Prof. Dr. Claus Melter | Hochschule Bielefeld
Einige Stationen des in Deutschland und von Deutschen ausgeübten Rassismus lauten:
– 1800 – 1933 Die Ausgrenzung und Benachteiligung deutscher Jüdinnen und deutscher Juden in öffentlichen Diskursen, Politik und Rechtsprechung im Gebiet, welches später Deutschland wurde (vgl. Götz Aly: Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass – 1800 bis 1933)
– 1800 – 1933 Ausgrenzung von deutschen Roma und deutschen Sinti aus dem Deutschsein, Benachteiligung und Verfolgung (vgl. Konstantin Bollmeyer: Warum erzählst Du nicht? Eine historische Analyse antiziganistischer Erfahrungen von Sinti und Roma in den Jahren 1933 bis 1945, in COMPA; MAIZ Entschieden gegen Rassismus 2018)
– 1884-1885: Die Berliner Afrikakonferenz unter Bismarck, der mit anderen europäischen Herrschenden die kriegerische Unterwerfung und Ausbeutung des afrikanischen Kontinents beschloss und organisierte.
– 1904 bis 1908 von Deutschen ausgeübter Völkermord an Herero und Nama im heutigen Namibia. Augenzeugenberichte und Analysen der Opfer, wie z.B. die Hendrik Witbooi Tagebücher, werden kaum zur Kenntnis genommen. Selbst nicht in aktuellen Ausstellungen wie im Deutschen Historischen Museum zu Kolonialismus.
– 1905 bis 1908 von Deutschen ausgeübter Völkermord in Tansania im Rahmen des Krieges gegen die Maji Maji. Mit der Politik und Praxis der „verbrannten Erde“ werden 200.000 bis 300.000 Menschen ermordet, um die deutsche Herrschaft durchzusetzen (vgl. Baer/ Schröter (2001): Eine Kopfjagd. Deutsche in Ostafrika)
– 1907 sogenannte „Eingeborenenverordnungen“ in den von Deutschland beherrschten Kolonien: systematische Bevorrechtigung der Deutschen, Entrechtung der kolonisierten Afrikaner*innen (vgl. Fatima El-Tayeb: Schwarze Deutsche: Der Diskurs um »Rasse« und nationale Identität 1890-1933)
– 1915-1916 Beihilfe zum Völkermord an den Armeniern in der Türkei (vgl. Buch von Jürgen Gottschlich: Beihilfe zum Völkermord. Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier)
– 1933 bis 1945 Kategorisierung, Verfolgung und Ermordung von als „krank“, behindert“, als „asozial; als Roma und Sinti, als Jüdinnen und Juden, als Homosexuelle oder Arbeitsunwillige oder Systemkritische angesehenen Personen.
– 1945 bis heute: Behauptung des Nicht-Vorhandenseins oder der absoluten Randständigkeit von faschistisch und rassistisch eingestellten Personen, die doch über 12 Jahre in der NS-Zeit die überwiegende Bevölkerungsmehrheit gebildet haben.
– 1945 bis heute: Nur wenige NS-Verbrecher werden gerichtlich bestraft, die Mehrheit der Verbrecher*innen wird nicht angeklagt.
– Die in der NS-Zeit rassistisch-faschistisch eingestellte Bevölkerungsmehrheit wird in der Nachkriegszeit nicht dazu bewegt und bewegt sich selber NICHT dazu, sich aktiv mit der faschistischen und rassistischen Ideologie auseinanderzusetzen und begangene Taten und vorhandene Privilegien und Ideologien zu thematisieren. Viel thematisiert werden Erklärungen, die den Fokus und die Verantwortung auf wenige Führungspersönlichkeiten, auf Verblendung oder Verführung legen. Reale Handlungspraxen, Handlungsmöglichkeiten oder Praxen systematischer Bevorzugung und ideologische Zustimmung stehen selten im Mittelpunkt schulischer oder sonstiger Bildung über den Nationalsozialismus. Auch der zivile, rettungsbezogene und militärische Widerstand der Juden und Jüdinnen (Vgl. Arno Lustiger (1994): Zum Kampf auf Leben und Tod. Vom Widerstand der Juden in Europa 1933-1945) ist selten Thema.
– In den Auschwitz-Prozessen in Frankfurt in den 1960er Jahren wird die Verantwortung vieler Täter, auch in nicht leitenden Funktionen, thematisiert. Jedoch tendieren leitende Politiker*innen und die Bevölkerungsmehrheit dazu, sich nicht (mehr) mit dem Nationalsozialismus auseinanderzusetzen.
– Viele NS-Täter*innen machen seit 1945 unbehelligt Karriere in der Justiz, als Ärzt*innen, Politiker*innen, Pädagog*innen usw.
– In den 1990er Jahren gibt es – begleitet von medialer und politischer Hetze – gewalttätige rassistische Angriffe und Morde an Migrant*innen und Flüchtlingen.
– Als Antwort auf die rassistische Gewalt werden nicht die Angegriffenen geschützt und begleitet und nicht die Täter*innen verfolgt und eingesperrt. Sondern es wird das Grundrecht auf Asyl zum 01. Januar 1993 massiv eingeschränkt (Drittstaatenregelung, nur staatliche Verfolgung wird als Verfolgung anerkannt, hohe Beweislast für eigene politische Tätigkeit und erlebte Verfolgung, vgl. Melter 2000: Zwischen Aktion und Resignation).
– Zwischen 2000 und 2007 ermorden die Täter*innen des NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat –
neun Personen mit zugeschriebenem Migrationshintergrund – aus rassistischen Gründen und eine Polizistin ohne zugeschriebenen Migrationshintergrund.
– Polizei, Justiz und Politik suchen die Täter*innen bei den NSU-Ermittlungen ausschließlich bei Personen „mit Migrationshintergrund“ und vernachlässigen sehenden Auges rassistische Motive und lassen die Täter*innen mehrfach wissentlich entfliehen. Dies ist in zwei Bundestagsuntersuchungsunterschüssen und mehreren Landtagsuntersuchungsausschüssen belegt worden. Die Haupttäterin wird 2018 verurteilt, zwei Haupttäter sind verstorben, doch das breite Unterstützungsnetzwerk und die Kooperation der staatlichen V-Leute wird nicht aufgedeckt (vgl. Mehmet Daimagüler: Empörung reicht nicht! Unser Staat hat versagt. Jetzt sind wir dran. Mein Plädoyer im NSU-Prozess, 2017). Der offenkundige institutionelle Rassismus wird weiterhin geleugnet und nicht systematisch untersucht und angegangen.
– Oury Yalloh wird 2005 im Polizeigewahrsam getötet. Trotz umfangreicher Belege, dass es sich nicht um eine Selbsttötung handelt, sondern eine Tötung durch eine andere Person, wird kein*e Polizeibeamter*r des Mordes für schuldig gesprochen (Vgl. https://initiativeouryjalloh.wordpress.com/ ). Belegt ist, dass keine außenstehende Person das Gebäude in der fraglichen Zeit betreten hat.
– Antimuslimisch rassistische Bücher, z.B. von T. Sarrazin in den Jahren 2010 und 2018, werden breit medial und politisch diskutiert, ebenso die Frage, ob der Islam zu Deutschland gehört. Breiter aktivistischer rassismuskritischer Widerstand formiert sich dagegen, wie z.B. von Kübra Gümüsay: https://www.youtube.com/watch?v=BNLhT5hZaV8
– Es gibt vielfache Übergriffe auf als muslimisch und jüdisch kategorisierte Einrichtungen und Menschen sowie auf Flüchtlingsunterkünfte.
– Die mit rassistischen, rechtsextremen und völkischen Parolen sowie den Nationalsozialismus verharmlosenden Parolen auftretende Partei AFD zieht in den letzten Jahren in Landtage und den Bundestag ein.
– Institutioneller Rassismus in Behörden wird vielfach seitens der Politik und Behörden nicht angegangen (vgl. http://entschiedengegenrassismus.de/offener-brief-von-entschieden-gegen-rassismus-und-diskriminierung/ )
– Studien wie die Zehnjahresstudie „Deutsche Zustände“, herausgegeben von Heitmeyer u.a. sowie die „Mitte“-Studien belegen, dass Abwertungshaltungen auch in der sogenannten gesellschaftlichen Mitte weit verbreitet sind. Soziologische Studien (z.B. Oliver Nachtwey (2016): Die Abstiegsgesellschaft) betonen die Ängste auch der Oberschicht und der kleiner werdenden Mittelschicht vor Verlust von Privilegien sowie guten Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten. Gewerkschaftlicher und gesellschaftlicher Widerstand gegen prekarisierte und entgrenzte Arbeit wird selten von großen Gruppen übernommen. Migrantischer Widerstand gegen Ausbeutung UND Rassismus wird vielfach auch von Mehrheitsangehörigen Gewerkschafter*innen dann nicht geteilt, wenn es um die Rechte und Interessen von Migrant*innen geht (vgl. Manuela Bojadzijev (2008): Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration)
– Auf die Hetze gegen eingewanderte geflüchtete Personen ab den 2015er Jahren reagiert die Politik mit verschärften Asylgesetzen, u.a. der menschenrechtswidrigen Verschärfung des Familiennachzuges, Plänen von Lagerunterbringungen sowie der Beibehaltung der menschenrechtswidrigen geringen Versorgung von erkrankten Personen im Asylverfahren und mit einer Duldung bei akuten Krankheiten.
– 2016 bis 2018 (Stand 15.08.2018) sterben nach offiziellen Zahlen 9.177 Menschen beim Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen (vgl. die Zeit 30.08.2018).
– Rassistische Übergriffe und das Zeigen von NS-Symbolen wie in Chemnitz 2018 werden von Politiker*innen verharmlost und kaum strafrechtlich verfolgt. Dies hat in Deutschland Tradition wie die Dokumentation das Kartell der Verharmloser (Amadeu Antonio Stiftung 2012) belegt.
– Studien belegen seit Jahrzehnten die diskriminierende Schlechterstellung von Personen mit zugeschriebener Migrationsgeschichte, von Menschen mit geringem Einkommen und zugeschriebener „Behinderung“ in den Bereichen Bildung und Arbeit.
– Breite rassismuskritische Bündnisse haben sich formiert zur Kritik an den NSU-Prozessen, zum Mord an Oury Yalloh, zu den Übergriffen in Chemnitz, zum Rassismus gegen Migrant*innen und Flüchtlinge: Seit vielen Jahren gibt es Selbstorganisationen wie die Initiative Schwarze Menschen in
Deutschland, den Zentralrat der Juden und Jüdinnen, den Zentralrat deutscher Roma und Sinti, Selbstorganisationen wie refugess4refugees oder Woman in Exile. Es gibt Antidiskriminierungsstellen.
Deutschland ist, so zeigt diese ergänzungsbedürftige Auflistung, ein von Rassismus strukturiertes Land, welches die Rassismus-Tatsache nicht anerkennt und nicht angeht. Die Mehrheit schweigt und profitiert vom Rassismus und gleichzeitig gibt es Gegenbewegungen. Um rassistische, völkische und menschenrechtswidrige Logiken und Handlungspraxen nicht noch stärker werden zu lassen, sondern abzuschwächen, braucht es Anlaufstellen und klare Verfahrensregeln zu rassistischer und anderer Diskriminierung in Schulen, Hochschulen, der Verwaltung, der Polizei usw. Es braucht konkrete Regeln und Verfahren bei rassistischen Handlungen, wie es in der Europäischen Städtekoalition gegen Rassismus (http://www.eccar.info/ ) festgeschrieben ist. Es braucht das Einüben von rassismuskritischer Courage und Argumentation.
Es ist mehr als Zeit Verantwortung gegen Rassismus zu übernehmen – für uns alle! Denn Rassismus ist ein seit mehr als hundert Jahren bestehendes gesellschaftliches Konfliktverhältnis mit der Benachteiligung der zu „Anderen“ gemachten Personen und der Bevorzugung der sich zu „einheimisch“ erklärenden Personen. Von kapitalistischer und sexistischer Ausbeutung sind die „Anderen“ noch stärker betroffen als die „Einheimischen“, dies zeigt zum Beispiel der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2017.
Daher ist es an jeder und jedem von uns, den eigenen Beitrag gegen rassistische Kommentare, gegen menschenrechtswidrige Gesetze, gegen fehlende Antidiskriminierungsverfahren in der eigenen Einrichtung zu leisten, alleine und in Bündnissen. Rassismuskritik ist eine Menschenpflicht! Die Solidarität mit rassistisch angegriffenen Personen gehört dazu. Empowerment ist eine Erziehungsaufgabe für alle, so schreibt Nkechi Madubuko 2016 in ihrem lesenswerten Buch „Empowerment als Erziehungsaufgabe. Praktisches Wissen für den Umgang mit Rassismuserfahrungen“. Es gibt viele Handlungsmöglichkeiten. Zeit für Gespräche, Zeit zu lesen, Zeit zu reflektieren, Zeit zu intervenieren! Zeit für noch mehr rassismuskritische Bündnisse!