnen und Lehramtsstudierende mit Migrationshintergrund. Hoffnungs träger der interkulturellen Öffnung von Schule. In: Neumann et. al. (Hrsg.): Schule mit Migrationshintergrund. Münster: Waxmann. S. 121 135.
Karakaşoğlu, Y./ Wojciechowicz, A./ Gruhn, M. (2013): Zum Stellenwert von Lehrerinnen und Lehrern mit Migrationshintergrund im Rahmen interkultureller Schulentwicklungsprozesse. In: Bräu et. al.: Lehrerinnen und Lehrer mit Migrationshintergrund: Zur Relevanz eines Merkmals in Theorie, Empirie und Praxis. Münster: Waxmann. S. 69 83.
Mantel, C./Leutwyler, B. (2013): Lehrpersonen mit Migrationshintergrund: Eine kritische Synthese der Literatur. Beiträge zur Lehrerinnen und Lehrerbildung 31 (2) S. 2 14.
Massumi, M. (2014): Diversität in der Lehrerinnen und Lehrerbildung Zur Bedeutung von Lehrkräften mit Migrationsh intergrund. In: Haushalt & Bildung. Heft 1. S. 87 95.
Rotter, C. (2012): Lehrkräfte mit Migrationshintergrund. Individuelle Umgangsweisen mit bildungspolitischen Erwartungen. In: Zeitschrift für Pädagogik, Heft 2, Jg. 58. Weinheim: Beltz. S. 204 221.
Rotter, C. (2013): Der Migrationshintergrund im Vordergrund Lehrkräfte mit Migrationshintergrund aus einer professionstheoretischen Perspektive In: Journal für LehrerInnenbildung: jlb (2013), Heft 3, S. 7 14.
Strasser, J./ Steber, C. (2010): Lehrerinnen und Lehrer mit Migrationshintergrund Eine empirische Reflexion einer bildungspolitischen Forderung. In: Hagedorn, J./Schurt, V./ Steber, C./ Waburg, W. (Hrsg.): Ethnizität, Geschlecht, Familie und Schule. Heterogenität als erziehungswissenschaftliche Herau sforderung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 97 126.
Onlinequellen
Nationaler Bildungsbericht 2018. Verfügbar unter: https://www.bifie.at/wp content/uploads/2019/03/NBB_2018_Band1_Indikator_A.pdf (letzter Zugriff: 08.11.2020)
Niedersächsischer Landtag 16. Wahlperiode. Antrag der SPD 18.02.2009. (Drucksache 16/971) S. 1 2 Verfügbar unter: https://www.landtag niedersachsen.de/drucksachen/drucksachen_16_2500/0501 1000/16 0971.pdf (letzter Zugriff:
Rau, H. (2008): Grußwort des Ministers für Kultus, Jugend und Sport des Landes Baden Württemberg. In: Landeshauptstadt Stuttgart. Stabsabteilung für Integrationspolitik (Hrsg.): Migranten machen Schule! Vielfalt im Klassenzimmer Vielfalt im Lehrerzimmer. Stuttgart, S. 2 3. Verfügbar unter: https://service.stuttgart.de/img/mdb/publ/15847/28654.pdf letzter Zugriff: 09.11.2020)
- Ebene 1: Lehrer_innen mit Migra tionserfahrung/Schüler_innen mit Migrationserfahrung, Ebene 2: Lehrer_innen mit Migrationserfahrung/ Eltern von Schüler_innen mit Migrationserfahrung, Ebene 3: Lehrer_innen mit Migrationserfahrung/ Schüler_innen ohne Migrationserfahrung, Ebene 4: Lehrer_in nen mit Migrationserfahrung/Lehrer_innen ohne Migrationserfahrung und Schule. ↩
- Eine Analyse und kritische Reflexion der Erwartungen und Zuschreibungen an Lehrer_innen mit Migrationserfahrung erfolgte in der letzten Ausgabe des vorliegenden Magazins. ↩