Prof. Dr. Rainer Geißler
Universität Siegen
Bildung ist eine zentrale Ressource für individuelle Lebenschancen. Mit einem guten Qualifikationsniveau hängen die Chancen auf beruflichen Erfolg, auf ein gutes Einkommen und einen entsprechenden Lebensstandard zusammen. Gut Gebildete sind in der Regel seltener arbeitslos oder arm sowie gesünder und zufriedener. Nicht nur für den einzelnen, auch für die Gesellschaft insgesamt ist Bildung eine zentrale Ressource: sie ist die Basis für das Wachstum von Wirtschaft und Wohlstand.
Bildungsnachteile für junge Migranten
Die Bildungschancen für junge Menschen mit Migrationshintergrund – ich nenne sie im folgenden sprachlich einfacher junge Migranten – haben sich in Deutschland im vergangenem Jahrzehnt verbessert, aber auch heute noch sind sie deutlich schlechter als die Chancen der jungen Einheimischen. Ausländische Kinder[1] werden bei der Einschulung doppelt so häufig zurückgestellt wie deutsche und besuchen doppelt so häufig eine Förderschule für Lernbehinderte. Sie bleiben in der 1. bis 3. Klasse viermal so häufig sitzen und in der 4. bis 6. Klasse doppelt so häufig. 2011 verlassen 12 % (deutsche 5 %) die Schule ohne Hauptschulabschluss, 32 % (deutsche 16%) mit Hauptschulabschluss. Die allgemeine Hochschulreife erwerben lediglich 14 % (deutsche 32%).
Die Bildungschancen der Migrantenkinder insgesamt sind etwas besser als diejenigen der Ausländer, weil junge Deutsche mit Migrationshintergrund etwas besser gebildet sind als junge Ausländer. So studieren 2008 von den 20-30jährigen mit Migrationshintergrund 12 %, von den gleichaltrigen Einheimischen tun es 19 %. Besonders alarmierend ist die Misere der Migranten in der beruflichen Ausbildung. Von den 25-34-jährigen Ausländern sind 2010 weiterhin 38 % ohne beruflichen Abschluss, unter den zugewanderten Migranten sind es 33 %, unter den in Deutschland geborenen 25 % im Vergleich zu 9 % bei den Einheimischen.
Zwischen den Migranten aus verschiedenen Herkunftsländern bestehen erhebliche Unterschiede. So haben z.B. junge Menschen aus einigen Flüchtlingsländern – aus Vietnam, der Ukraine oder dem Iran – genauso gute oder sogar bessere schulische Chancen als Deutsche. Auf der anderen Seite gehören die Nachkommen von Familien aus einigen früheren Gastarbeiterländern – aus der Türkei, Italien und Marokko – zu denjenigen, die besonders selten ein Gymnasium und besonders häufig Hauptschulen besuchen.
Ursachen der ungleichen Bildungschancen
Die Ursachen der Bildungsnachteile sind sehr komplex und kompliziert. Sie sind bisher nur sehr bruchstückhaft empirisch-theoretisch ausgeleuchtet. Die folgende Skizze von drei besonders wichtigen Ursachenkomplexen orientiert sich an empirisch gut nachgewiesenen Sachverhalten.
Tendenzielle Unterschichtung durch Migranten
Die deutsche Gesellschaft ist durch Migranten tendenziell unterschichtet. Das heißt: Junge Migranten stammen häufiger als junge Einheimische aus statusniedrigen Familien und seltener aus statushöheren Familien.
Die Folgen der Unterschichtung sind in Deutschland aus zwei Gründen sehr verhängnisvoll:
- Eine Sonderauswertung der PISA-Daten zeigt, dass die Unterschichtung in Deutschland erheblich stärker ist als in anderen Einwanderungsländern der OECD. Bei unseren Nachbarn Belgien, Frankreich, Niederlande, Dänemark, Schweiz und Österreich ist der soziale Abstand zwischen Migranten und Einheimischen um ein Drittel bis um die Hälfte kleiner. Die starke Unterschichtung ist die Hypothek, die uns die Gastarbeiterpolitik, das lange Fehlen einer zukunftsorientierten Migrationspolitik und die damit zusammenhängenden Integrationsversäumnisse hinterlassen haben.
- Deutschland gehört zu denjenigen OECD-Gesellschaften, wo die schichttypischen Schulleistungsunterschiede am weitesten auseinanderklaffen. 2009 rangiert es unter den 34 OECD-Ländern in Mathematik auf Rang 3, in Naturwissenschaften auf Rang 6 und im Lesen auf Rang 8.
Der leistungsfremde soziale Filter – die Enthüllung der meritokratischen Illusion
Da Deutschland stark durch Migranten unterschichtet ist, soll hier kurz eine wichtige Ursache für die schichttypische Auslese in den Schulen skizziert werden: der leistungsfremde soziale Filter. Vor den PISA-Studien war in der Öffentlichkeit eine simple meritokratische Erklärung für die schichttypische Bildungsungleichheit verbreitet: die starke soziale Auslese sei durch Leistung bedingt. Wer tüchtig und leistungsfähig ist, setze sich in den Schulen durch. Bereits in den 1960er Jahren haben bildungssoziologische Studien gezeigt, dass diese Erklärung unvollständig und einseitig ist. Sie weisen darauf hin, dass im deutschen Bildungssystem ein leistungsfremder sozialer Filter existiert. Die PISA-Studien haben diesen Filter erneut eindrucksvoll bestätigt. So sind z.B. die Chancen der 15-Jährigen aus der Oberen Dienstklasse – wie Akademikerfamilien bei PISA genannt werden – , ein Gymnasium zu besuchen, um das Sechsfache größer sind als bei Jugendlichen aus Facharbeiterfamilien; aber auch bei gleichen kognitiven Grundfähigkeiten und bei gleicher Leseleistung besuchen die Akademikerkinder noch dreimal häufiger ein Gymnasium als die Facharbeiterkinder. Die meritokratische Erklärung ist also nur die „halbe Wahrheit“, die andere Hälfte der Auslese hat mit der Leistung nichts zu tun. Wer diesen Filter ignoriert oder unterschätzt, unterliegt einer meritokratischen Illusion. Der leistungsfremde Filter macht deutlich dass die vorhandenen Bildungsressourcen bei Einheimischen und Migranten nicht angemessen entwickelt werden, ein Teil ihres Leistungspotentials wird verschenkt.
Der soziale Filter hat seine Wurzeln sowohl in den Familien als auch in den Schulen. Wichtig sind insbesondere die Lehrerempfehlungen für die weitere Bildungskarriere am Ende der Grundschulzeit. Eine ältere Vollerhebung bei 13.000 Hamburger Fünftklässlern kommt zu folgendem Ergebnis: Die Lehrerinnen fordern von Kindern aus bildungsfernen Familien erhebliche höhere Leistungen für eine Empfehlung auf ein Gymnasium als von Kindern aus bildungsnahen Familien. Bei einer Empfehlung für das Gymnasium reicht bei Kindern von Vätern mit Abitur eine unterdurchschnittliche Leistung von 65 Punkten aus, Kinder von Vätern ohne Hauptschulabschluss müssen dagegen 98 Punkte erbringen – also 50 % mehr! Die Internationalen Grundschul – Lese- Untersuchungen (IGLU) bei Viertklässlern belegen für Gesamtdeutschland, dass sich an dieser Situation nichts verbessert hat, zwischen 2001 und 2006 hat der Einfluss leistungsfremder Merkmale sogar noch etwas zugenommen.
IGLU 2001 ermittelte bei jungen Migranten nach Kontrolle der sozialen Benachteiligung eine zusätzliche etwas schwächer ausgeprägte ethnische Diskriminierung. Diese ist jedoch heute verschwunden – vermutlich ein Effekt der öffentlichen Debatte über die Bildungsprobleme der Migranten.
Institutionelle Barrieren: frühe selektive Trennung und eine völlig unterentwickelte Förderkultur
Das Ausmaß der sozialen und ethnischen Bildungsungleichheiten hängt auch mit der Gesamtstruktur eines Bildungssystems zusammen.
Mehrere international vergleichende Studien belegen die folgende These: Je früher die selektive Trennung erfolgt – d. h. je früher junge Menschen auf verschiedene Ebenen eines hierarchisch gestuften Bildungssystems verteilt werden, umso größer sind die Leistungsunterschiede zwischen den Schülern aus den oberen und unteren Schichten. Deutschland gehört zu den Ländern, wo der gemeinsame Unterricht aller Schüler in der Regel bereits im 10. oder 12. Lebensjahr beendet ist.
Des weiteren ist die Kultur des Förderns in Deutschland völlig unterentwickelt. Einer von mehreren Belegen für diese These ist der Mangel an schulischen Förderkursen in der Landessprache. Obwohl die Kenntnisse in der Landessprache für alle Schulleistungen der jungen Migranten eine zentrale Rolle spielen, wird nur an 30 % der deutschen Schulen ein zusätzlicher sprachlicher Förderunterricht angeboten. Deutschland liegt damit unter den 21 wichtigsten Einwanderungsländern, wo der Förderunterricht im Durchschnitt an 57 % der Schulen existiert, auf dem letzten Rang.
Es ist inzwischen unbestritten, dass in Deutschland ein Mangel an Fachkräften besteht, der aus demografischen Gründen weiter zunehmen wird. Daher ist es wichtig, die vorhandenen Bildungsressourcen bei den Migranten und auch bei den Einheimischen besser auszuschöpfen. Die bisher „verschenkten Ressourcen“ – früher hätte man dazu „Begabungsreserven“ gesagt – müssen entfaltet und genutzt werden – z.B. durch die Verbesserung der völlig unterentwickelten Förderkultur.
Fördern kostet allerdings Geld. Auch bei der Finanzierung der Bildung ist Deutschland sparsamer als die meisten anderen OECD-Länder. 2009 lagen seine Bildungsausgaben in Prozent des Bruttoinlandprodukts pro Kopf nur bei 85 % des OECD-Durchschnitts. Nur 5 der 35 Länder ließen sich die Bildung ihres Nachwuchses noch weniger kosten. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an eine Einsicht von J. F. Kennedy:
There is only one thing in the long run more expensive than education –
no education
[1] Die Schulstatistiken sind bis heute leider Ausländerstatistiken geblieben, sie erheben nicht den Migrationshintergrund. Personen mit Migrationshintergrund (hier auch Migranten genannt) sind nach Deutschland eingewandert oder haben mindestens einen eingewanderten Elternteil. Ausländer stellen einen Teil dieser Gruppe.