Es ist alles falsch. Es ist alles ganz falsch was Georg Auernheimer schreibt. Als Leser ertappt man sich dabei, wie man gedanklich alles widerlegt, korrigiert und berichtigt, was er in seinem Beitrag „Nationalismen als politischer Sprengstoff“ schreibt. Und dafür muss man noch nicht einmal glühender Amerikafreund oder ähnliches sein. Was dort zu lesen ist, ist die ganz, ganz alte Kost, die ganz grobe Küche, die wirklich eingefleischte alte DKP-Schule. Anstelle alles korrigieren zu wollen, was ins Unendliche gehen würde (obwohl der Text so kurz ist), sollte der Text vielleicht besser als exemplarische Fallstudie darüber gelesen werden, was passiert, wenn das weltpolitische Geschehen die eigenen Überzeugungen für nichtig und offenkundig falsch erklärt. Größe würde bedeuten, einzugestehen, dass man falsch lag. Die kann man nicht von jedem erwarten. In dem Fall wäre Zurückhaltung eine Möglichkeit. Der andere Weg, gewählt von Georg Auernheimer (nicht nur von ihm, deswegen exemplarische Fallstudie), führt ins geistige Aus, in Verbiegungen und Verdrehungen, Verleumden und Verhöhnen und in die Verabschiedung von der Welt als Ort beobachtbaren Geschehens. Was Auernheimer schreibt, bekommt man gegenwärtig nicht mal von Sahra Wagenknecht (und das will schon etwas heißen), höchstens noch von Hans Modrow.
Und damit ist man auch schon beim geistigen Umfeld des Textes. In diesem Umfeld ist Nationalismus in jeder Form schuld an allem Übel der Welt und somit auch an Russlands Angriffskrieg mitsamt Kriegsverbrechen, Vernichtungstendenzen und allem, was erst später rauskommen wird (was alles aber mit keiner Silbe erwähnt wird). Nun ist es selbstverständlich nicht der russische Nationalismus, der gerade (mal wieder) blutig imperialistisch auftritt, sondern der ukrainische, der die Schuld trägt! Denn es gilt das Motto: Lieber Großreich als Nationalstaat und je größer Russland, desto größer auch die berechtigte Hoffnung darauf, endlich einmal nicht unter der Knute der schlimmen Nato, der kriegstreibenden Amerikaner etc. leben zu müssen, friedlich selbstverständlich, in geordneten Verhältnissen. Der autoritäre Charakter lässt grüßen. Als Legitimation und historische Referenz wird der Nationalismus der jugoslawischen Teilrepubliken heranzogen, der, Auernheimer folgend, die hauptsächliche Schuld daran trug, dass der Vielvölkerstaat in schlimmsten Gemetzeln zusammenbrach. In dieser Logik funktioniert nur schwarz und weiß: Nationalismus wird ausschließlich und immer von nazistisch-faschistoiden Bevölkerungsgruppen betrieben, die sich gegen den ordnenden, guten Gesamtstaat wenden.
Und weil Nationalismus nur von Faschisten betrieben werden kann, ist es jetzt die Ukraine, die mit ihren Unabhängigkeitstendenzen und ihrem – nirgendwo nachzuweisenden, höchstens gefühlten, aber das Gefühl ist heutzutage einigen ja heiliger als tatsächliche Erkenntnis – Vernichtungswillen der russischen Sprache gegenüber, den Krieg geradezu unumgänglich gemacht hat. Die Bevölkerung der Ukraine besteht somit (Stichwort: schwarz und weiß) ausschließlich aus unterdrückten Russen und Russlandfreudigen einerseits und nazistischen Faschisten andererseits (das Referendum über die Unabhängigkeit der Krim und der sog. „Volksrepubliken“ sind somit legitime politische Akte und nicht durch ein in ein fremdes Land eingreifendes Militär ermöglicht). Von jemandem, der, zumindest irgendwann mal, wissenschaftlich gearbeitet hat, muss man erwarten, dass mehr Fähigkeiten zur Differenzierung vorhanden sind. Dass diese hier aufgeopfert werden, kann also nur Folge persönlicher Abwägung, nicht mangelnden Könnens sein. Quellenarbeit findet sich im gesamten Text selbstverständlich nicht. Was soll man zu solchen Aussagen, wie sie Auernheimer trifft, auch zitieren? Russia Today? Irgendeinen Troll aus St. Petersburg? Die einzig erwähnte Quelle ist ein Link zu Wikipedia (lernt man im ersten Semester: Nie Wikipedia zitieren!), alles andere wird nicht belegt, es gibt keine Verweise, nix.
Das meiste, was Auernheimer beschreibt, ist gelogen, erfunden oder wenigstens böswillig verdreht. Nicht alles von ihm selbst, aber er greift bereitwillig auf, um die eigene Haltung, die eigenen fehlgeleiteten Überzeugungen nicht über Bord werfen zu müssen. Es zeigt sich ein Geschichtsverständnis, das auf dem Niveau Putins stehengeblieben ist. Die Euromaidan-Proteste 2013/14? Hauptsächlich von faschistoiden und rechten Gruppen initiiert. Dass bei den Demonstrationen nach vorsichtigen Schätzungen Hunderttausende auf die Straße gingen, ignoriert. Das Minsker Abkommen? Von einer nicht umsetzungswilligen ukrainischen Regierung zerstört.
Kein Wort übrigens über Imperialismus. Abgesehen von, na klar, den üblichen Seitenhieben gegen die Nato. Inwiefern ein ukrainischer Nato-Beitritt zur „nahtlosen Einkreisung“ Russlands durch die Nato geführt hätte, bleibt angesichts mehrerer zehntausend Kilometer Grenze Russlands von China bis zum Kaspischen Meer und bis hoch nach Finnland, in denen die Nato weit und breit nicht vertreten ist, Auernheimers ganz eigenes Geheimnis (Tipp: Da Wikipedia ja eh als einzig relevante Quelle herangezogen wird, einfach mal die Karte auf der Seite über die Nato anschauen!) Dass es zur politischen DNA in Russland gehört, expandieren zu wollen, wird nicht, mit keinem Wort, gar nicht, problematisiert. Auch, dass spätestens seit dem Tschetschnienkrieg, seit Georgien 2008, über Aleppo bis Butscha und Mariupol 2022 blutigste, menschenverachtendste Gewalt ein zentrales Mittel der Wahl (übrigens nicht nur den „Feinden“, sondern auch den Regimetreuesten, Stichwort: Kanonenfutter, gegenüber) ist, nicht.
Und so findet man sich dann doch wieder im Widerlegen, Korrigieren und Berichtigen. Und das ist endlos. Nahezu jeder Satz in Auernheimers Beitrag ist falsch, zurechtgebogen, Folge mutwilliger Missinterpretationen und Blindheit. So geht’s zu, wenn man irgendwie versucht zu retten, was zu retten ist. Freilich ohne, dass da etwas zu retten wäre. Von Hartmut von Hentig kennt man ähnliches. Aus der Biografieforschung weiß man, wie schwer es fällt, die Überzeugungen des eigenen Lebens für gescheitert und falsch zu erklären. Niemandem soll das über Gebühr aufgezwungen werden. Niemandem soll allerdings ein derartig ferngesteuerter Nonsens wie der Text von Auernheimer zugemutet werden, ebenfalls.
Was hier zu lesen ist, ist keine Analyse, oder zumindest Interpretation, über die man streiten könnte, sondern Agitation in Reinform, nicht besser als das, was man in die Internetforen und Kommentarspalten von russischen Trollen gekotzt zuweilen lesen muss. Es ist eine Fallstudie zum Übergang in die absolute Weltfremdheit, um ein Weltbild nicht aufgeben zu müssen (was für ein Stoff für Belletristik!). Es ist menschenverachtend und könnte auf einer Seite und in einer Zeitschrift, die sich für die Menschenrechte und für Bildung und für beides in Kombination einsetzen will, fehler am Platze nicht sein!