Im bereits dritten Jahr der Pandemie gibt es zahlreiche Bevölkerungsgruppen in Europa, die sich von ihren Staatsführungen missachtet, erniedrigt und schlecht behandelt fühlen. Arbeitnehmer*innen in systemrelevanten Berufen, Pädagog*innen, Schüler*innen und vor allem im Fokus der Öffentlichkeit jene Gruppe von Bürger*innen die Woche für Woche auf die Straße geht, um ihrem Unmut über die staatlichen Corona-Maßnahmen freien Lauf zu lassen: Über einen erheblichen Anteil unter ihnen wird behauptet, dass sie Impfverweiger*innen sind – aber was kann über diese Gruppe in Erfahrung gebracht werden? Ein Forschungsteam des deutschen Max-Planck-Instituts nutzte die „Survey on Health, Ageing and Retirement in Europe“ (SHARE), die Daten zur Impfbereitschaft in der Gruppe der Altersgruppe 50+ erhob, um im Oktober 2021 für die europäische Bevölkerung herauszufiltern, „dass der Anteil der Unentschlossenen und Impfverweigerer in der Gruppe der Personen mit niedriger Schulbildung bei knapp 15 Prozent liegt, […] in der Gruppe der Personen mit höherer Schulbildung jedoch nur gut 9 Prozent.” (Max-Planck-Gesellschaft, 2021). Parallel dazu wurde separat in Österreich bei einer anderen Kohorte erhoben, dass „die Impfquote in der Gruppe der 25- bis 64-Jährigen mit Hochschulabschluss beispielsweise bei etwa 84 Prozent und damit deutlich höher [liegt] als bei jenen, die höchstens einen Pflichtschulabschluss haben (68 Prozent)“¸ – eine Tageszeitung titelte sogleich: „Das Bildungsniveau ist ein Booster für die Impfbereitschaft in Österreich“ (Marchart, 2021).
Es entsteht der Eindruck, als wäre der Hochschulabschluss ein Indikator für Impfwillen. Im Rückschluss ergibt sich eine neue Beleidigung für jene besagte Gruppe: ungeimpft und ungebildet. Was für ein Bild wird dadurch auf unsere nationalen Erziehungssysteme geworfen und ist es gesellschaftlich nicht bedenklich, wenn Ungeimpften prinzipiell (unterschwellig) unterstellt wird, ungebildet zu sein? Wenn Gebildetsein mit (Schul-)Abschlüssen einhergeht, stellt sich die Frage nach welchem Zeugnis sich ausreichend Klugheit für Impfung einstellt? Während sich Institutionen weltweit mit den 17 Nachhaltigkeitszielen der 2015 von den Vereinten Nationen verabschiedeten Sustainable Development Goals (SDGs) beschäftigen, die u.a. darauf abzielen, Ungleichheiten zu reduzieren (10) und hochwertige Bildung (4) für alle zu ermöglichen, schlittern wir (auch) in Europa zusehends in eine Gesellschaftspraxis, in der Erniedrigte als Beleidigte keinen Platz finden.
Kredentialismus
Dostojewskis Roman „Erniedrigte und Beleidigte“ (1861/1990) kann als eine Abhandlung über die Sehnsucht nach Begegnung und die Angst vor dem sozialen Absturz gelesen werden. Hinter vorgehaltener Hand wähnen sich vermutlich die Gebildeten im Hier und Heute der Pandemie für besonders gebildet, wenn sie doch auch schon in Zeitungen gelesen haben, dass bei manchen Impfunwilligen in Österreich und Deutschland schon das Versprechen auf eine Bratwurst oder einen Lottoschein gereicht haben, um sich doch impfen zu lassen: Wie dumm kann man bitte sein? Letztlich könnte es in dem Hochmut enden, dass die unzureichende Bildung jener die als soziale Klasse nur einen Pflichtschulabschluss vorweisen kann, selbst daran schuld ist, dass sie COVID und die daraus resultierenden Zusammenhänge nicht versteht und doch vielleicht auch ganz und gar selbst wegen ihrer nicht nachweisbaren Bildung für ihre (eigenen) Probleme verantwortlich ist. Die einseitige Betonung dieses bestimmten Verständnisses von Bildung im öffentlichen Diskurs macht nach Jahrzehnten der Globalisierung „Erfolg und Scheitern zu einer moralischen Frage“ (Sandel 2020, S.143) und entzieht jener sozialen Klasse mit Pflichtschulabschluss zusehends jegliche soziale Wertschätzung, während der Kredentialismus die Gebildeten an ihre in Bildungsinstitutionen erworbenen Zeugnisse als Beweise für ihre Klugheit glauben lässt. Bildung als Antwort auf Ungleichheit geht oft von der Vorstellung aus, dass geerntet wird, was gelernt wurde. Erliegen da aber nicht die Gebildeten in Österreich und Deutschland dem „Reiz der meritokratischen Hoffnung, die Welt sei so eingerichtet, dass das, was wir einnehmen, mit dem übereinstimmt, was uns zusteht“ (Sandel 2022, S.102)? Das Gerede von Chancengleichheit verschleiert zum einen den Umstand, dass „bei der Entscheidung zwischen Klassenkampf (für mehr Chancengleichheit) und Expansion (für mehr Chancen für alle) […] die Wahl regelmäßig auf Letzteres fällt“ (El-Mafaalani 2020, S.125) und zum anderen die Tatsache, dass beginnend in der Mittelschichtsinstitution Schule – ausgerechnet bei zunehmender Ausdünnung ihrer eigentlichen Klientel – „der Kult einer Kultur“ (Bourdieu 2001, S. 43) organisiert wird, bei dem jene, die es nicht schaffen, das eigene „kulturelle Erbe in schulische Vergangenheit [zu] verwandeln“ (ebenda, S.36), systematisch zurückgelassen werden, weil ein „Klassenhabitus der außerhalb des Bildungswesens entstanden ist […] die Grundlage schulischen Lernens bildet, benutzt und sanktioniert“ (Bourdieu/Passeron 1971, S.221). Soziale Mobilität ist im übrigen keine Antwort auf Ungleichheit. Sie stabilisiert die Vorstellung des omnipräsenten Leistungsprinzips unserer Gesellschaft, aber so eine Gesellschaft, „müsste es auch denen, die nicht aufsteigen, ermöglichen, an Ort und Stelle zu gedeihen und sich als Mitglieder eines gemeinschaftlichen Projekts zu fühlen. Dass uns das nicht gelingt, macht jenen das Leben schwer, denen die Beglaubigungen der Leistungsgesellschaft fehlen, und lässt sie daran zweifeln, dass sie dazugehören.“ (Sandel 2020, S.357).
Kultivierung
Es heißt, dass für das Erreichen der SDGs der Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) eine wichtige Bedeutung zukommt: „BNE kann die Entwicklung von Nachhaltigkeitskompetenzen fördern, die Individuen nicht nur dazu befähigen, die SDGs in ihrer ganzen Komplexität zu verstehen, sondern auch eigene Beiträge zum Erreichen der Ziele zu leisten“ (Rieckmann 2018, S.4). Es ist erklärtes Desiderat, dass die befähigten Bürger*innen selbst zu Change Agents werden, um eine nachhaltige Entwicklung zu ermöglichen. Zu solchen Bürger*innen werden Schüler*innen in einer Schule gebildet, die sich darauf versteht, ihrer Grundfunktionen nachzukommen: zu qualifizieren und zu kultivieren.
„Beim Qualifizieren geht es einfach nur darum, Wissen zu vermitteln und anzueignen. Beim Kultivieren geht es darum, miteinander umgehen zu lernen, die gemeinsame Arbeit an Sachverhalten zu lernen […] Der Zweck der öffentlichen Schule ist, sich miteinander über die Welt zu verständigen. Das ist das, was sie gut kann. In den letzten zwei, drei Jahrzehnten haben wir aber die andere Funktion – möglichst viel Wissen in möglichst kurzer Zeit in möglichst viele Köpfe zu stopfen – in den Vordergrund gestellt und die Primärfunktion zum Teil beschädigt.” (Hopmann 2021)
Die Kultivierung von Schüler*innen bedeutet, sie zu kritischen und demokratisch probaten Bürger*innen machen zu wollen, denn wie Rickmann betont, ist „nicht jede Art von Bildung […] eine nachhaltige Entwicklung. Bildung, die das Wirtschaftswachstum allein fördert, kann auch zu einer Zunahme nicht nachhaltiger Konsummuster führen“ (Rieckmann 2018, S.5). Wenn aber marktgetriebene Gesellschaften ständig der Versuchung erliegen, „materiellen Erfolg als Zeichen moralischer Verdienste zu deuten“ (Sandel 2022, S. 102), werden wir die SDGs nicht erreichen. Wenn wir in Schulen dem marktgetriebenem Wunsch der Makro-Ebene entsprechen, allein dem Leistungsprinzip unverfroren zu frönen und nur die Frage der Performanz von Schüler*innen bei nationalen Testbatterien zur Kompetenzmessung (Amos 2006) zu unserem eigentlichen Geschäft machen, werden wir der Kultivierung der Schüler*innen nicht gerecht. Wenn wir in- und außerhalb nationaler Erziehungssysteme (als Orte des Kults) weiterhin eine Kultur entwickeln, die Menschen ihr Gebildetsein nur anhand ihrer ausgewiesenen Schulabschlüsse und Zeugnisse zertifiziert, verfehlen wir jegliche Verständigungsbasis untereinander, von der wir ausgehend zu moralisch reflektierten Menschen werden können, die sich darauf verstehen, sich miteinander zu verständigen und verantwortungsbewusst zu handeln.
Zum Autor
Prof. Dr. Rainer Hawlik arbeitet als Lehrer*innenbildner an der Pädagogischen Hochschule Wien (Primarstufe) und Universität Wien (Sekundarstufe). Fachgebiet: Schulpädagogik und Schultheorie unter migrationsgesellschaftlichen Differenzverhältnissen.
PH Wien, z.Hd. Rainer Hawlik, Grenzackerstraße 18, 1100 Wien.
E-Mail: rainer.hawlik@phwien.ac.at
Literaturverzeichnis
Amos, K. (2006). Zero Tolerance an öffentlichen Schulen in der USA – amerikanisches Syndrom oder Symptom für die Neubestimmung gesellschaftlicher Mitgliedschafts- und Erziehungsverhältnisse? Zeitschrift für Pädagogik, 5, S. 717-731.
Bourdieu, Pierre/Passeron, Jean-Claude (1971): Die Illusion der Chancengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs. Stuttgart: Klett.
Bourdieu, Pierre (2001): Wie die Kultur zum Bauern kommt. Hamburg: VSA
Dostojewski, Fjodor (1861/1990): Erniedrigte und Beleidigte. Leipzig: Reclam
El-Mafaalani, Aladin (2020): Mythos Bildung. Köln: Kiepenheuer & Witsch
Hopmann, Stefan (2021): Wir zerlegen gerade die Grundlage der Gesellschaft. (Interview). In Der Standard vom 26.10.2021, https://www.derstandard.at/story/2000130608985/bildungsforscher-hopmann-wir-zerlegen-gerade-die-grundlage-der-gesellschaft (01.02.2022)
Marchart, Jan Michael (2021). Das Bildungsniveau ist ein Booster für die Impfbereitschaft in Österreich. In Der Standard vom 28.12.2021, https://www.derstandard.at/story/2000132191800/das-bildungsniveau-ist-ein-booster-fuer-die-impfbereitschaft-in-oesterreich (01.02.2022)
Max-Planck-Gesellschaft (2021). Wer sind die Ungeimpften? In Max-Planck-Gesellschaft, https://www.mpg.de/17668113/impfbereitschaft-in-europa (01.02.2022)
Sandel, Michael J. (2022): Die Würde, die wir meinen. In Philosophie Magazin. 20 Impulse für 2022. Sonderausgabe Nr. 20, S. 94-103.
Sandel, Michael J. (2020): Vom Ende des Gemeinwohls. Frankfurt am Main: Fischer