Nach Angaben des ehemaligen Staatspräsidenten der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, war im Frühjahr1990 vereinbart worden, dass sich die NATO nicht nach Osten erweitern sollte. Das ist in den vergangenen Jahren aus US- und EU-Kreisen immer wieder abgestritten worden: Es gebe keine vertraglichen Vereinbarungen darüber oder sonstige beweiskräftige Unterlagen. Doch das ist widerlegt. Aus kürzlich freigegebenen Dokumenten des Nationalen Sicherheitsrates der USA ist ersichtlich, dass es sehr wohl solche Willenserklärungen gab.[1]
So ist dem Protokoll eines Gesprächs zwischen Gorbatschow und dem damaligen US-Außenminister James Baker unter der Präsidentschaft von George Bush vom Frühjahr 1990 zu entnehmen, dass Gorbatschow zugesagt wurde, die NATO nicht nach Osten zu erweitern. Damit sollte den Sicherheitsbedürfnissen der Sowjetunion Rechnung getragen werden.[2]
Baker sagte: „Wir schlagen vor, dass es keine NATO-Truppen in der DDR für eine vereinbarte Übergangszeit geben soll.“ Es ging also darum, die NATO für eine Übergangszeit aus den sogenannten neuen Bundesländern fernzuhalten, auf die Dauer aber aus den Gebieten östlich der Oder. Denn die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion – wovon mehrmals die Rede war – wären bei einem Vorrücken der NATO nicht gewahrt geblieben, und sie sind demnach bis heute nicht gewahrt. Die Verhandlungspartner gingen offensichtlich davon aus, dass es nach der „Wiedervereinigung“ ein friedliches Europa und eine NATO als friedenserhaltende Kraft geben würde.
Aus einem ebenfalls freigegebenen Telefonat des US-Präsidenten George Bush mit dem damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl geht hervor, dass das vereinigte Deutschland in der NATO bleiben sollte, um nicht isoliert zu werden und damit bei den europäischen Nachbarn nicht der Eindruck entstand, Deutschland wolle durch einen Austritt einen Sonderweg in Europa beschreiten.[3] Bush sah seinerzeit – ebenso wie Kohl – in der NATO, die im Gegensatz zum Warschauer Pakt nicht aufgelöst wurde, eine Organisation mit politischer Ausrichtung und nicht mit einem militärischen Schwerpunkt,[4] der dann jedoch entgegen allen Absprachen immer mehr Gestalt annahm.
Entsprechend den damaligen Verhandlungen sollten in den sogenannten Neuen Bundesländern nur deutsche Truppen stationiert sein, wie es kurz darauf im Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12. September 1990 festgeschrieben wurde,[5] und daraus folgt, dass die NATO nicht über die Oder hinaus erweitert werden sollte.[6] Andernfalls wäre die Sicherheit der Sowjetunion gefährdet worden – so sah man das damals. Bush sagte, man müsse Gorbatschow davon überzeugen, „dass die NATO sich in einer Weise verändere, die nicht die sowjetische Sicherheit bedrohe“ („… NATO is changing in ways that do not threaten Soviet Security.“)
Zur Bekräftigung des Friedenswillens der USA mit ihrer NATO hatte er Gorbatschow den Artikel 2 des Nordatlantikvertrages vom 4. April 1949 vorgelesen, in dem es heißt: „Durch Stärkung ihrer freien Institutionen, Herbeiführung eines besseren Verständnisses für die diesen Institutionen zugrunde liegenden Prinzipien und durch Förderung der Voraussetzungen für Stabilität und Wohlfahrt werden die vertragschließenden Staaten zu einer weiteren Entwicklung friedlicher und freundschaftlicher internationaler Beziehungen beitragen. Sie werden bestrebt sein, Konflikte in ihrer internationalen Wirtschaftspolitik zu beseitigen, und werden die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen einzelnen oder allen Vertragsstaaten fördern.“
Deutschland als Drehscheibe globaler US-amerikanischer Aggressionspolitik
Die Entwicklung ging in die entgegengesetzte Richtung. Nachdem George Bush nicht wiedergewählt worden war, schlugen seine Nachfolger nach einer kurzen Zeit der Entspannung den Kurs der Aggressions- und Sanktionspolitik gegen Russland ein. Die NATO breitete sich absprachewidrig innerhalb weniger Jahre nach Osten aus und in den Anrainerstaaten zu Russland wurde eine gewaltige Militärmaschinerie mit Raketen, Panzerdivisionen, Kampfflugzeugen, Artillerie und Tausenden Soldaten errichtet. Zugleich wurde Deutschland zu einer Drehscheibe globaler US-amerikanischer Aggressionspolitik.
Nachdem im Juni 2020 bekannt wurde, dass US-Präsident Donald Trump einen Abzug von 9.500 der insgesamt 34.500in Deutschland stationierten Soldaten plante,[7] öffnete sich für die Bundesregierung ein Zeitfenster, das es unverzüglich zu nutzen gegolten hätte. Unter Berufung auf die gerade freigegebenen Dokumente des Nationalen Sicherheitsrates der USA zur deutschen Vereinigung hätte die Chance bestanden, den seit 1990 überfälligen Abzug sämtlicher ausländischer Streitkräfte einschließlich der auf deutschem Boden stationierten Atomwaffen zu verlangen und in die Wege zu leiten.
Doch wie gewohnt, kümmert sich von den US-affinen Berliner Politikern zunächst niemand um die neue Sachlage. Vielmehr kamen aus der CDU, SPD und von den Grünen Warnungen vor einer Schwächung der NATO, obwohl diese sich schon lange von einem Verteidigungs- zu einem Aggressionsbündnis entwickelt hat. Darüber hinaus war wieder die Rede von der „atomaren Teilhabe“, die es nie gab, weil die US-Bellizisten ohnehin machen, was sie wollen.
Aufgrund des manifesten Einflusses der USA und der Mehrheitsverhältnisse im Deutschen Bundestag ist davon auszugehen, dass die bisherige „Sicherheitspolitik“ Deutschlands, also „Abschreckung“ unter Einbeziehung der in Büchel/Pfalz und anderen Militärstützpunkten auf deutschem Boden stationierten US-Nuklearwaffen,[8] beibehalten wird. Die militärische Mobilisierung der NATO, die ihre Beziehungen zur Ukraine und zu globalen Partnern“ wie Australien, Japan, Südkorea und Kolumbien ausbaut, wird Schritt für Schritt fortgesetzt. Die deutsche Regierung steht fest an der Seite des von den USA gesteuerten Bündnisses, das 1949 als friedenssichernder Nordatlantikpakt gegründet wurde und schon lange seine eigenen Statuten nicht mehr einhält. Damit rückt die Gefahr eines Militärschlages gegen Russland immer näher.
Der Schriftsteller und Publizist Dr. jur. Wolfgang Bittner lebt in Göttingen. 2019 sind von ihm der Roman „Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen“ sowie das Sachbuch „Der neue West-Ost-Konflikt – Inszenierung einer Krise“ erschienen.
Quellen
[1] National Security Archive, https://nsarchive.gwu.edu/briefing-book/russia-programs/2020-06-02/washington-camp-david-summit-30-years-ago?eType=EmailBlastContent&eId=dc5759f2-89be-446b-954e-520b00fd68e9 (6.6.2020)
[2] National Security Archive, https://nsarchive.gwu.edu/dc.html?doc=6935339-National-Security-Archive-Doc-07-U-S-Department (6.6.2020)
[3] National Security Archive, https://nsarchive.gwu.edu/dc.html?doc=6935350-National-Security-Archive-Doc-18-Memorandum-of.(6.6.2020)
[4] So Oberstleutnant a.D. Jochen Scholz: https://www.world-economy.eu/nachrichten/detail/das-telefonat-zwischen-bundeskanzler-kohl-und-praesident-bush-vom-juni-1990/.
[5] Artikel 5, Absatz 3 des Zwei-plus-Vier-Vertrages, wonach auf dem Gebiet der ehemaligen DDR nur deutsche Truppen stationiert werden dürfen: www.documentarchiv.de/brd/2p4.html
[6] Diese Intentionen belegt eine Denkschrift Willy Wimmers vom 20.12.1989. In: Wolfgang Effenberger und Willy Wimmer, Wiederkehr der Hasardeure, zeitgeist 2017, S. 539-543.
[7] Vgl. ARD-Tagesschau, 6.6.2020, https://www.tagesschau.de/ausland/us-truppenabzug-101.html (6.6.2020)
[8] Kernwaffen in Deutschland: https://de.wikipedia.org/wiki/Kernwaffen_in_Deutschland (10.5.2020)