Migration ist keineswegs die Mutter all unserer Probleme, wie unser Mann aus Ingolstadt und fürs Grobe, Horst Seehofer, kürzlich formuliert hat. Nein: Migration ist vielmehr die Mutter von Gesellschaft!
Dafür steht insbesondere die Geschichte unserer Städte. Denn sie entwickeln sich in der Neuzeit dynamisch und nachhaltig erst durch die permanente Zuwanderung von neuen Menschen, von neuen Ideen und von neuen Waren. Also durch Migration und Markt, durch Massenkultur und Bürgerschaft. Das prägt seitdem ihr Lebensgefühl. Deshalb betrachtet der große Soziologe Max Weber die moderne Stadt schon vor 100 Jahren als den neu entstehenden „Ort der Zusammengesiedelten“, nicht mehr nur der Eingeborenen und Einheimischen wie im Dorf. Und deshalb sieht er in ihr den gesellschaftlichen Raum des „Aufstiegs aus der Unfreiheit in die Freiheit“.
Denn der urbane Raum verkörpert jenen besonderen Ort, an dem sich Minderheiten in der Moderne überhaupt als soziale Gruppe formieren können. Nur hier erreichen sie jene „kritische Masse“, die es ihnen ermöglicht, eigene, auch abweichende Lebensstile öffentlich zu demonstrieren. Nur hier können sie ihre Rechts- und Lebenssituation für legitim erklären. Die Stadt als Heimat der Minderheiten, die ihnen ein Leben in Respekt und Würde ermöglicht: Das ist die große historische Idee und das große kulturelle Erbe der modernen Stadt!
Dies galt und gilt für Arbeiterkulturen wie Migrantengruppen, für jüdische Gemeinden wie Freidenker, für Frauenbewegungen wie Protestbewegungen, für Schwulenszenen wie für künstlerische Subkulturen, für ökologische Initiativen wie vegetarische Milieus. Ihre „anderen“ Werte und Ideen, ihre „eigensinnigen“ Praktiken und Rituale, ihre „offenen“ körperpolitischen wie partnerschaftlichen Formen prägen die Stadtkultur heute inzwischen nachhaltiger als viele einheimische Traditionen à la „Mir san mir!“ in München oder „America first!“ in New York.
Aber diese besonderen Formationen und Traditionen stehen heute auch mehr denn je in der Gefahr, von rechten Gedanken und populistischen Bewegungen infrage gestellt, ja: zerstört zu werden. So spricht der AfD-Vorsitzende Alexander Gauland von den „heimatlosen“ Eliten und Migranten, die unser „Volk“ angeblich von den Städten aus „überfremden“ und die „echten Deutschen“ an den Rand drängen. In offen rechtsextremer und rassistischer Sprache wird da versucht, zu hetzen und zu spalten.
Dabei ist diese Politik der Rechten systematisch auf die Bekämpfung dieser besonderen Beheimatungsqualität der großen Städte ausgerichtet. In Gestalt auch von administrativen Offensiven und Angriffen wie etwa mit jener Strategie der „Kleinen Anfrage“, die kürzlich im Falle des Kinder- und Jugendtheaters in Rostock zum Einsatz kam. Dort fordert die AfD im Stadtrat Auskunft über das Konzept dieses Theaters, seinen Stellenplan und seine Finanzierung.
Eine fast wortgleiche Anfrage liegt für das Deutsche Theater in Berlin vor – wie mittlerweile für hunderte andere Museen, Theater, Jugendclubs, Migrantenvereine und Flüchtlingsinitiativen in deutschen Städten. Tenor: Diese Einrichtungen stünden für eine „linke Minderheiten- und Meinungskultur“. Sie dürften daher haushaltlich nicht weiter bedacht, sondern sollten vielmehr geschlossen werden.
Mit dieser Kampagne wird versucht, wichtige städtische Kultureinrichtungen systematisch und automatisch in eine defensive Position zu bringen. Weil lokale Politik und Medien oft nicht begreifen, dass es hier nicht um langweilige Politik- und Verwaltungsrituale geht. Weil sie sich deshalb oft nur halbherzig vor diese Einrichtungen stellen. Weil sie diese perfiden Versuche der systematischen Diskreditierung und Delegitimierung öffentlicher Einrichtungen wie sozialer Gruppen für „legal“ Halten. Und weil sie damit diesem Versuch der letztlichen Kontrolle öffentlicher Debatten und öffentlicher Räume nicht entschlossen entgegentreten.
Dagegen muss das zivile Projekt als das kulturelle Erbe unserer Städte von allen Demokraten mit allem Nachdruck verteidigt werden: als jenen „Raum der Freiheit“ Max Webers – für uns wie die anderen!