Prof. Dr. Wolf D. Bukow | Universität Siegen
Auf dem Weg zu einer neuen europäischen Leitdifferenz
Lange Zeit sah es so aus, als ob die Europäische Union sich vor allem als eine Wertegemeinschaft versteht, die sich in Rechtsstaatlichkeit, in der Wirtschaft, in der Forschung und in der Regionalentwicklung engagiert, um ihren Bürgerinnen und Bürger ein erfolgreiches und friedliches Zusammenleben zu ermöglichen. Bis zur letzten großen EU-Erweiterung hat die EU dann auch immer Wert darauf gelegt, dass sich die neuen Staaten zunächst der EU-Wertegemeinschaft annähern und erst dann Teil der EU werden. Aber im letzten Jahrzehnt ist die Bindekraft dieser Wertegemeinschaft deutlich zurückgegangen, und die einzelnen Mitgliedsstaaten betonen wieder mehr ihre Eigenständigkeit. Nicht zuletzt kann man das an der Zunahme von Vertragsverletzungsverfahren gegenüber einzelnen Mitgliedsländern beobachten. Eine wichtige Rolle hat dabei das Erstarken rechter nationalistischer Strömungen gespielt, deren Erfolge sich vor allem einer erfolgreichen Modernisierung und vor allem der Kulturalisierung des überkommenen rassistisch-nationalistischen Gedankenguts verdanken. Das ist gerade auch innerhalb der EU zu beobachten, wo von Italien über die mitteleuropäischen Staaten bis Skandinavien vorerst noch deutlich unterschiedliche Varianten dieses modernisierten nationalistisch eingekleideten Kulturrassismus zu einem unübersehbaren Machtfaktor geworden sind. Auch wenn diese Entwicklung noch längst nicht dominiert, ist dennoch die Bindekraft der überkommenen europäischen Werte zurückgegangen und wird zunehmend durch den Appell an eigene nationale Narrative in Frage gestellt. Und an manchen Orten wird ja auch der Austritt aus der EU gefordert bzw. durch den Brexit tatsächlich auch eingeleitet.
Es sieht allerdings nicht danach aus, dass sich die EU schrittweise auflöst. Es sieht eher danach aus, dass sich die EU zunehmend umorientiert. Die neuen Rechten wollen keineswegs die EU abschaffen, sondern ihr Druck zielt darauf, sie umzubauen. Tatsächlich ist nämlich im Rahmen der Modernisierung dieser Bewegungen ein postfaktischer Kulturrassismus entstanden, der sowohl retrotopisch (Bauman 2017) die Vergangenheit beschwört, als auch auf die vollständige Verfügbarkeit der modernen industriellen und technologischen Möglichkeiten setzt. Einem solchen postfaktischen Kulturrassismus steht eine EU keineswegs im Wege. Ganz im Gegenteil ermöglicht dieses “sowohl als auch”, einerseits ein retrotopisches Europa zu beschwören, anderseits aber auch auf die vollständige Verfügbarkeit der europäischen Möglichkeiten zu setzen. Und dabei spielt die Migrationspolitik eine alles entscheidende Rolle. Über sie lassen sich die in den Mitgliedsländern überall tradierten nationalistischen Narrative reaktivieren, mit der längst etablierten europäischen Abgrenzungspolitik verknüpfen und zu einer neuen migration policy verdichten, die sich dann gut im Rahmen eines nach außen gerichteten Mobilitätsregime und eines nach innen gerichteten Diversitätsregime ausgestalten lässt (Bukow 2019). Auf diese Weise wandelt sich die Wertegemeinschaft, die die EU lange ausmachte, gleichsam von innen her – genauer aus der Mitte der Mitgliedsstaaten heraus und fast unbemerkt. So kommt es unter dem Eindruck der neuen Rechten im Augenblick nicht nur zu einer Umdefinition nationaler Identitäten, sondern schon fast selbstverständlich zu einer europäischen Identität, hier zu einer postnationalistischen migration policy als zentraler europäischen Leitdifferenz, in der nun die am meisten der immer wieder beschworenen Nationalismen aufgehen (vgl. Benhabib 2019).
Um diese hier nur knapp angedeutete Entwicklung in ihrer ganzen Brisanz zu erkennen, sind vier Schritte nötig. Erstens muss man sich Klarheit drüber verschaffen, wie in den EU-Mitgliedsstaaten die oft genug rassistisch imprägnierten Nationalismen überlebt haben und gerade sie modernisiert wurden: Die Veralltäglichung eines modernisierten Rassismus als Leitdifferenz in der Mitte der Gesellschaft. Zweitens kommt es darauf an, die dabei entfaltete “sowohl-als-auch Logik” zu erkennen: Die Entwicklung eines retrotopisch legitimierten und zugleich global platzierten und extremen Anspruchsdenkens. Vor diesem Hintergrund lässt sich dann sichtbar machen, wie sich beides im Rahmen einer postnationalistischen migration policy zu einer europäischen Leitdifferenz verdichtet hat: Eine post-nationalistische mobilitäts- und diversitätsfixierte migration policy. Abschließend bleibt dann zu prüfen, welche Auswirkungen eine solche letztlich fiktive und realitätsferne politische Konstruktion auf die gesellschaftliche Wirklichkeit hat – eine Wirklichkeit, in der Mobilität/Migration und Diversität/anders-Sein so trivial wie diffus und global verortet sind, dass sich daraus keine Distinktionen oder gar Wertungen ableiten lassen: Welche Auswirkungen haben die im Rahmen von postnationalistischer migration policy stilisierten fiktiven Distinktionen für das Zusammenleben?
Zwei Fallbeispiele
Die hier skizzierten Schritte lassen sich tatsächlich an ausgewählten Fällen recht genau rekonstruieren, wenn damit auch nichts darüber gesagt ist, wie repräsentativ solche Fälle für die hier beschriebene Entwicklung sind.
- a) Am 19.Januar 2001 gibt es in Köln einen Anschlag auf einen aus der Türkei eingewanderten Lebensmittelhändler, wobei die Tochter des Inhabers schwer verletzt wird. Die Tat wird später eher zufällig als Start der NSU-Anschlagsserie identifiziert. Wie auch bei allen späteren NSU-Anschlägen wird zunächst die Familie in den Fokus gerückt und es wird erst über Ehekonflikte, dann über einen Glücksspielhintergrund und schließlich mafiose Verbindungen spekuliert. Obwohl eigentlich schnell ein rassistisches Motiv erkennbar war hat man “vorurteilsfixiert” wie in den meisten anderen Fällen jahrelang die Familie unter Druck gesetzt. Auch 18 Jahre nach dem Anschlag ist der rassistische Hintergrund immer noch nicht voll ausgeleuchtet (KStA 19./20. Jan. 2019)
- b) Am 21.12.2018 berichtet Human Rigths Watch (HRW) über sich ständig wiederholende Pushbacks an der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei, die dazu dienen, in Griechenland aufgegriffene Flüchtlingen rechtswidrig direkt in die Türkei abzuschieben. “Sie schlugen uns mit ihren Schlagstöcken und riefen ‘Fuck Islam’”. Die so deportierten Menschen werden immer wieder mit “Schlägen, Fußtritten und einer entwürdigenden Behandlung und sogar Scheinhinrichtungen” gezwungen, in die Türkei zurückzukehren. Die Menschenrechtskommission des Europarats hält dieses Vorgehen für eine “längst gängige Praxis” der griechischen Behörden, die im Augenblick besonders viele Nordafrikaner trifft.
Während das erste Beispiel einen Vorfall mitten in einer der größten deutschen Metropolen betrifft, spielt das zweite Beispiel am Grenzfluss Evros, der EU-Grenze zur Türkei. Beide Vorfälle stehen für eine ganze Reihe von vergleichbaren Vorfällen. Das erste Beispiel ist nur einer von zahlreichen NSU-Anschlägen, die allesamt von den Behörden nicht nur falsch, sondern sogar analog kulturrassistisch eingeschätzt wurden und es wurden dementsprechend wie selbstverständlich und ohne irgendwelchen Bedenken die Opfer zu den Tätern gemacht. Der zweite Fall erweist sich als Teil einer längst gängigen Praxis, die nicht nur von der Grenzpolizei tagtäglich praktiziert, sondern auch noch von den verantwortlichen Behörden kategorisch geleugnet wird. Der Fall ist darüber hinaus typisch für Vorgänge, wie sie an der spanisch-marokkanischen Grenze alltäglich sind. Der Grenzzaun bei Ceuta ist eine befestigte Grenze zwischen Marokko und der spanischen Stadt Ceuta, die auf nordafrikanischem Festland an der Straße von Gibraltar liegt. Dort gibt es für die Pushbacks sogar längst Türen in der Grenzbefestigung. Beide Vorfälle stehen aber nicht nur für weitere ähnliche Ereignisse, sondern dürften auch miteinander vergleichbar sein, obwohl sie fast 18 Jahre auseinander liegen und sich in sehr unterschiedlichen Rahmen abspielen. Einmal geht es um Anschläge, das andere Mal um Abschiebungen. Dass beide Falltypen miteinander zu tun haben wird spätestens dann erkennbar, wenn man die oben skizzierten Leitfragen berücksichtigt.
Zur Etablierung einer postnationalistischen migration policy als neuer Leitdifferenz
Berücksichtigt man die oben formulierten Leitgesichtspunkte, so werden einige wichtige Zusammenhänge deutlich. In den letzten zwanzig Jahren hat sich offenbar schrittweise ein modernisierter Kulturrassismus in der Mitte der Gesellschaft, im Alltag genauso wie in den Behörden veralltäglicht und wird dort, wenn es um “Andere” geht, völlig selbstverständlich praktiziert. Sie werden bei Bedarf aktiviert, so dass man dann zielgerichtet intervenieren kann. Dabei ist erstens erkennbar: Kulturrassistische Narrative definieren im Fall des Falles, sowohl die Situation (fremdes Milieu) als auch die Handlungswege (Kriminalisierung) als auch die Handlungsziele (Exklusion). Zweitens zeigt sich: Der völlig selbstverständliche Rekurs auf die kulturrassistischen Narrative erlauben es, einerseits einem retorspektiven Gemeinschaftsglauben (“wir” im Gegensatz zum Islam) zu huldigen, anderseits aber auch dem eigenen Besitzanspruch zu genügen (kein Recht auf ein Hiersein). Dieser völlig selbstverständliche Rekurs wird in beiden Fällen nicht nur von den Behörden praktiziert, sondern auch in der Öffentlichkeit immer wieder unterstützt, auch wenn er im Fall des Falles einer genaueren Überprüfung letztlich nicht standhält. Drittens wird hier, wenn man den Zeitpunkt der beiden Fälle sowie die dazwischenliegende politische Entwicklung mit der vorübergehenden Grenzöffnung und dem anschließenden Grenzzaunbau quer zur Balkanroute in Rechnung stellt, eine deutliche Entwicklungslinie Linie erkennbar. Im Verlauf der Zeit vollzieht sich eine schrittweise Europäisierung einer ursprünglich weitgehend national ausgerichteten migration policy hin zu einer EU-weiten migration policy. Man kann heute tatsächlich schon von einer post-nationalistischen mobilitäts- und diversitätsfixierten migration policy sprechen. Damit ist der letzte Schritt zu einer neuen europäischen Leitdifferenz getan. Es ist kein Wunder, wenn zum Beispiel die CDU auf in ihrem Werkstattgespräch am 9./10.Februar 2019 in Berlin sich nicht nur von der 2015 in Reaktion auf die erzwungene Grenzöffnung organisierten Willkommenspolitik endgültig distanziert, sondern auch von der EU eine noch radikalere europäische Abschottungspolitik einfordert. Und es stört auch nicht, dass man dazu auf fiktive Distinktionen setzten muss. So fordert man auf einem Gleis die völlige Abschottung und auf einem anderen Gleis eine dem Wohlstandserhalt dienende Einwanderung.
Literatur
Bauman, Zygmunt (2017): Retrotopia. Berlin: Suhrkamp.
Benhabib, Seyla; Resnik, Judith (Hg.) (2009): Migrations and mobilities. Citizenship, borders, and gender. New York, NY: New York Univ. Press.
Wolf-D. Bukow (2019): Migration im Kontext alltäglichen Zusammenlebens. In: Klomann, Verena u.a. (Hg.): Forschung im Kontext von Bildung und Migration. Wiesbaden Springer VS. S.25ff.
Bukow, Wolf-D. Cudak, Karin (2017): Vom Beharrungsvermögen einer rassistisch imprägnierten Migrationsdebatte. In: Forschungsjournal Soziale Bewegungen. Analysen zu Demokratie und Zivilgesellschaft 30 (3/2017) FJSBplus http://forschungsjournal.de/ sites/default/files/fjsbplus/fjsb-plus_2017-3_bukow_cudak.pdf