Das Gedächtnis ist kurz, und wenn es um „deutsche Schuld“ gegenüber Russland geht, tun die Medien nichts dafür, es aufzufrischen, im Gegenteil. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sprach anlässlich des Gedenkens an die Opfer des Zweiten Weltkriegs am 1. September 2019 in der polnischen Kleinstadt Wielun von dem „Menschheitsverbrechen“, das Deutsche in Polen verübt haben. Unter anderem sagte er: „Ich verneige mich vor den polnischen Opfern der deutschen Gewaltherrschaft. Und ich bitte um Vergebung.“[1]
Was in Polen besonders aufmerksam wahrgenommen wurde, nachdem die Regierung Kaczynski eine Billion Dollar Reparationen ins Gespräch gebracht hat, war die Versicherung, dass die Vergangenheit nicht abgeschlossen sei. Steinmeier betonte: „… unsere Verantwortung vergeht nicht… Wir wollen und wir werden uns erinnern. Und wir nehmen die Verantwortung an, die unsere Geschichte uns aufgibt.”
Die Last der „deutschen Schuld“
Aber 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stellt sich die Frage, ob die Last der so in Erinnerung gerufenen „deutschen Schuld“ den Enkeln und Urenkeln überantwortet werden kann, insbesondere in finanzieller Hinsicht. Zumal die bislang festgeschriebene Alleinschuld Deutschlands am ersten und zweiten großen Krieg nach der jüngsten Geschichtsforschung, die immer mehr Einblick in die Archive erhält, einer genaueren Betrachtung bedarf.[2] Danach ist auch die Schuld Polens in dieser Frage noch lange nicht aufgearbeitet. Vergessen ist zudem, dass ein Drittel des Deutschen Reiches an Polen abgetreten werden musste.
Auf der Gedenkfeier in Warschau zum 80. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges, zu der keine russischen Repräsentanten eingeladen wurden,[3] hat sich Steinmeier in einer weltweit beachteten Rede dann eingehend zum Verhältnis Deutschlands zu den USA geäußert. Er sagte: „Unsere Verantwortung, sie gilt auch der transatlantischen Partnerschaft. Wir alle blicken an diesem Jahrestag mit Dankbarkeit auf Amerika. Die Macht seiner Armeen hat – gemeinsam mit den Verbündeten im Westen und im Osten – den Nationalsozialismus niedergerungen. Und die Macht von Amerikas Ideen und Werten, seine Weitsicht, seine Großzügigkeit haben diesem Kontinent eine andere, eine bessere Zukunft eröffnet.“[4]
Deutschland, USA, Russland
Seine Demutshaltung bezeugte der deutsche Bundespräsident dann dem anwesenden Repräsentanten der USA, Mike Pence[5], der Präsident Donald Trump vertrat, mit den Worten: „Herr Vizepräsident, das ist die Größe Amerikas, die wir Europäer bewundern und der wir verbunden sind. Dieses Amerika hat der Welt die Augen geöffnet für die unbändige Kraft der Freiheit und der Demokratie – gerade auch uns Deutschen. Diesem Amerika war das vereinte Europa immer ein Anliegen. Dieses Amerika wollte echte Partnerschaft und Freundschaft in gegenseitigem Respekt.“
Dass ein deutscher Präsident derart Propaganda für die USA und zugleich gegen Russland betreibt, ist eine diplomatische Fehlleistung sondergleichen. Denn Russland, das die Hauptlast des Zweiten Weltkriegs getragen hat, wurde wieder einmal beleidigt und gedemütigt. Kein Wort über die russischen Opfer, kein Staatsgast aus Moskau. Stattdessen eine Eloge auf die USA, die Deutschland 1945 zwar von der Nazi-Herrschaft befreit, zugleich aber die Spaltung des Deutsches Reiches betrieben haben, die Bundesrepublik zum Frontstaat machten und weiterhin deren Souveränität durch Truppenstationierungen, Nötigung und Erpressung beschneiden. Abgesehen von den illegalen Wirtschaftssanktionen und den Kriegen, mit denen die Vereinigten Staaten die ganze Welt überziehen.
Mit dieser scheinheiligen, widersprüchlichen Politik, die auch die deutsche Regierung vertritt, wird die Spaltung Europas immer weiter vorangetrieben. Es ist aber nicht mehr nur in Westeuropa und Russland geteilt, sondern auch Westeuropa in Gestalt der EU ist inzwischen zweigeteilt: Auf der einen Seite befinden sich die von den USA aufgerüsteten militanten baltischen Staaten, Polen, Bulgarien und Rumänien, auf der anderen Seite stehen die übrigen EU-Staaten, die sich – mehr oder weniger – um ein vernünftigeres Verhältnis bemühen. Solange führende deutsche Politiker aus der Geschichte nicht gelernt haben, ist Deutschland, und damit auch Europa, verraten und verkauft.
Das nordatlantische Bündnis
An den russischen Grenzen ist eine gewaltige Militärmacht mit Raketen, Panzerdivisionen, Kampfflugzeugen, Artillerie und Tausenden Soldaten aufgebaut, die NATO hält Manöver mit bis zu 50 000 Soldaten an den russischen Grenzen ab. Deutsche Soldaten stehen 150 Kilometer vor St. Petersburg, dem früheren Leningrad, in dem während der Belagerung durch die Wehrmacht mehr als eine Million Menschen umkamen. Aktuell ist die Bundeswehr im Rahmen der NATO an Einsätzen in Afghanistan, Somalia, im Südsudan, in der Westsahara und im Kosovo beteiligt. Artikel 26 des Grundgesetzes, nach dem bereits die Vorbereitung eines Angriffskrieges verboten ist, wird seit Jahren ignoriert.
Auch das NATO-Statut, wonach die Mitglieder verpflichtet sind, „sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar sind“, ist de facto außer Kraft gesetzt. Bolivien, Nachbarstaat des geschundenen Venezuela, wurde als „globales Mitglied“ in die NATO aufgenommen, der Nordatlantikvertrag bereits 1999 mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Republik Jugoslawien gebrochen. Und mit der Teilnahme an diesem Krieg wurde ein Dammbruch bewirkt, dem unter Missachtung des Grundgesetzes zahlreiche Auslandseinsätze der Bundeswehr gefolgt sind.
Anstatt aus dem nordatlantischen Bündnis, das seine eigenen Statuten verletzt, auszutreten, folgt die Bundesregierung den Direktiven aus Washington. Neuerdings plädieren Bundeskanzlerin Angela Merkel, Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer und Außenminister Heiko Maas gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron für den Aufbau einer europäischen Armee, und auch die atomare Bewaffnung der Bundeswehr ist im Gespräch. 2017 wurde ein europäisches Militärbündnis für „permanente strukturierte Zusammenarbeit“, das sich PESCO nennt, gegründet,[6] das die schnelle Verlegung von schwerem militärischem Gerät und Soldaten unabhängig von staatlichen Grenzen an die „Ostfront“ ermöglicht.
Aufrüstung – gegen wen?
Die USA haben den Atomwaffensperrvertrages gekündigt, und sie fordern von Deutschland eine Erhöhung des Militäretats auf 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts bis 2024, obwohl die Rüstungsausgaben der NATO-Staaten schon auf die unvorstellbare Summe von etwa einer Billion Dollar gestiegen sind und etwa das Sechzehnfache des Militäretats Russlands betragen. Während die Bevölkerung mit Nebensächlichkeiten abgelenkt, indoktriniert und in die Irre geführt wird, womöglich in einen dritten Weltkrieg, fließen auf Druck der USA ungeheure Summen in die Aufrüstung – Geld, das für Soziales, Bildung, Kultur, Infrastrukturmaßnahmen usw. verloren geht.
Wladimir Putin hat 2001im Deutschen Bundestag für Abrüstung und einen gemeinsamen Wirtschaftsraum von Wladiwostok bis Lissabon geworben und sein Friedensangebot bis in die unmittelbare Gegenwart immer wieder erneuert. Seine Bemühungen wurden von den USA und ihren europäischen Partnern zurückgewiesen und boykottiert. Anstatt 1991 nach dem Ende des Warschauer Paktes und dem Abzug des russischen Militärs aus Ostdeutschland auch die NATO zugunsten eines gemeinsamen europäischen Verteidigungsbündnisses aufzulösen, rückte sie absprachewidrig bis an die russischen Grenzen vor.
2014 hat US-Vizepräsident Joe Biden in einer Rede erklärt, man wolle Russland ruinieren, wenn es sich nicht den westlichen Kapitalinteressen öffne.[7] Jetzt beträgt die Flugdauer der an den russischen Grenzen stationierten Raketen fünf Minuten bis Moskau. Wen wundert es, dass Russland Gegenmaßnahmen ergriffen hat. Es herrscht akute Kriegsgefahr, aber eine machtvolle Friedensbewegung ist nicht in Sicht.
Wichtig wäre, dass demokratische Organisationen wie Gewerkschaften, Kirchen, Universitäten oder auch die Fridays-for-Future-Bewegung verstärkt für Frieden und Abrüstung eintreten. Denn die größte Schädigung der Umwelt, wie überhaupt eine existenzielle Gefahr, geht vom Militär, der Rüstungsindustrie und den stattfindenden Kriegen aus. Solange Frieden und Abrüstung nicht im Mittelpunkt aller Bemühungen stehen, ist der Ausgang ungewiss. Ohne Frieden ist alles NICHTS.
Der Schriftsteller und Publizist Dr. jur. Wolfgang Bittner lebt in Göttingen. 2017 erschien von ihm „Die Eroberung Europas durch die USA – Eine Strategie der Destabilisierung, Eskalation und Militarisierung“, 2019 „Der neue West-Ost-Konflikt – Inszenierung einer Krise“.
Quellen
[1] Die Zeit, 1.9.2019, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-09/wielun-frank-walter-steinmeier-deutschland-polen-jahrestag-zweiter-weltkrieg
[2] Dazu: Wolfgang Bittner, Der neue West-Ost-Konflikt“, Verlag zeitgeist, 2019, S. 113-135.
[3] Vgl. ZDF, 1.9.2019, https://www.zdf.de/nachrichten/heute/livestream-zweiter-weltkrieg-jahrestag-polen-100.html (20.9.2019)
[4] Der Bundespräsident, 1.9.2019, https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2019/09/190901-Polen-Gedenken-Warschau.html (20.9.2019)
[5] Mike Pence, US-Vizepräsident, ehemaliger Gouverneur von Indiana: Anhänger des Prosperity Gospel (Reichtum oder Armut sind gottgegeben) sowie des Kreatinismus (strikte Bibelgläubigkeit) und Gegner der Evolutionstheorie. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Mike_Pence (3.2.2019)
[6] Vgl. Spiegel Online, 13.11.2017, www.spiegel.de/politik/ausland/bruessel-23-eu-staaten-gruenden-pesco-zusammenarbeit-bei-verteidigung-a-1177685.html
[7] Vgl. newscan, Zeitdokument: Wir zwangen die EU zu Sanktionen gegen Russland, 5.1.2015, www.youtube.com/watch?v=JLO7uKVarB8 (25.1.2019)