Katharina Fegebank
Senatorin für Wissenschaft, Forschung & Gleichstellung, Zweite Bürgermeisterin der Freien und Hansestadt Hamburg
12.500 Flüchtlinge sind im ersten Halbjahr 2015 nach Hamburg gekommen, beinahe so viele wie im gesamten Vorjahr. In fast jedem Viertel sind neue Unterkünfte für geflohene Menschen entstanden: in ehemaligen Industriegebäuden, in Containerdörfern auf Parkplätzen, in den Messehallen und – auch das – in Zeltstädten. Die Debatte über geeignete Flächen bestimmt das politische und mediale Tagesgeschäft. Bis zum Wintereinbruch sollen alle Angekommenen ein festes Dach über dem Kopf haben. In der Nachbarschaft fast jeder Unterkunft hat sich eine Flüchtlingsinitiative gegründet: Ehrenamtliche sortieren Spenden, helfen bei Behördengängen und Arztbesuchen, organisieren Nachbarschaftsfeste, Ausflüge und vieles mehr.
Das ist eine große Herausforderung für Hamburg, aber auch eine große Chance. Unsere Stadt war schon vor dem Anstieg der Flüchtlingszahlen seit 2012 das Bundesland mit dem höchsten Anteil an EinwohnerInnen mit internationalem Hintergrund: Rund 29 Prozent. Jedes zweite Grundschulkind ist in zwei oder mehr Sprachen und Kulturen zu Hause. Das hat viel mit unserer Geschichte zu tun: Hamburg war schon immer eine Ankunftsstadt. Die Dynamik der Stadt speist sich zu einem großen Teil daraus, dass Menschen zu uns kommen, die nicht alles so lassen wollen, wie es ist. Die etwas aus sich machen wollen. Die ein Umfeld suchen, in dem sie sich mit ihren Fähigkeiten und Talenten entfalten können.
Auch jetzt ist der Zuzug Schutzsuchender aus Kriegs- und Krisengebieten eine Chance: Sie machen Hamburg reicher, bunter und vielfältiger. Viele der neuen Mitbürgerinnen und Mitbürger werden bleiben. Langfristig wird die Stadt von ihrem Potenzial profitieren, Stichwort Fachkräftemangel. Denn die Geflüchteten von heute können die Ärztin oder der Altenpfleger von morgen sein. In dieser Hinsicht gibt es schon jetzt viele Anfragen aus der Wirtschaft.
Dazu müssen wir aber dafür sorgen, dass jeder und jede auch sein oder ihr Potenzial entfalten kann. Der Schlüssel dazu liegt bei Bildung und Ausbildung. Hier hat die Stadt in den vergangenen Jahren viel erreicht. Mehr Jugendliche mit internationalem Hintergrund machen Abitur: Ihr Anteil stieg zwischen 2011 und 2014 von 36 auf fast 40 Prozent. Und weniger von ihnen verlassen die Schule ohne Schulabschluss: Ihr Anteil sank im gleichen Zeitraum von fast 12 auf 7,6 Prozent. Auch wenn der Abstand zu den Zahlen bei den einsprachigen Schulentlassenen noch immer zu groß ist: Offenbar profitieren die Mädchen und Jungen von den zurückliegenden großen Reformen: Inklusion, Ganztag, Einführung des zweigliedrigen Schulsystems bei den weiterführenden Schulen. Diese Reformen haben den Anspruch, bildungsbenachteiligten Kindern und Jugendlichen bessere Chancen zu eröffnen – ganz gleich, worin dieser Bildungsnachteil genau besteht.
Sprachliche Nachteile auszugleichen, darum geht es bereits vor der Einschulung. Denn der Zugang zu Bildung ist zunächst die deutsche Sprache. Mit ihr erschließen sich SchülerInnen alle weiteren Bildungsinhalte – sowohl geisteswissenschaftliche als auch naturwissenschaftliche oder technische Inhalte. Darum ist es so wichtig, dass Kinder in den Kindergarten gehen – möglichst früh. Wer schon mit zwei Jahren Farben in mehreren Sprachen auseinanderhalten kann, kann später in der Schule auch gut der Farbenlehre im Physikunterricht folgen. In Hamburg können Kinder von der Geburt bis zur Einschulung täglich fünf Stunden in den Kindergarten, ohne dass die Eltern dafür Beiträge bezahlen. Das gilt natürlich auch für die Kinder geflohener Familien.
Aber manchmal reicht das nicht. Manche Kinder brauchen zusätzlich gezielte Sprachförderung, sowohl mehrsprachige Kinder als auch einsprachige. Deshalb gibt es in Hamburg für alle viereinhalbjährigen Kinder – also rechtzeitig vor der Einschulung – eine verpflichtende Untersuchung beim Schulärztlichen Dienst. Dabei wird festgestellt, wie gut ein Kind deutsch sprechen kann und ob es eine Vorschule oder eine Kindertagesstätte mit Vorschulunterricht besuchen muss oder nicht.
Das Hamburger Sprachförderkonzept ermöglicht es, dass SchülerInnnen bis nach dem Realschulabschluss Sprachförderung bekommen – über alle Schulstufen und Fächer hinweg. Gleichzeitig werden mehrsprachige Kinder und Jugendliche dabei unterstützt, ihre natürliche Mehrsprachigkeit zu behalten und weiterzuentwickeln: In den Grundschulen werden viele Herkunftssprachen unterrichtet. An den weiterführenden Schulen gibt es gibt zweisprachigen Unterricht für Deutsch-Türkisch, Deutsch-Spanisch, Deutsch-Portugiesisch und Deutsch-Italienisch. Und Sprachen wie Türkisch, Russisch und Polnisch können als Wahlpflichtfächer belegt werden.
Schulpflichtige Flüchtlingskinder brauchen selbstverständlich zunächst Unterricht in Deutsch als Fremdsprache. Den bekommen sie schon in der Erstaufnahmeeinrichtung, differenziert nach Alter und Vorbildung. In der Regel können sie nach einem Jahr in eine Regelklasse wechseln, erhalten aber weiter Sprachförderung. Geflüchtete Jugendliche mit gesichertem Aufenthaltsstatus werden so bald wie möglich auf eine Berufsausbildung vorbereitet.
Lehrkräften mit Migrationsgeschichte kommt eine besondere Bedeutung zu. Sie sind in mehrfacher Hinsicht Vorbild für junge Leute: als Menschen, die das deutsche Schulsystem durchlaufen, studiert und einen Lehrberuf ergriffen haben. Sie sind Vorbild auch für junge Flüchtlinge, die ihr Studium in der Heimat abbrechen mussten und nun vor der Frage stehen, ob und wie sie ihre akademische Laufbahn fortsetzen können. Dieses Thema liegt mir als Senatorin für Wissenschaft und Forschung natürlich besonders am Herzen. Auf Bundes- und Landesebene arbeiten wir intensiv an der Frage, wie wir qualifizierten Geflüchteten den Weg an die Hochschulen ebnen können. Dabei geht es unter anderem um die Anerkennung von Schulabschlüssen, von Studienleistungen und von Studien- und Berufsabschlüssen, die oft nur schwer oder gar nicht belegbar sind, um Deutschkurse für Geflüchtete, um englischsprachige Studienangebote, um studentisches Wohnen und Ähnliches. Die Hamburger Hochschulen engagieren sich dabei sehr: Die Universität Hamburg beispielsweise hat eine Flüchtlingsbeauftragte eingesetzt. Sie koordiniert alle Aktivitäten der Universität für Flüchtlinge. Die Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg bietet ein umfangreiches Gasthörerprogramm an. Andere Hochschulen planen spezielle Studienangebote und Deutschkurse für Flüchtlinge, Tutorenprogramme, Curricula auf Englisch, Leitfäden zur Orientierung und vieles mehr. Dabei kommt den Hochschulen zugute, dass sie viel Erfahrung und Kompetenz im Umgang mit kultureller Vielfalt haben. Wissenschaft ist bekanntlich per se grenzüberschreitend und vielfältig – eben universell.
Die geflüchteten Menschen werden Hamburg, werden Deutschland verändern. Sie werden unser Land kulturell, menschlich, wirtschaftlich und gesellschaftlich reicher machen. Hamburg wird dabei wie so oft in seiner Geschichte dafür arbeiten, dass Menschen, die hier ihr Glück suchen, eine Chance bekommen. In Hamburg sagt man „Moin!“
Katharina Fegebank, Zweite Bürgermeisterin und Senatorin für Wissenschaft, Forschung und Gleichstellung Hamburg