Was sollen wir aus der Geschichte der Kooperation und des Widerstandes der Sozialen Arbeit im Nationalsozialismus lernen? In Esslingen am Neckar hat Gudrun Silberzahn-Jandt (2015) umfangreiche Forschungen veröffentlicht zu sogenannter „Euthanasie“ in der Zeit der Nationalsozialismus: „Das System von Zwangssterilisation und Euthanasie in Esslingen am Neckar“. Sie schildert, wie die “grauen Busse Patienten*nnen in Todes-Vernichtungsanstalten wie Hadamar und Grafeneck brachten – oder erst vorher in Zwischenanstalten. Sie berichtet die Biografien einzelner Personen, die ermordet sind. Auf der einen Seite der Hochschule Esslingen liegt das Heim, in dem damals psychisch Kranke gelebt haben und von wo aus sie in den Tod deportiert wurden. Auf der anderen Seite der Hochschule lag das Theodor-Rothschild-Haus, einem ehemaligen jüdischen Waisenhaus, welches der jüdische Pädagoge Theodor Rothschild gegründet hatte und aus welchem er viele jüdische Kinder vor den Nationalsozialist*innen rettete. Er selber starb im nationalsozialistischen Konzentrationslager Theresienstadt (zum Wirken und Leben von Theodor Rothschild: vgl. Schroth 1998).
Margarete Junk, von 1938 bis 1945 und von 1947 bis 1965 Leiterin der „Frauenschule für Volkspflege“, die Vorgängerinstitution der Fakultät für Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege an der Hochschule Esslingen, hatte 1940 ein rassistisches, behindertenfeindliches, nationalsozialistisches Buch geschrieben mit dem Titel: “Mädelberufe an vorderster Front“ (Junk 1940). In diesem Buch sprach sie vor allem Eltern an, Ihren Töchtern zu erlauben, eine Ausbildung zur sogenannten „Volkspflegerin“ zu machen. Das oberste Ziel war, das dem Nationalsozialismus gedient werden sollte und dass durch die Soziale Arbeit und die Medizin nur die so kategorisierten “Gesunden und Tüchtigen“ gefördert werden sollten und die anderen nicht (vgl. Kölsch-Bunzen 2015; Bliemetsrieder u.a. 2017). Bei den anderen Personen sollten die, wie sie damals hießen, „Volkspflegerinnen“ (heute Sozialarbeitende) im Sinne der nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) handeln: Einordnen, Auswählen, Fördern oder Vernachlässigen oder gar Töten (vgl. Nolzen/ Sünker 2015). Die nationalsozialistische Volkswohlfahrt hatte siebzehn Millionen Mitgliedern, war die zweitgrößte Massenorganisation in der Zeit des Nationalsozialismus (vgl. Vorländer 1988).
In Ihrem Buch “Bethel in der NS-Zeit. Die verschwiegene Geschichte“, erschienen 2014, schildert Barbara Degen zum einen, das über Deportationen nach Gütersloh und Lengerich, 148 Menschen aus Bethel in den Tod transportiert wurden und zum anderen das im Kinderkrankenhaus „Sonnenschein“ in Bethel über zweitausend Kinder in der Zeit des Nationalsozialismus gestorben sind. Im Durchschnitt bedeutet dies, dass, wenn man die durchschnittliche Sterberate von sieben Prozent im Jahr 1933 berechnet – teilweise hat der Chefarzt von Bethel auch von sechs Prozent in seinen Publikationen (vgl. von Bernuth 1940) gesprochen – mehr als eintausend Kinder überdurchschnittlich über der Sterberate gestorben sind. „Nimmt man bei einer durchschnittlichen Todesrate von max. 7 % bei der Schwere der Krankheiten für Bethel als „normal“ an, so starben nach gegenwärtiger Schätzung über 1.000 Kinder „zu viel“. (Degen 2014: 27) Karsten Wilke hat die Daten von Todesfällen im Stadtarchiv Bielefeld und im Hauptarchiv Bethel untersucht und kommt anhand der Daten, die er auch statistisch ausgewertet hat, zu dem Ergebnis, dass die Frage der „Euthanasie“ (der Ermordung von als „krank“ und behindert“ angesehenen Menschen) für Bethel und das Kinderkrankenhaus „Sonnenschein“ nicht beantwortet werden könne, sondern es Vergleichsstudien brauche (vgl. Wilke 2016).
Um sich den wichtigen Fragen anzunähern, ob in Bethel in der NS-Zeit mehr als tausend Kinder getötet wurden oder nicht, welche Aufgabe die „Volkspflegerinnen“ /Sozialarbeitenden (vgl. Vossen u.a.1991) und Pflegerinnen bei der Erfassung von „erbkranken“ und „behinderten“ Personen, bei Zwangsterilisationen (vgl. Hamm 2017) und möglicherweise in Bethel verübten Tötungen verwirklichten, wird es am 16. Januar 2019 eine hauptsächlich vom Verbund sozio-kultureller Migrantenvereine Dortmund e.V. veranstaltete Tagung zur offenen Frage der vielen verstorbenen Kinder im Kinderkrankenhaus „Sonnenschein“ in Bethel in der Zeit des Nationalsozialismus“ an der Fachhochschule Bielefeld geben. Anmeldung bis zum 22.12.2018 unter tagung-kinder@fh-bielefeld.de Die Tagungsgebühr beträgt 42,50 Euro.
Literatur:
Bliemetsrieder, S./ Fischer, G./ Weik, M. (2017): Berufstätig als ‚Mutter des Volkes’ – tiefenhermeneutische Rekonstruktion historischer Quellen. Das Berufsbild der ‚Volkspflegerin’ bei Margarete Junk, Leiterin der ‚Frauenschule für Volkspflege’, Stuttgart, im Spannungsfeld von Antifeminismus und emanzipatorischer Diskurse. In: soziales_kapital. Wissenschaftliches Journal österreichischer Fachhochschulstudiengänge Soziale Arbeit 18/2017, S. 247-260. http://soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/539
Degen, Barbara (2014): Bethel in der NS-Zeit. Die verschwiegene Geschichte. Bad Homburg: VS-Verlag
Hamm, Margret (Hg.) (2017); Ausgegrenzt! Warum? Zwangssterilisierte und Geschädigte der NS-„Euthanasie“ in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin: Metropol-Verlag
Junk, Margarete (1940): Mädelberufe in vorderster Front. Stuttgart: Deutsche Verlagsgesellschaft.
Kölsch-Bunzen, Nina (2016): „‚Nur dem Gesunden, Tüchtigen, dem Wertvollen in unserem Volke soll unsere Fürsorge gelten.‘ – Dr. Margarete Junk plädiert im Nationalsozialismus als Leiterin der Frauenschule des Schwäbischen Frauenvereins für einen Paradigmenwechsel von der Wohlfahrtspflege zur ‚Volkswohlfahrt‘“. In Bliemetsrieder, Sandro/ Gebrande, Julia/ Jaeger, Arndt/ Melter, Claus/ Schäfferling, Stefan (Hg.): Bildungsgerechtigkeit und Diskriminierungskritik. Historische und aktuelle Perspektiven auf Gesellschaft und Hochschulen., Weinheim und Basel: Beltz Juventa, S. 22–40.
Nolzen, Armin/ Sünker, Heinz (2015): Nationalsozialismus. In: Otto-Hans-Uwe/ Thiersch, Hans (Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit. 5. erweiterte Auflage. München/ Basel. Ernst Reinhardt-Verlag, S. 1091-1104
Schroth, Claudia (Hg.) (1998): Tröstet Euch uns geht es gut Ein jüdischer Pädagoge zwischen Achtung und Ächtung. Herba Druck und Verlag: Plochingen.
Silberzahn-Jandt, Gudrun (2015): Esslingen am Neckar im System von Zwangssterilisation und “Euthanasie” während des Nationalsozialismus. Strukturen – Orte – Biographien. (Esslinger Studien Schriftenreihe 24). Ostfildern: Jan Thorbecke.
Silberzahn-Jandt, Gudrun (2016a): Herausforderungen in der Auseinandersetzung mit Zwangssterilisation und „Euthanasie“ in Esslingen in der Zeit des Nationalsozialismus. In: Bliemetsrieder, Sandro/Gebrande, Julia/Jaeger, Arndt/Melter, Claus/Schäfferling, Stefan (Hrsg.): Bildungsgerechtigkeit und Diskriminierungskritik. Historische und aktuelle Perspektiven auf Gesellschaft und Hochschulen. Weinheim/München: Beltz Juventa. S. 43–51.
von Bernuth, Fritz (1940): Leitfaden für den Kursus der Säuglings- und Krankenschwestern am Kinderkrankenhaus der Westf. Diakonissenanstalt „Sarepta“ in Bethel bei Bielefeld. Herausgegeben von der Diakonissenanstalt Sarepta Bethel bei Bielefeld.
Vorländer, Herwart (1988): Die NSV: Darstellung und Dokumentation einer nationalsozialistischen Organisation. Bd. 35. Schriften des Bundesarchivs. Boppard am Rhein: Boldt.
Vossen, Johannes u.a (1991) Von der Armenpflege zum Allgemeinen Sozialdienst: Entstehung und Entwicklung der Familienführsorge in Bielefeld (Hrsg.) Stadt Bielefeld. Bielefeld.
Wilke, Karsten (2016): Das Betheler Kinderkrankenhaus „Sonenschein“ 1929-1950. Annäherung an die Geschichte eine Krankenhauses im Kontext von Nationalsozialismus und Krieg. In: Benad, Matthias/ Schmuhl, Hans-Walter/ Stockhecke, Kerstin (HgJ: Bethels Mission (4). Beiträge von der Zeit des Nationalsozialismus bis zur Psychiatriereform. Bielefeld: Luther, Verlag, S. 45-117