Prof. Dr. Haci-Halil Uslucan – Universität Duisburg-Essen
Die Relevanz von Werten
Warum ist der Blick auf die Wertvorstellungen von Menschen wichtig, um ihre Lebenswelten zu verstehen? Doch bevor diese Frage geklärt ist, gilt es, ein Vorverständnis von Werten zu haben. Dies will ich mit einer Fokussierung auf die psychologische Forschung geben: Demnach bilden Werte – noch völlig von ihrer konkreten inhaltlichen Fassung abstrahiert – allgemein die Grundlage alltäglichen Handelns von Individuen in einer Gesellschaft; und sie dienen dem Einzelnen als ein Standard/als eine Orientierung, wodurch insbesondere bei der Entscheidung zwischen verschiedenen Handlungsalternativen eine Sicherheit vermittelt wird (vgl. S. Schwartz 1992). Als allgemein geteilte Vorstellungen des Gewünschten sind Werte aber auch konstitutive Bestandteile von Gesellschaften und Kulturen. Sie bilden also das, was zumindest eine große Vielzahl von Personen einer Gesellschaft als erstrebenswert hält.
Werte werden gewöhnlich im Prozess familialer und schulischer Sozialisation von einer Generation an die andere weitergegeben, es findet also eine Wertetransmission statt.
Diese Transmission – die Frage nach der Intensität der Weitergabe der Herkunftskultur an die nachfolgenden Generationen – kann bei einem Wechsel zwischen zwei Gesellschaften bzw. Kulturen (d. h. unter Migrationsbedingungen) jedoch prekär werden. Denn nun bildet die Wertetransmission sowohl einen zentralen Aspekt des Erhalts kultureller Bezüge als auch eine markante Sollbruchstelle, an der kultureller Wandel bzw. eine Entfernung von eigenkulturellen Standards einsetzt.
Denkbar sind hier zwei Ausgänge: 1. MigrantInnen könnten geneigt sein, die Werte, die zwar im Herkunftsland einst funktional bzw. sinnvoll waren, sich aber im neuen Lebenskontext nicht mehr als relevant erweisen, abzulegen und sich bewusst von ihnen zu distanzieren. 2. Sie könnten aufgrund des Gefühls der Bedrohung eigenkultureller Orientierungsmuster in einer Minderheitensituation noch stärker – ungeachtet ihrer Funktionalität im Alltag – geneigt sein, die eigenen Werte zu stilisieren bzw. hervorzuheben und sie durch geeignete pädagogische Aktivitäten an die nachwachsende Generation weiterzugeben (vgl. Mchitarjan und Reisenzein 2010, S. 424).
In einer methodisch äußerst interessanten Studie sind Pippa Norris und Ronald Inglehart (2012) der Frage nachgegangen, wie sich Wertauffassungen von MuslimInnen aus unterschiedlichen Herkunftsländern (z. B. aus Pakistan, Iran und Türkei) nach der Immigration in westliche Gesellschaften (z. B. nach Großbritannien, Frankreich, Niederlande) ändern. Statt der Annahme einer Inkompatibilität westlicher Werte mit islamischen Werten wird dort gezeigt, dass ImmigrantInnen aus diesen Ländern in ihrem Wertehaushalt sich sowohl von den Personen aus dem Herkunftsland als auch von der aufnehmenden Gesellschaft unterscheiden: Ihre Werte liegen, in einer quantifizierten Form, etwa in der Mitte zwischen Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft. Gleichwohl die größten Unterschiede in der Bedeutung der Religiosität, der Geschlechterrollen und der Haltung zu Sexualnormen bestehen (Werte, die in der Sozialisation sehr früh erworben und änderungsresistenter sind, da sie einen zentralen Part der individuellen Identität ausmachen), weisen die Autoren explizit die Annahme einer Integrationsresistenz von Muslimen in westliche Gesellschaften zurück – weil insbesondere in den die Demokratie betreffenden Werten eine große Nähe besteht (vgl. Norris und Inglehart 2012, S. 240). Ein weiterer zentraler Befund der Studie ist die Erkenntnis, dass das Leben in einem konkreten soziopolitischem Kontext für die Wertausprägung bedeutsamer ist als bspw. spezifische Formen der Religiosität innerhalb der jeweiligen Gesellschaft: So waren die Wertedifferenzen zwischen Hindus und MuslimInnen in Indien oder ChristInnen und MuslimInnen in Nigeria geringer als die bspw. zwischen MuslimInnen in Indien und MuslimInnen in Nigeria (Norris und Inglehart 2012, S. 234). Solche Befunde können dazu beitragen, die oft polemisch geführten Debatten, ob bspw. der Islam zu Deutschland „gehört“ oder nicht, zu versachlichen und sie von der normativen auf eine empirische Ebene zu stellen.
Wertauffassungen können sich jedoch nicht nur in Abhängigkeit des kulturellen Kontextes, sondern auch nach biografischen und lebensgeschichtlichen Zusammenhängen unterscheiden. Bereits in früheren Studien sind vier wesentliche Merkmale der unterschiedlichen Wertorientierungen festgehalten worden: Alter, Geschlecht, Persönlichkeitsmerkmale und kultureller Kontext (vgl. J. Musek 1990, S. 36 ff.). So belegen kulturvergleichende Untersuchungen eindrücklich, dass jüngere Menschen vielfach eher Werte favorisieren, die die Wichtigkeit von Offenheit, Stimulation und Hedonismus betonen, ältere dagegen eher an Traditionen, Konformität und Sicherheit hängen. Insofern ist eine Spannung in den Wertauffassungen der Generationen ein kulturübergreifend immanentes Phänomen und nicht allein, bzw. nicht nur als Folge unterschiedlicher Akkulturationsorientierungen von MigrantInnen zu verstehen. Dennoch zeigt sich die Generationenspannung bei Migrantenfamilien oft verschärft, weil Eltern in ihrem Selbstverständnis vielfach eine kollektivistische Wertbindung aufweisen, die Kinder aber im Prozess ihrer Akkulturation deutlich intensiver mit individualistischen Werten konfrontiert werden, wodurch sie den Assimilations- und Akkulturationsdruck deutlich stärker spüren.
Kritisch ist zu bemerken, dass eine kulturalistische Argumentation nur wenig Erklärungskraft hat, weil bei ihr eine Vorstellung von Kultur dominant ist, bei der es ein recht starres Verhältnis von Individuen zu ihren Zugehörigkeiten gibt und bei der die Eigendynamik bzw. die Widerständigkeit von Subjekten kaum berücksichtigt werden, es also nicht vorgesehen ist, dass Individuen auch explizit gegen „ihre“ kulturellen Vorgaben handeln können. Wenn also Alltagshandlungen von MigrantInnen stets mit einer starren Berufung auf deren Kultur begründet werden, so unterschlägt dieses „konservative“ Argument gerade das Faktum der Prozesshaftigkeit, des Gewordenseins und der Veränderbarkeit von Kultur. Deshalb sollten bei aller Treue zur Empirie kulturpsychologische Befunde nie „in Reinform“ als eine Matrix individuellen Handelns gelesen werden; vielmehr gilt es, die stets subjektiv einzigartige Ausgangslage des Handelns mit zu berücksichtigen. Hierzu haben bereits vor längerer Zeit Leiprecht und Lutz (2006) die Intersektionalitätsanalyse als eine grundlegende Strategie der Reflexion vorgeschlagen. Dabei geht es im Wesentlichen, den gleichzeitigen Einfluss von Geschlecht, Ethnie, Schicht, Nationalität, sexueller Orientierung etc. zu untersuchen, um so falsche Homogenisierungen zu vermeiden. Es gilt also, stets mehr als nur eine Differenzlinie in den Blick zu nehmen; denn soziale Gruppen sind kaum homogen, sondern vielfach heterogen. Nur genaue Kenntnisse über konkrete Menschen – ihre Lebenslage und Situation, ihre subjektiven Begründungsmuster – erlauben Ableitungen aus den Makrostrukturen.
Wertpräferenzen im interethnischen Vergleich
Die folgende empirische Erhebung aus dem Jahre 2004 mit einer ethnisch-deutschen Stichprobe, einer Stichprobe türkischer StaatsbürgerInnen in der Türkei und einer türkeistämmigen MigrantInnenstichprobe in Berlin versucht einen Überblick über die Ausprägungen einiger ausgewählter Wertpräferenzen zu geben. Dabei werden sowohl die Übereinstimmungen als auch die Unterschiede in den Wertauffassungen im Vordergrund stehen. So kann näherungsweise eine empirische Grundlage für die im Alltagsdiskurs vielfach unreflektiert unterstellte Wertedivergenz zwischen ethnischen Deutschen und türkeistämmigen MigrantInnen als Quelle von Missverständnissen und Konflikten gegeben werden. Natürlich lassen sich dadurch Konflikte weder erklären noch vorhersagen (vgl. H.-H. Uslucan 2008, S. 287). Mittels eines standardisierten Fragebogens wurden Daten von insgesamt 766 ProbandInnen im Alter von 14 bis 66 Jahren (M = 28.71 Jahre; SD = 11.66 Jahre) in Kayseri, Ankara, Berlin und Magdeburg erhoben. Die Befragung war anonym und freiwillig. Von den TeilnehmerInnen waren 421 weiblich (55 %) und 345 männlich (45 %).
Den ProbandInnen wurde eine Vielzahl von Werten, die in der psychologischen Forschung als universal unterstellt werden, zur Beurteilung ihrer subjektiven Relevanz vorgegeben. Auf einer Skala von 1 bis 7 sollten diese dann eingeschätzt werden.
In der Tabelle werden die Mittelwerte (M) und die Standardabweichungen (SD) bei einer Auswahl von Werten in den jeweiligen Untergruppen berichtet.
Tabelle Wertpräferenzen in den Untergruppen
Werte | Ethnische Deutsche (N=231) | Türkeistämmige MigrantInnen
(N=212) |
Türkische Staats-bürgerInnen, in der Türkei (N=341) |
M (SD) | M (SD) | M (SD) | |
Innere Harmonie | 5,90 (1,17) | 5,87 (1,42) | 5,68 (1,52) |
Soziale Ordnung | 4,43 (1,45) | 5,57 (1,33) | 5,48 (1,27) |
Freiheit | 5,79 (1,30) | 5,94 (1,38) | 5,86 (1,46) |
Soziale Macht | 1,54 (1,71) | 2,61 (2,50) | 3,53 (2,23) |
Höflichkeit | 4,80 (1,40) | 5,47 (1,48) | 5,14 (1,71) |
Anregendes Leben | 5,28 (1,31) | 3,52 (2,35) | 4,15 (2,14) |
Reichtum | 3,00 (1,53) | 3,55 (2,10) | 3,99 (1,96) |
Nationale Sicherheit | 4,26 (1,96) | 5,25 (2,20) | 5,67 (1,78) |
Kreativität | 4,74 (1,58) | 5,18 (1,79) | 5,07 (1,78) |
Welt in Frieden | 5,58 (1,66) | 6,36 (1,20) | 6,02 (1,42) |
Familiäre Sicherheit | 6,32 (1,04) | 6,40 (1,09) | 6,22 (1,33) |
Spiritualität | 1,36 (2,17) | 4,22 (2,42) | 4,45 (2,31) |
Freundschaft | 5,87 (1,41) | 5,97 (1,25) | 6,10 (1,24) |
Einheit mit der Natur | 3,90 (1,85) | 4,73 (1,93) | 4,48 (1,98) |
Abwechslungsreiches Leben | 4,81 (1,52) | 4,28 (1,90) | 4,44 (2,01) |
Autorität | 1,73 (1,78) | 1,68 (2,35) | 2,27 (2,39) |
Eine Welt voller schöner Dinge | 4,01 (1,73) | 5,42 (1,57) | 4,97 (1,77) |
Achtung vor der Tradition | 2,76 (1,66) | 4,68 (2,12) | 4,46 (2,17) |
Betrachtet man die Ausprägungen der hier vorgestellten Werte, so wird klar, dass entgegen den oft feuilletonistischen Diskussionen um eine Parallel-Wertewelt der MigrantInnen die Empirie etwas anderes nahelegt: Denn in vielen Wertauffassungen unterscheiden sich türkeistämmige MigrantInnen, in der Türkei Lebende und ethnische Deutsche kaum voneinander: So sind für alle drei Gruppen Familie bzw. familiäre Sicherheit, Freiheit und Freundschaft die wichtigsten Werte. Auch bei der Frage, was ihnen eher unwichtig ist, lässt sich zumindest im Hinblick auf die geringe Bedeutung der Autorität (im Sinne von: Macht über andere haben) eine Übereinstimmung finden. Man kann also sagen: Zwischen ethnischen Deutschen und Türkeistämmigen existieren sowohl Übereinstimmungen als auch signifikante Wertdifferenzen. Interessant ist, dass in einigen Wertvorstellungen türkeistämmige MigrantInnen den ethnischen Deutschen ähnlicher sind als den türkischen StaatsbürgerInnen in der Türkei, d. h. Migration zu tatsächlichen Werteannäherungen geführt hat; bei einer großen Anzahl von Werten erweist sich jedoch eher die kulturelle Herkunft als ausschlaggebender.
Die stärksten Unterschiede sind bei den Werten „Tradition“, „Hedonismus“ (anregendes Leben) und „Spiritualität“ zu sehen – also Effekte, die in der empirischen Forschung als starke Effekte zu werten sind.
Literaturverzeichnis:
Leiprecht, Rudolf, und Helma Lutz. 2006. Intersektionalität im Klassenzimmer: Ethnizität, Klasse und Geschlecht. In Schule in der Einwanderungsgesellschaft. Ein Handbuch, hrsg. von Rudolf Leiprecht und Anne Kerber, 218 -234. Schwalbach/Ts: Wochenschau Verlag.
Mchitarjan, Irina, und Rolf Reisenzein. 2010. Kulturtransmission bei Minderheiten: Ein Theorieentwurf. Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 30 (4): 421 – 435.
Musek, Janek. 1990. Human values in the context of age, gender and personality. Psychologische Beiträge 32 (1-2): 36 – 44.
Norris, Pippa, und Ronald F. Inglehart. 2012. Muslim Integration into Western Cultures: Between Origins and Destinations. Political Studies 60 (2, June 2012): 228 – 251.
Schwartz, Shalom H. 1992. Universals in the Structure and Content of Values: Theoretical Advances and Empirical Tests in 20 Countries. In Advances in Experimental Social Psychology, Vol. 25, ed. by Mark P. Zanna, 1 – 65. Orlando, Fl.: Academic Press.
Uslucan, Haci-Halil. 2008. Die Parallelgesellschaft der Migrantencommunities in Deutschland: Fakt oder Fiktion? In Sozialpsychologie und Werte. Beiträge des 23. Hamburger Symposium zur Methodologie der Sozialpsychologie, hrsg. von Erich Witte, 276 – 298. Lengerich: Pabst.