Prof. Dr. Franz Hamburger
Ich wünsche mir eine andere Themenstellung. Die Entgegensetzung von Mehrheitsgesellschaft und Migrantengemeinschaften ist geeignet, das Denken und das Analysieren zu polarisieren und damit die Wirklichkeit in einer Interpretationsperspektive wahrzunehmen, die es gibt, die aber unscharf und wirklichkeitskonstruierend ist. Vielleicht sind die dabei erbrachten Interpretationsleistungen gewichtiger als die Aspekte von Wirklichkeit, die dabei aus dem Blick geraten.
Wer zum Beispiel ist die „Mehrheitsgesellschaft“? Gehören diejenigen dazu, die vor 70, 60, 50, 40, 30 oder weniger Jahren in Deutschland eingewandert sind und die sehr unterschiedliche Selbstverständnisse und Zugehörigkeitsgefühle entwickelt haben? Wenn man die „Mehrheitsgesellschaft“ nicht als postmigrantische Gesellschaft konzipiert, dann muss man auf andere Konstruktionsprinzipien zurückgreifen, entweder sehr voluntaristische oder aber schlimmstenfalls biologistische Kategorien. In der postmigrantischen Gesellschaft aber gilt die Pluralität der Herkünfte und Identifikationen nicht mehr als Strukturprinzip des Gesellschaftsaufbaus. Wenn sie überhaupt einmal Geltung für sich in Anspruch nehmen konnte!
Problematisch scheint mir auch die Rede von Migrantengemeinschaften. Soweit ich es sehe, sind die meisten Migranten nicht unbedingt Mitglied einer bestimmten „Gemeinschaft“, sondern bewegen sich wie alle Mitglieder moderner Gesellschaften in unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen der Familien, Verwandtschaften, Vereinen, Clubs, Religionsgemeinschaften usw. Dabei gibt es ebenfalls unterschiedlich starke Identifikationen, die sich ändern im Lauf der Zeit und Zugehörigkeiten und deren Relevanz verschieben.
Aus politischen Gründen wird gegenwärtig die „Ehrenamtlichkeit“ hochgehängt, damit der Sozialstaat entlastet wird. Diese Anforderung wird auch an die Menschen mit Migrationsgeschichte gerichtet, denn sie sollen ganz für sich selbst sorgen und so den Sozialstaat entlasten. Rein statistisch ist diese organisierte Selbstsorge nicht ganz so stark ausgebaut, denn sie erfasst nur „moderne“ Formen der Selbstsorge, was den Migranten wieder politisch vorgeworfen werden kann. Die „Migrantengemeinschaften“ gelten ohnehin und fälschlicherweise als Blockade der „Integration“ und zudem erreichen sie „noch nicht einmal“ das Entwicklungsniveau der „einheimischen“ Organisationen. Die Bedeutung der familialen und verwandtschaftlichen Selbsthilfe und wechselseitigen Unterstützung im Prozess der Migration wird öffentlich ohnehin unterschätzt.
Um eine alternative Formatierung der Diskussion vorzuschlagen: Es geht um die Dynamik in verschiedenen Strukturfeldern:
– Armut eines Teils der Bevölkerung: Wie ist dieser Teil strukturiert?
– Arbeit und die Entstrukturierung von Beschäftigungsverhältnissen: Welche Gruppen sind besonders betroffen?
– Dynamik in beruflichen Segmenten der Gesellschaft: Wie verändern sie sich?
– Rassismus in den verschiedenen Gruppen der Gesellschaft (einschließlich der migrantischen Bevölkerung): Wie entwickelt er sich und was sind die politischen Folgen?
Eine generelle Charakterisierung unserer Gesellschaft nach vorab oder intuitiv gegebenen Kriterien und Merkmalen steht in der Gefahr, ein bestimmtes Gesellschaftsbild festzulegen, das dann der Reflexion nicht mehr zugänglich ist.