Der historische Materialist […] betrachtet es als seine Aufgabe,
die Geschichte gegen den Strich zu bürsten
Walter Benjamin
Mehr als einmal folgten Revolutionen und Umbrüche, wie die große Französische Revolution ab 1789, die sogenannte friedliche Revolution Ostdeutschlands 1989, sowie die Reformation, einem einander vergleichbaren oder ähnlichen Muster. In allen diesen Fällen spielen je drei bedeutsame Kräfte eine Rolle, a) das alte Machtsystem, b) eine radikal humane, humanistische Bewegung und c) eine neue sich anbahnende ökonomisch-politische Kräftekonstellation. Die beiden letzteren, nämlich eine radikal humane Bewegung zusammen mit neuen zu politisch-ökonomischer Herrschaft strebenden Akteuren wenden sich zunächst – scheinbar einvernehmlich – gegen das alte System. Nach dem Sieg etabliert sich eine neue Elite, und die humane Bewegung kommt – zumindest zu großen Teilen – wieder unter die Räder, wobei das sich tatsächlich durchsetzende neue herrschende System gern seine Struktur der Inhumanität mit dem Bilde der innerhalb derselben Bewegung zu Grabe getragenen Humanität schmückt.
Die erste Bewegung der Reformation begann in Böhmen im 14. Jahrhundert. Prediger, Universitätslehrer und Aktivisten, die neue Formen gemeinsamen Lebens erfanden, wandten sich gegen kirchliche und feudale Privilegien. Die ärmste Bevölkerung, die daran teilnahm und vor allem aus Bauern bestand, wollte radikale Veränderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die Adligen und Bürger dagegen strebten mäßige Transformationen an, welche symbolisch mit dem Laienkelch (Kelch mit Wein für alle bei der Kommunion statt nur für den Priester) zusammengefasst wurden, so dass deren Bewegung auch als Kalixtiner (von calix=Kelch) benannt wurde. Die Reformversuche wurden immer wieder behindert. Als Jan Hus, der grundlegende Reformen der Kirche forderte und predigte, wie die Säkularisierung des Kirchengutes, 1415 auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, entstand ein Sturm der Entrüstung, und seine Anhänger, welche jegliche Unterdrückung beenden wollten, gingen in den bewaffneten Kampf. 1420 rief der Papst zum Kreuzzug gegen die Hussiten (die sich erst nach dem Tod von Jan Hus konstituiert hatten) auf. Es kam zu fünf Kreuzzügen, bei denen die Hussiten siegten. Eine ihrer Gruppen gründeten den Ort Tábor, wo sie eine kommunistische Gesellschaft verwirklichten. 1434 verhandelte ein Teil der Hussiten, der sich von dem radikalen Flügel (der eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft verwirklichte) abspaltete und aus Bürgern und Adligen bestand, mit dem Konzil zu Basel, und diese Konzil akzeptierte Grundforderungen von ihnen wie freie Predigt, Laienkelch und andere. Bald darauf wurde der radikale Flügel der Hussiten mit Gewalt vernichtet. Knapp 200 Jahre lang war Böhmen ein Ort relativer religiöser Vielfalt und einer gewissen Offenheit für neue Bewegungen wie den Humanismus. Zugleich verarmten die Bauern immer mehr und verloren häufig ihr Land und damit ihre Lebensgrundlage. Im 16. Jahrhundert unterdrückte immer wieder die Dynastie der Habsburger die Kalixtiner, den Adel und die Städte. Und 1618 kam es zum Aufstand der Stände, v.a. des Adels, die sich an die Macht setzten. Sie wurden 1620 in der Schlacht am Weißen Berge geschlagen, und damit endete bis auf kleine Gruppen auch die gemäßigte Reformation der Kalixtiner; das Land wurde rekatholisiert.
In Deutschland begann die Reformation etwas später, zeitgleich mit der beginnenden Eroberung Amerikas, der Etablierung der Kolonisierung eines großen Teiles der Erde durch Europa und zugleich des Absolutismus, der als eine Art Kolonisierung nach innen begriffen werden kann, daher zeitgleich mit dem sich auf der Grundlage der Kolonisierung etablierenden Kapitalismus. Die eine der Quellen der Reformation sind – ähnlich wie in Böhmen – die Bewegungen und Proteste der Bauern, die sich gegen feudale und die beginnende kapitalistische (Landkäufe, Bodenspekulationen, Verschwinden der Allmende, Durchsetzung totalen Privateigentums) Ausbeutung wandten, und welche eine kommunistische Gesellschaft der Gütergemeinschaft und der Gleichheit aller Menschen mit dem Reich Christi auf Erden identifizierten. Einer ihrer Sprecher und Ermutiger war Thomas Müntzer, der zunächst an den Reformbewegungen zusammen mit Martin Luther teilgenommen, dann sich völlig von ihm distanziert hatte und von ihm bekämpft wurde. Eine weitere Quelle der Reformation war der Humanismus, der zur analytischen Erforschung und Übersetzung des Bibeltextes in die Volkssprache inspirierte. Zugleich aber verbog sich die Bewegung der Reformation und mit ihr nicht zuletzt Martin Luther hinein in die Tendenz, sich an die tatsächlich sich durchsetzenden Konstellationen politischer und ökonomischer Herrschaft anzupassen. Hatte Luther zunächst offen gegen die Autorität des Papstes, gegen Privilegien des Klerus und gegen die Quelle kirchlicher Bereicherung, nämlich den Ablass zusammen mit der diesem zugrundeliegenden Theologie der Verschuldung protestiert, so stellte er sich bald immer mehr auf die Seite der unhinterfragbaren Herrschaft der absolutistischen Fürsten. So unterstützte Luther die mit totalem Herrschaftsanspruch verknüpfte Verteufelung jeglicher alternativer Macht des einzelnen Menschen und verschiedener Gruppen und äußerte sich menschenverachtend und zur Gewalt aufrufend gegen Hexen, Juden, behinderte Kinder (“Wechselbälge”), und schließlich die Bauern. Beim Bauernkrieg stellte er sich mit Aufrufen, die fluchende Worte enthalten, auf die Seite derer, welche die Bauern und Thomas Müntzer vernichteten. Seine Theologie befreit zwar von mittelalterlich-katholischer Zwanghaftigkeit, welche der Bereicherung von Klerus und Papst, sozusagen einem katholisch-religiösem Kapitalismus zugute kam, aber der Glaube, den Luther vertritt, “rechtfertigt gerade als untätiger Glaube” (Ernst Bloch) und schützt die Obrigkeit und mit ihr die neuen Strukturen der Gewalt und das neue Weltsystem aus Kolonisierung, Absolutismus und zunehmend (weltlich-) kapitalistischer Wirtschaft.
Als geistige Bewegung ist die besiegte Reformation der Unterdrückten nicht zuende. Der philosophisch-poetische Jakob Böhme entwickelte ein universalistisches Denken, das nicht mehr Gott und Welt trennt, und das keine Privilegien kennt, sondern wo das universal Humane und zugleich Göttliche in jedem Einzelnen wirklich wird. Solche beginnende Dialektik wurde weitergedacht durch Spinoza, Leibniz, Hegel und Marx. Und was die Praxis anbelangt, ist bis heute die Reformation der Verdammten dieser Erde unerfüllt und ausstehend.