Man kommt aus dem Erstaunen bzw. Entsetzen nicht mehr heraus, wenn man die Preisverleihungen der letzten Jahre Revue passieren lässt. Doch kann man in ihnen eine gewisse ‚Logik‘ erkennen: Geehrt werden Personen, die das Gegenteil von dem repräsentieren, wofür sie ausgezeichnet werden. Zu denken ist etwa an den Friedenspreis des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels 2022, der an einen rassistischen ukrainischen Schriftsteller ging, der in seinen Romanen Russen verunglimpft und in seiner Dankesrede vor einem begeisterten, erlesenen Publikum von Russland als dem „totalen, enthemmten Bösen“ sprach1. Oder man denke an den Internationalen Karlspreis, der an eine demokratisch nicht legitimierte Kommissionspräsidentin einer demokratisch nicht legitimierten Kommission vergeben wurde, die ein gewaltiges Aufrüstungsprogramm der EU vorantreibt. Jetzt hat, sozusagen als negative Krönung dieser Reihe, die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann am 29. 6. 2025 von der Europäischen Janusz-Korczak Akademie2, einer 2009 gegründeten, in Deutschland ansässigen, jüdischen Organisation, den Janusz-Korczak-Preis für Menschlichkeit erhalten. Wer je mit der Pädagogik von Janusz Korczak in Berührung gekommen ist, dem muss angesichts dieses skandalösen Vorgangs das Blut in den Adern gefrieren.
Geboren wird Korczak am 22.07.1878 oder 1879 in Warschau. Er stammt aus einer angesehenen jüdischen Familie. Der Vater stirbt, als Janusz siebzehn Jahre alt ist. Nach dem Tod des Vaters verändern sich die Lebensumstände der Familie dramatisch. Es stellt sich heraus, dass der Vater das gesamte Vermögen der Familie verspielt hat. Janusz Korczak muss nun selbst mit zum Lebensunterhalt der Familie beitragen. Seine Schulzeit ist mit negativen Erfahrungen besetzt, Repression, Prügelstrafe, Abrichtung kennzeichnen die damalige Schulpädagogik. Schon 1896 wird Korczak schriftstellerisch tätig. Er verfasst vor allem humoristische und satirische Texte. Von 1898 bis 1905 studiert er Medizin an der Universität Warschau. Während seiner Studentenzeit ist er bereits als ehrenamtlicher Mitarbeiter in der sozialen Arbeit tätig.
1905 arbeitet er in einer Klinik, ist dann Militärarzt im russisch-japanischen Krieg. 1909 und 1910 erscheinen seine ersten Kinderbücher. Er wird Mitglied des Warschauer Wohltätigkeitsvereins, dessen sozialpolitische Aufgabe in der Minderung des sozialen und materiellen Elends in den polnischen Großstädten liegt. Von 1903 bis 1908 arbeitet Korczak in den sogenannten Sommerkolonien, die für die Kinder sozial unterprivilegierter Familien in den Großstädten bestimmt sind. Die professionelle pädagogische Tätigkeit setzt dann 1912 mit der Übernahme des Warschauer Waisenhauses Dom Sierot ein. Fast 30 Jahre leitet Korczak dieses Heim. Während der aufreibenden Heimtätigkeit schreibt er Bücher, die schon im Titel auf seine zutiefst empathische Pädagogik der Achtung verweisen: Wie liebt man ein Kind (1919), König Macius (1923), Wenn ich wieder klein bin (1924), Das Recht des Kindes auf Achtung (1929), Fröhliche Pädagogik (1939). 1940 muss das Waisenhaus geräumt werden, es erfolgt die Übersiedlung ins Warschauer Ghetto. 1942 werden die Waisenkinder zusammen mit ihrem Erzieher im Vernichtungslager Treblinka ermordet. Korczak begleitet diese Kinder durch das ganze Grauen des Krieges, durch die Zeit im Warschauer Ghetto bis in die faschistische Todesfabrik.
Korczaks Modell einer Pädagogik der Achtung wohnt eine elementare Philosophie des Umgangs mit Kindern inne. Die vorbehaltlose Anerkennung des Kindes als Mensch repräsentiert den humanen Kern dieser wesentlich aus der praktischen Erfahrung gewonnenen Philosophie. Das Kind ist von Geburt an dem Erwachsenen gegenüber gleichberechtigt. Es nimmt anders war, fühlt anders, denkt anders, spricht und handelt anders als der Erwachsene, und es muss genau in diesem Anderssein ohne Wenn und Aber anerkannt werden. Pädagogik der Achtung erkennt das Kind in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen als gleichberechtigter Mensch an – Grundbedingung eines demokratischen Generationenverhältnisses. Die Realisierung dieser Utopie beginnt in der bestehenden Praxis, sie kann nicht verschoben werden auf einen späteren Zeitpunkt, wenn die entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnisse dafür geschaffen sind. Sie ist nur in dem Maß zu realisieren, wie die Erwachsenen bereit sind, den Kindern Achtung und Anerkennung zuzugestehen. Achtung vor dem Kind ist das oberste Gebot, ohne sie lässt sich eine humane Pädagogik nicht begründen. Da aber das Existenzrecht des Kindes in der Gesellschaft keineswegs anerkannt ist, wird Korczak zum Kämpfer für Kinderrechte, versteht sich allgemeinpolitisch als Anwalt des Kindes. Kinder sind in die gesellschaftlichen Interessenkämpfe eingebunden und sie bilden eine unterdrückte Gesellschaftsschicht, die dazu befähigt werden muss, sich aus dieser Situation der Unterdrückung zu befreien.
Niemand käme wohl auf die Idee, den hier nur holzschnittartig skizzierten Ansatz mit einer Frau in Verbindung zu bringen, die genau das Gegenteil des polnischen Arztes und Pädagogen verkörpert. In keinem einzigen Punkt steht Frau Strack-Zimmermann in irgendeiner Weise in der Tradition eines Menschen, der sich dem Glück der Kinder verschrieben hat. Da es kein Geheimnis darstellt, dass die Preisträgerin den drei größten Lobbyorganisationen der Rüstungsindustrie angehört, gute Beziehungen zu Rheinmetall unterhält, die Lieferung von weitreichenden Waffen an die Ukraine fordert und keine Gelegenheit verpasst, das Feindbild Russland zu bedienen und die Feindschaft mit diesem Land zu vertiefen, wirkt diese Preisverleihung für Menschlichkeit wie ein Schlag ins Gesicht eines jeden friedliebenden Menschen.
Seit Jahrzehnten, heißt es in der Begründung der Preisverleihung – die Laudatio hielt mit Carlo Antonio Masala ausgerechnet auch noch ein Mitglied einer Bundeswehrhochschule –, engagiere sich die Preisträgerin für Demokratie, Freiheit und gegen Antisemitismus. Auch habe sie klare Worte und entschlossenes Handeln angesichts globaler Krisen, wie zum Ukrainekrieg und zum Hamas-Terroranschlag auf Israel vom 7. Oktober 2023 gefunden.3 „Wir müssen uns nicht nur hinter unseren jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern stehen, sondern uns auch sichtbar vor sie stellen“, wird Strack-Zimmermann in diesem Zusammenhang zitiert.
Korczaks Name ist unvereinbar mit jeder Form von Kriegstreiberei. Er ist unvereinbar mit jeder Verlängerung einer kriegerischen Auseinandersetzung, der immer mehr unschuldige Menschen zum Opfer fallen. Korczak war ein Mann des Ausgleichs, der Entspannung, des Dialogs. Jede Form von Hass war ihm wesensfremd. Sein Kampf für die Verwirklichung von Kinderrechten, die universell gültig sein, die für alle Kinder gelten sollen, unabhängig von Klasse, Geschlecht, Kultur und Religionszugehörigkeit, schließt den Kampf gegen die Kriegsertüchtigung ein, die momentan erschreckend-fröhliche Urständ feiert und in der Preisverleihung exemplarisch zum Ausdruck kommt. Korczak für die sogenannte deutsche Staatsraison in Anspruch zu nehmen, in der die Solidarität mit Israel vorgeblich verankert ist, wie es die Europäische Janusz-Korczak Akademie mit ihrer Preisverleihung betrieben hat, widerspricht diametral seinem Ethos. Das radikale Engagement des Pädagogen für Kinder gilt allen Kindern dieser Welt und kann nicht für eine bestimmte Nation exklusiv in Anspruch genommen werden. Korczaks allgemeinpolitische Anwaltschaft für Kinder hätte den Terror der Hamas, aber auch die Kriegsverbrechen der israelischen Armee im Gazastreifen gegeißelt, weil die Menschen, insbesondere auch die Kinder, dort einem unermesslichen Leid, Armut, Hunger und Vertreibung ausgesetzt sind, soweit sie nicht durch Waffengewalt umkommen.
„Alle Tränen sind salzig“, hat Korczak einmal formuliert. Auch die Tränen der palästinensischen Kinder im Gazastreifen sind salzig! Warum hat sich die Preisträgerin nicht „sichtbar vor diese Kinder“ gestellt?
Die Verleihung des Korczak-Preises ist nicht nur skandalös. Sie kommt einer Verhöhnung des Lebens und des Wirkens des polnischen Pädagogen gleich, der freiwillig mit seinen Kindern in den Tod ging, obwohl er mehrfach die Gelegenheit gehabt hätte, der Vernichtung zu entgehen. Die Preisverleihung tritt das Vermächtnis Korczaks mit Füßen – ein zynischer Missbrauch seines Namens für geopolitische Zwecke, der zum Himmel schreit!
Zum Autor: Armin Bernhard, Erziehungswissenschaftler, von 2003-2023 Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Duisburg-Essen. Letzte Veröffentlichungen: Pädagogik des Widerstands. Impulse für eine pädagogisch-politische Friedensarbeit, 2017; Die inneren Besatzungsmächte. Fragmente einer Theorie der Knechtschaft, 2021; Praxisphilosophische Pädagogik. Ein materialistisch-humanistisches Projekt gegen die Enthumanisierung der Gesellschaft, 2024.
- Zhadan, S.: Dankesrede. In: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels: Manuskripte und Ansprachen. O. O., S. 12. ↩
- Nicht zu verwechseln mit der Deutschen Janusz Korczak-Gesellschaft. ↩
- https://www.juedische-allgemeine.de/unsere-woche/strack-zimmermann-erhaelt-janusz-korczak-preis-fuer-menschlichkeit/ ↩