Ausgangspunkt
Das hier bearbeitete Thema wählte ich aus einer ganzen Reihe verschiedener Themenvorschläge aus, weil die damit verbundene Aussage, es gäbe die Unsichtbarkeit des „progressiven Migranten“, bei mir gewisse „Evidenzerlebnisse“ ausgelöst hat. So meinte ich zunächst, dass damit etwas angesprochen wird, was ich richtig und wichtig finde. Doch bald musste ich mir eingestehen, dass ich mit der verwendeten Begrifflichkeit nicht genügend vertraut war, um meinen Eindruck überzeugend zu begründen. Ich musste also darüber nachdenken, wie die verwendeten Begriffe mit meinen persönlichen Erfahrungen zusammenhingen, und ich musste mich informieren, in welchen fachlich relevanten Kontexten die Begriffe im Allgemeinen verwendet werden. Ausgangspunkt meiner Überlegungen war also ein recht unpräziser subjektiver Eindruck von dem möglichen Inhalt des Themas, das ich bearbeiten wollte.
Zielsetzungen und Vorgehensweise
Zunächst habe ich versucht, den sehr komplex gefassten Titel in einzelne überschaubare Aussagen zu gliedern, um hierbei begriffliche Klärungen vorzunehmen und die vorläufig geklärten Aussagen einen in sich stimmigen inhaltlichen Zusammenhang zu bringen.
Zentral erschien mir die Aussage, dass es den „progressiven Migranten“ gebe, und dass „Unsichtbarkeit“ ein wesentliches Merkmal desselben sei.
Drei persönliche Zugänge zum Begriff der Unsichtbarkeit
Erstens ist in meiner beruflichen Fachdisziplin, der Behindertenpädagogik, das Gegenteil der Unsichtbarkeit, nämlich die besondere Auffälligkeit, eine bedeutsame Kategorie. Als auffällig gelten hier solche Kinder und Jugendliche, welche die vorgegebenen schulischen Anforderungen oder Erwartungen nicht in ausreichendem Maße erfüllen. Deswegen werden sie unter der Fragestellung untersucht, ob bei ihnen ein „sonderpädagogischer Förderbedarf“ vorliegt. Wenn ein solcher diagnostiziert worden ist, erfolgen weitere Maßnahmen oder Interventionen, um den wahrgenommenen Zustand zu ändern. Die schärfsten und einschneidendsten Interventionen sind Umschulungen in Sonderschulen (Förderschulen), also Maßnahmen, die mit dem Menschenrecht auf Inklusion nicht zu vereinbaren sind (Eichholz, 2017). Von mir selbst durchgeführte Analysen von Bildungsstatistiken haben gezeigt, dass Kinder von Migranten überproportional häufig von solchen separierenden Maßnahmen betroffen sind (Kornmann, 2003). Hingegen können sie in viel geringerem Maße als deutsche Kinder von sogenannten integrativen oder inklusiven Maßnahmen profitieren (Merz-Atalik, 2001).
Der statistisch gesicherte Nachweis der Überrepräsentation ausländischer Kinder an Sonderschulen für Lernbehinderte verweist auf einen zweiten Grund, sich mit der Kategorie der Unsichtbarkeit zu befassen. Dieser betrifft das Selbstverständnis wissenschaftlichen Arbeitens. Sein Sinn besteht darin, neue Erkenntnisse zu gewinnen. Eine so begründete wissenschaftliche Tätigkeit kann auch als Entdecken oder „Aufdecken“ von bis dahin unerkannten, möglicherweise auch „verdeckten“, „verschleierten“, „verstellten“, also weitgehend „unsichtbaren“ Phänomenen in der Natur ebenso wie im sozialen Geschehen aufgefasst werden (von Wright, 1984).
Auf der anderen Seite – und das wäre ein dritter Grund – ist damit zu rechnen, dass nicht nur in Alltagstheorien, sondern auch in wissenschaftlichen Theorien, die Existenz von Phänomenen behauptet wird, ohne dass diese bewiesen wären. In solchen Fällen ist es Aufgabe wissenschaftlichen Arbeitens, falsche Aussagen zu widerlegen. Gerade über Kinder von Migranten kursieren im fachlichen Diskurs viele widerlegbare Aussagen, die Gegenstand aufklärender Tätigkeiten in Forschung und Lehre sein müssten. So habe ich im Rahmen der Forschung und Lehre zur sonderpädagogischen Diagnostik einen inhaltlichen Schwerpunkt auf die Widerlegung solcher Aussagen gelegt, die als Argumente für die schulische Separierung dienen sollten. Ein Beispiel hierfür wäre die Behauptung, dass die schulischen Lernprobleme der Kinder von Migranten auf mangelnde Intelligenz zurückzuführen seien.
Zur Suche nach Erklärungen
Wie bereits erwähnt, habe ich mich aus der Sicht meiner Fachdisziplin u. a. mit dem vordergründig sichtbaren Phänomen des Schulversagens ganz allgemein und speziell mit dem überzufällig häufigen Schulversagen der Kinder von Migranten befasst. Auf der Suche nach Erklärungen für diesen skandalösen Zustand habe ich nicht, wie bei traditionellen methodischen Ansätzen üblich, an individuellen, differenzialpsychologischen Merkmalen der Lernenden (wie beispielsweise Intelligenz, sprachliche Leistungen, Motivation) angesetzt, weil dadurch der Blick für prinzipiell veränderbare Bedingungen verstellt worden oder verloren gegangen wäre. Hingegen wollte ich im Zuge meiner Lehr- und Forschungstätigkeit auf „verdeckte“, also nicht unmittelbar erkennbare Ursachen und Bedingungen im Bereich der Bildungs- und Sozialpolitik sowie der Didaktik, aufmerksam machen. In Betracht kamen drei Ursachenkomplexe (Lanfranchi, 2002):
- bildungspolitische Entscheidungen und schulorganisatorische Vorgaben,
- die Kriterien zur Bestimmung schulischen Erfolgs sowie
- die gesamte Lebenslage der Schülerinnen und Schüler und ihre Erfahrungsmöglichkeiten.
Grundlegend sollte die Erkenntnis sein, dass der hier analysierte Problembereich des Schulversagens nur im Zusammenhang mit der ausleseorientierten Struktur des Schulwesens zu sehen ist. So ist die betriebene schulische Selektion keine alternativlose und unhinterfragbare Selbstverständlichkeit, vielmehr ist sie als ein Resultat interessengebundener bildungspolitischer Entscheidungen und schulorganisatorischer Vorgaben zu verstehen. Schulversagen wäre also in einem Bildungssystem, das auf Noten, Repetition und negative Auslese verzichtet, nicht direkt erkennbar und würde in diesem Sinne auch unsichtbar bleiben. Unter dieser Voraussetzung wäre der Rechtsanspruch auf Inklusion formal zwar erfüllt, aber damit wäre nicht sichergestellt, dass alle Lernenden die ihnen möglichen, pädagogisch wünschenswerten Entwicklungen nehmen. Doch gerade hierauf sollte es in einem Schulsystem mit humanem Anspruch ankommen! Dieser Anspruch wird in der schulischen Praxis oft übersehen, und im Einzelfall ist es auch schwer zu erkennen, ob und inwieweit er erfüllt ist.
Pädagogik und Entwicklung
Anhaltspunkte für eine entsprechende Beurteilung kann eine Klärung der Begriffe Pädagogik und Entwicklung bieten, die ich in Anlehnung an Bernhard (2014) kürzlich vorgeschlagen habe (Kornmann, 2019). Danach wird Pädagogik als ein Aufgaben- oder Tätigkeitsbereich aufgefasst, der dazu dient, menschliche Entwicklung (oder Progressivität) zu unterstützen. Unter diesen Bezeichnungen soll die Erweiterung von Möglichkeiten des Erlebens, Denkens und Erlebens verstanden werden, wobei sich das Attribut „menschlich“ auf kulturhistorische, anthropologische (phylogenetische), biografische (ontogenetische) sowie ethische Aspekte beziehen kann. Eine solche, auf Erweiterung von Lebens- und Erfahrungsmöglichkeiten ausgerichtete, progressive Pädagogik ist mit einem dynamischen Entwicklungsbegriff verbunden, wie er vor allem in dem von Wygotski erarbeiteten Konzept des Lernens in der „Zone der nächsten Entwicklung“ zu finden ist (Jantzen, 2010).
In der deutschsprachigen Tradition pädagogischen Denkens und Handelns umfasst der Begriff der Pädagogik zwei sich ergänzende Teilbereiche: Bildung und Erziehung. Ihre dialektisch zu verstehenden Wechselwirkungen bilden die Grundlage entwicklungsförderlicher Prozesse. Einerseits unterstützt Pädagogik das Bestreben junger Menschen, freier und unabhängiger zu werden – unabhängiger beispielsweise von der Hilfe und Unterstützung durch andere Menschen, freier von Bevormundung, Herrschaft und Ausbeutung, freier von Ängsten etwa vor Naturgewalten, von Dogmen und Vorurteilen. Die darauf bezogenen pädagogischen Bemühungen entsprechen dem Gedanken der Bildung. Andererseits zeigt sich menschliche Entwicklung auch darin, dass der junge Mensch lernt, sich als soziales Wesen in die menschliche Gemeinschaft einzubringen, also Regeln des Zusammenlebens zu beachten, mit anderen Menschen zu kooperieren, erforderliche Hilfen zu geben, Verantwortung für das Zusammenleben der Menschen zu übernehmen und sich für das Überleben der Menschheit zu engagieren. Dies alles sind wichtige Ziele der Erziehung. Jede dieser beiden Richtungen der Entwicklung bildet für die jeweils andere ein notwendiges Korrektiv: Ohne den Einfluss der Erziehung würde eine auf individuelle Freiheit ausgerichtete Entwicklung in verantwortungslosem Individualismus ausarten, während eine Erziehung ohne Beachtung individueller Bedürfnisse zu kollektivistischer Hörigkeit führen würde. Bleiben beide Orientierungen in ihrer Gegensätzlichkeit gleichzeitig, über lange Zeiträume hinweg und in etwa gleicher Stärke wirksam, dann bewirkt dies eine Dynamik, welche die gesamte Entwicklung – sowohl im individuellen als auch im sozialen Bereich – fördert und antreibt.
Pädagogisch wünschenswerte Erweiterungen der Denk- und Handlungsmöglichkeiten zielen darauf ab, die Lebensbedingungen und die Lebensqualität von Menschen zu verbessern (oder auch: die Lebensfreude zu erhöhen). Dies gelingt am besten, wenn die mit Bildung und Erziehung verbundenen pädagogischen Aufgaben von solchen Menschen übernehmen werden, die selbst Vorstellungen von einem menschenwürdigen Leben und ein Wissen von entsprechenden Gestaltungsmöglichkeiten haben.
Lebensbedeutsame Entwicklungsprozesse und Lebensbedingungen als Menschenrecht
Lassen sich in bestimmten Handlungsbereichen oder Tätigkeitsfeldern Erweiterungen und Differenzierungen von Möglichkeiten des Erlebens, Handelns und Denkens feststellen, kann man auf die Wirksamkeit lebensbedeutsamer Entwicklungsprozesse und günstiger Entwicklungsbedingungen schließen. Dies erfordert allerdings Lern- und Lebensbedingungen, die es den betroffenen Menschen ermöglichen, selbst Einfluss auf ihre Lern- und Lebensbedingungen zu nehmen. Unter weltweiter Perspektive betrachtet, ist dies nur einem relativ geringen Teil der Menschen möglich, die auf dieser Welt leben, und nur diesen Menschen, die als privilegiert gelten, kommen die beschriebenen inklusiven pädagogischen Konzepte zugute.
Einschränkungen und Behinderungen von Entwicklungsmöglichkeiten betreffen insbesondere solche Menschen, deren Lebensplanung allein darauf beschränkt ist, den jeweils nächsten Tag zu erleben und die daher aus solchen Orten fliehen, die kein sicheres und erträgliches Leben zulassen. Hier liegen offensichtlich die wesentlichen Gründe für die Flucht aus lebensbedrohlichen Regionen und für die Migration in Länder, in denen die Lebensbedingungen günstiger erscheinen. Verbinden die betroffenen Menschen mit ihrer Flucht und Migration die Hoffnung auf ein besseres Leben, dann kann dies ein Anzeichen dafür sein, dass sie noch nicht resigniert haben und sich vor den Verletzungen ihrer Menschenrechte schützen wollen. Ihre Situation verweist auf politischen Handlungsbedarf und Perspektiven für die Unterstützung der Menschenrechte von Migranten in Europa. Hierauf hat kürzlich Markard (2019) hingewiesen. Unterstrichen werden ihre Forderungen durch Beispiele dafür, dass eingewanderte Familien nicht nur Schutz gefunden haben, sondern auch ihre progressiven Pläne umsetzen konnten.
In diesem Zusammenhang kann auf die Forschungen des Chemnitzer Soziologen Berrnhard Nauck verwiesen werden. Er hat unter Bezug auf die Theorie des Humankapitals von Bourdieu (1982) die schulische Situation der Kinder von Migranten beleuchtet und dabei interessante Perspektiven eröffnet. Zielgruppe von Nauck, Diefenbach & Petri (1998) waren besonders erfolgreiche ausländische Schülerinnen und Schüler. Sie dürften wohl recht gut die Gruppe solcher Migranten repräsentieren, die im Sinne des hier skizzierten Entwicklungsmodells als progressiv bezeichnet werden kann. Als entscheidendes Ergebnis konnte festgehalten werden, dass sich der schulische Erfolg der einzelnen Kinder mit den subjektiven Verarbeitungsmöglichkeiten ihrer konkret beschreibbaren familiären Lebenslage erklären ließ. Der hierbei entscheidende Gesichtspunkt ging von der Frage aus, wie und mit welchen Konsequenzen und Wirkungen die jeweils verfügbaren finanziellen, kulturellen und sozialen Ressourcen der Familie für die individuelle Entwicklung genutzt wurden. Ohne den beschriebenen Untersuchungsansatz wären diese progressiven Migranten sicher unsichtbar geblieben.
Literaturhinweise
Bernhard, A. (2014): Pädagogisches Denken. Einführung in allgemeine Grundlagen der Erziehungs- und Bildungswissenschaft. Hohengehren: Schneider (8. Aufl. 2017).
Bourdieu, P. (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: R. Kreckel (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten. Sonderband 2: Soziale Welt (S. 183-198). Göttingen: Schwartz.
Eichholz, R. (2017): Blick nach vorn: Menschenrechte bleiben der Maßstab. Heft 2 der Schriftenreihe „Eine für alle – Die inklusive Schule für die Demokratie“. ISSN 2566-8099; Kontakt: martina.schmerr@gew.de.
Jantzen, W. (2010): Auf dem Weg zu einem Neuverständnis der „Zone der nächsten Entwicklung“. In: B. Siebert (Hrsg.): Integrative Pädagogik und die Kulturhistorische Theorie (S. 97-104). Frankfurt/M.: Lang.
Kornmann, R. (2003): Die Überrepräsentation ausländischer Kinder und Jugendlicher in Sonderschulen mit dem Schwerpunkt Lernen. In G. Auernheimer (Hrsg.): Schieflagen im Bildungssystem. Die Benachteiligung der Migrantenkinder (S. 71-85). Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften (3. Aufl. 2009).
Kornmann, R. (2019: Entwicklung als pädagogische Kategorie zur Überwindung von Inklusionsbarrieren. In: E. v. Stechow, PH. Hackstein, K. Müller, M. Esefeld & B. Klocke (Hrsg.): Inklusion im Spannungsfeld von Normalität und Diversität (S. 123-125). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Lanfranchi, A. (2002): Interkulturelle Kompetenz als Element pädagogischer Professionalität – Schlussfolgerungen für die Lehrerausbildung. In: G. Auernheimer (Hrsg.): Interkulturelle Kompetenz in pädagogischen und psychosozialen Praxisfeldern (S. 206-233). Opladen: Leske + Budrich.
Markard, N. (2019): Die Bedeutung der Menschenrechte für Migrant*innen in Europa. Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik 7,236-241.
Merz-Atalik, K. (2001): Interkulturelle Pädagogik in Integrationsklassen. Subjektive Theorien von Lehrern im gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderungen. Opladen: Leske + Budrich.
Nauck, B., Diefenbach, H. & Petri, K.(1998): Intergenerationale Transmission von kulturellem Kapital unter Migrationsbedingungen. Zeitschrift für Pädagogik44, 701-722.
Von Wright, G. H. (1974): Erklären und Verstehen. Königstein / Ts.: Athenäum1974 (2. Aufl. 1984).