In der Corona-Pandemie wird in vielen Ländern über die sogenannte Triage diskutiert. Der Begriff stammt aus der Militärmedizin. Es geht angesichts geringer Ressourcen um die Auswahl von Personengruppen, die zuerst in Krankenhäusern behandelt werden sollen und welche Personen später und welche nicht.
Weitestgehend Übereinstimmung besteht erstens in dem Gedanken, dass alles oder Vieles dafür getan werden muss, um eine derartige Notsituation durch Schutzmaßnahmen wie Impfen, Abstand, Händewaschen und Masken sowie durch das Bereitstellen ausreichender medizinischer und pflegerisch/medizinischer Ressourcen zu vermeiden.
Zweitens wird meist betont, dass im Falle einer Auswahl- oder Selektions-Situation keine Personengruppe systematisch benachteiligt werden soll. Dies kann als eine Lehre aus der Auseinandersetzung mit der Shoah, der Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung, sowie Rom*nja und Sint*izze und den Morden an als krank und behindert angesehenen Personen und anderen Gruppen im Nationalsozialismus angesehen werden. Die Logik des Auswählens soll nichtdiskriminierend sein.
In diesem Sinne hatten neun Personen „mit Behinderung“ vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die aktuell am meisten berücksichtigten Empfehlungen für den Fall einer möglichen Triage-Situation in Krankenhäusern in Deutschland geklagt und gesetzliche Regelungen gefordert ( https://taz.de/Ral-Krauthausen-ueber-BVerfG-Urteil/!5821966/).
Das Bundesverfassungsgericht gab ihnen recht (https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2021/12/rs20211216_1bvr154120.html;jsessionid=3EC4FFD0D7F5E984D0E676281E3BB07A.1_cid507) und verpflichtet die Bundesregierung, baldmöglichst ein entsprechendes Gesetz zu erlassen, da die aktuellen Empfehlungen bei ihrer Anwendung im Effekt Menschen, die behindert werden, systematisch benachteiligen (vgl. https://www.dw.com/de/behinderten-anwalt-bverfg-triage-urteil-ist-wichtiges-signal/a-60350850). Auch heutzutage, so steht – belegt durch viele Studien und Expertisen – im Urteil, werden Menschen mit Behinderungen auch im Normalbetrieb in Krankenhäusern systematisch schlechter versorgt und behandelt, da es zu wenige Kenntnisse bei Ärzt*innen und Pflegenden in Bezug auf viele Behinderungen vorliegen.
Zudem können, so kann ergänzt werden, sind abwertende Einstellungen gegenüber bestimmten Personengruppen auch bei Pflegepersonen und Mediziner*innen nicht auszuschließen. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, insbesondere Behindertenfeindlichkeit ist weiterhin eine in der Gesellschaft vielfach anzutreffende Einstellung.
Hat eine Auseinandersetzung mit den Krankenmorden im Nationalsozialismus, zynisch „Euthanasie“ (griechisch: „schöner Tod“) genannt, ausreichend stattgefunden? Wissen die Menschen von den etwa 300.000 ermordeten Personen in Psychiatrien und Krankenhäusern sowie Einrichtungen für Menschen mit „Behinderung“ (vgl. www.krankenmorde-deportationen-bielefeld.de ) im Nationalsozialismus? Wissen wir von den systematischen Hungermorden im ersten und zweiten Weltkrieg in Psychiatrien und Einrichtungen für behinderte Menschen (vgl. Faulstich 1998: Hungersterben in der Psychiatrie. Mit einer Topographie der NS-Psychiatrie) ?
Welche Schlussfolgerungen ziehen wir daraus, dass Menschen nach Kriterien von Krankheit, Behinderung und Arbeitsfähigkeit im Nationalsozialismus (vgl.. Jütte Eckart, Schmuhl, Süß 2011: Medizin und Nationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung) ermordet wurden?
Wann lernen wir endlich, dass jede Person gleich wertvoll ist und vollumfänglich und bestmöglich gesundheitlich versorgt und ernährt werden muss?