Kien Nghi Ha
Universität Tübingen
Die offiziellen Gedenkreden und öffentlichen Feierlichkeiten zum historischen Jahrestag sind inzwischen verklungen. Unklar bleibt, ob und wann das nächste Mal in einem ähnlichen Ausmaß an das größte Pogrom in der deutschen Nachkriegszeit gedacht wird. Sicherlich nicht zum 35., aber vielleicht zum 40. Jahrestag? Niemand weiß es mit Sicherheit. Wir wissen nicht mal, ob die deutsche Gesellschaft sich an das 50jährige Gedenken erinnern wird. Neben der Frage, ob es ein Gedenken gibt, ist vor allem die Frage, an was gedacht wird wichtig.
Der lange Kampf um Begriffe, Bedeutungen und Geschichtsbilder
Mit welcher Begrifflichkeit ein historisch signifikantes Ereignis umrissen und für die Allgemeinheit auf einen Nenner gebracht wird, ist keine Frage des Zufalls, sondern der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse im Deutungskampf. Es macht einen grundlegenden Unterschied, ob wir das Ereignis als Krawall oder als Pogrom verstehen und auf dieser Grundlage das Geschichtsbild in der kollektiven Erinnerung konstruieren. Die Implikationen dieser unterschiedlichen Kategorien mit ihren divergenten Bedeutungen sind weitreichend: Je nach dem welcher Begriff verwandt wird, entstehen ganz gegensätzliche Geschichtsnarrative, die den Blick und das Verständnis vorprägen. Denn über das Deskriptive hinaus findet auch eine normative Bewertung und zeitgeschichtliche Kategorisierung statt, die Fragen und Antworten etwa nach Ursachen, zentralen Akteuren und Verantwortung vordefiniert.
Wer die letzten 30 Jahre Revue passieren lässt, wird feststellen, dass diese Frage sehr unterschiedlich beantwortet wurde. Für was Rostock-Lichtenhagen politisch steht, hängt nicht zuletzt davon ab, welche Interessen und Perspektiven im gesellschaftlichen wie medialen Diskurs dominant sind und Deutungsmacht erlangen. Gegenwärtig fällt auf, dass das Pogrom in den Medien und in der politischen Öffentlichkeit meist immer noch relativierend als fremden- bzw. ausländerfeindliche Übergriffe und Ausschreitungen bezeichnet wird. Manchmal wird auch ausweichend von pogromartigen Gewaltexzessen gesprochen, wobei dann nicht selten die Mitverantwortung staatlicher und medialer Akteure ausgeklammert und der moralische Fingerzeig einzig auf den rassistischen Mob begrenzt wird. Trotzdem ist es zumindest ein kleiner Fortschritt, dass die bei früheren Jahrestagen häufig auftauchenden Verharmlosungen als „Krawalle“ und „Randale“ inzwischen selten zu finden sind. Auch die anfänglich stark diskutierte These, die die rassistische Gewalt als scheinbar zufälliges Naturphänomen oder als Betriebsunfall im Sinne einer „Explosion“ sah, hat inzwischen stark an medialer Sichtbarkeit verloren. Ebenso ist die früher populäre Erklärung, die die Gewalt als verständlicher Sozialprotest von vernachlässigten Modernisierungsverlierern der deutschen Einheit zu rechtfertigen schien, inzwischen kaum noch der Rede wert. Angesichts der begrifflichen Verwirrungen und fragwürdigen Einordnungen erscheint es angemessen uns zu vergegenwärtigen was vor 30 Jahren eigentlich passiert ist, dass dieses Ereignis zu einem rassistischen Pogrom machte.
Warum ist Rostock-Lichtenhagen ein Pogrom?
Von einem rassistischen Pogrom ist dann zu sprechen, wenn Mitglieder der gesellschaftlich dominanten Gruppe gewalttätig gegen eine rassistisch diskriminierte Minderheit vorgeht und dieser Vorgang durch das Handeln oder Nicht-Handeln staatlicher Akteure toleriert oder unterstützt wird. Diese drei Elemente müssen bei einem Pogrom vorliegen, wobei die Rolle staatlicher Organe für die Angemessenheit des Begriffs entscheidend ist.
Zwischen dem 22. und 26. August 1992 griffen bis zu Tausend Rechtsextremist:innen zunächst die Zentrale Aufnahmestelle (ZASt) für Asylsuchende an, in der sich vor allem geflüchtete Rom:nja-Familien aufhielten. Nach der Räumung der ZASt verlagerte sich das Pogrom auf ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter:innen, das am Abend des 24. August in Brand gesetzt wurde. Die etwa 115 Vietnames:innen, darunter Kleinkinder und Hochschwangere, konnten sich zusammen mit einem ZDF-Fernsehteam, linken Aktivist:innen und dem Rostocker Ausländerbeauftragen mit knapper Not vor dem Tod durch Rauchvergiftung in ein Nachbargebäude retten. Zum Höhepunkt des Pogroms herrschte eine volksfestartige Stimmung mit rasch aufgebauten Bier- und Imbissbuden. Bis zu 3.000 Schaulustige bejubelten die rassistische Gewalt und feuerten die bundesweit angereisten Täter:innen an. Während viele der Angegriffenen in der Folgezeit abgeschoben wurden und die ZASt dauerhaft geschlossen blieb, verlief die politische Aufarbeitung und strafrechtliche Verfolgung sehr schleppend und defizitär. Da während des Pogroms nur wenige beweissichernde Festnahmen erfolgten, wurden am Ende nur 40 Täter:innen meist zu geringen Geld- und Bewährungsstrafen verurteilt. Statt dessen beschloss der Deutsche Bundestag am 6. Dezember 1992 mit den Stimmen von CDU, CSU, FDP und SPD das Grundrecht auf Asyl stark einzuschränken.
Die Grundrechtsänderung ist ein zentraler Schlüssel um die Angriffe in Lichtenhagen als Pogrom zu analysieren. Dieses Projekt liefert ein grundlegendes Motiv und ambitioniertes politisches Ziel, das nur durch die Herstellung einer tiefen Krisenstimmung in breiten Schichten der Gesellschaft errreichbar war. Denn je einschneidender die Bedrohung erschien, desto stärker wuchs die Zustimmung zu brachialen Maßnahmen. So wurde in einer Täter-Opfer-Umkehrung die rassistische Gewalt nicht nur in Lichtenhagen als Ausdruck der „Überforderung besorgter Bürger“ legitimiert und instrumentalisiert. In diesem Rahmen wurde auch der „massenhafte Asylrechtsmissbrauch“ als neues Delikt erfunden und über massenmediale Multiplikatoren eine extrem aufgeheizte Debatte orchestriert. In einem umheimlichen Eifer verbreiten auch viele Leitmedien in der Hochzeit nahezu täglich alarmierende Artikeln und Kommentare gegen die vermeintlich „unkontrollierte Asylantenflut“ auf die deutschen Sozialsysteme. Innerhalb dieser politischen Logik erscheint auch die rassistische Gewalt als einkalkulierter Kollateralschaden und das systematische Versagen der Polizei als folgerichtig, die selbst dann nicht eingriff als das Sonnenblumenhaus mit den Eingeschlossenen in Flammen stand. Wie rabiat die Sicherheitskräfte vorgehen und wie schnell sie in großer Zahl mobilisiert werden können, wenn der politische Willen vorhanden ist, zeigte sich auf der anti-rassistischen Solidaritätsdemonstration wenige Tage später. Das Pogrom muss im Kontext dieser langjährigen Kampagne betrachtet werden. Es ist auch in einer historischen Entwicklung eingebettet, dass die vorangegangenen Pogrome in Hoyerwerda (September 1991) und in Mannheim-Schönaus (Mai/Juni 1992) mit den späteren rassistischen Morde etwa in Möln und Solingen konkret verbindet. Obwohl das Pogrom eine besonders drastische Form des strukturellen und institutionellen Rassismus darstellt, spielen diese Faktoren auch bei polizeilichen Diskriminierungen und Fehleinschätzungen etwa im Falles des NSU-Terrors und des Amoklaufs in Hanau ein fatale Rolle.
Ausblick
Wurde der Pogrombegriff im Falle von Lichtenhagen früher als linksradikal tabuisiert oder zumindest als unschicklich angesehen, findet er in jüngster Zeit zunehmend Eingang in das Vokabular der Mainstream-Medien. Die zunehmende zeitliche Distanz hat zur Abnahme der gesellschaftspolitischen Brisanz des Falls beigetragen, so dass heute anscheinend mehr Freiräume für eine ehrlichere und offenere Auseinandersetzung existieren. Sicherlich spielt auch die größere Aufgeschlossenheit in der jüngeren Generation und eine zunehmende Sensibilisierung für institutionellen Rassismus im Medienbetrieb eine Rolle. So gesehen hat es in den letzten 30 Jahren einen sehr langsamen medialen und zivilgesellschaftlichen Verständigungs- und Klärungsprozess gegeben. Noch bemerkenswerter ist, dass Vertreter:innen der Stadt Rostock in offiziellen Statements und Ankündigungen zum diesjährigen Jahretag erstmals anfangen Rostock-Lichtenhagen als Pogrom zu bezeichnen. Diese Entwicklung lässt die Hoffnung aufkommen, dass nach der symbolischen Entschuldigung der Stadt zum 10. Jahrestag die heute politisch Verantwortlichen sich auch zu einer konkreten „Wiedergutmachung“ für das historische Unrecht durchringen werden. Auf zivilgesellschaftlicher Seite wird neben der Überarbeitung des unverständlichen Rostocker Gedenkkonzepts auch verstärkt Entschädigungen und ein Rückkehrrecht für die Betroffenen des Pogroms gefordert. Zu hoffen bleibt auch, dass der Wissenschaft- und Kulturbetrieb sich stärker mit der rassistischen Gewaltwelle in den 1990er Jahren auseinandersetzt. Bisher bildet Danh Thy Nguyens Theaterstück „Sonnenblumenhaus“ die einzige kulturelle Aufarbeitung, die das Pogrom nicht aus der Weißen Tätersicht, sondern aus der Perpektive der Betroffenen thematisiert.
Kien Nghi Ha, promovierter Kultur- und Politikwissenschaftler, forscht als Postdoctoral Researcher zu Asian German Studies an der Universität Tübingen. Seine Monografie „Unrein und vermischt. Postkoloniale Grenzgänge durch die Kulturgeschichte der Hybridität und der kolonialen ‚Rassenbastarde‘“ (2010/2015) wurde mit dem Augsburger Wissenschaftspreis für Interkulturelle Studien ausgezeichnet. Zuletzt ist der Sammelband „Asiatische Deutsche Extended. Vietnamesische Diaspora and Beyond“ (2021) erschienen.