Caner Aver | Stiftung für Türkeistudien und Integrationsforschung
Aktuell haben 22,5% der Menschen in Deutschland und 26% in NRW einen Migrationshintergrund, in der Altersgruppe bis 18 Jahren liegt dieser Wert in NRW sogar bei 38%. Ihre Integration in das Bildungssystem und in den Arbeitsmarkt ist eine der wesentlichen Herausforderungen zukünftiger Politik.
Nach wie vor ist der Bildungserfolg an das familiale Bildungsniveau und der Hochschulzugang intergenerational gekoppelt, indem er bei Kindern aus Akademikerfamilien mehr als drei Mal wahrscheinlicher ist als bei Kindern aus Arbeiterfamilien (Middendorff at al. 2012) unter denen Zuwanderer überrepräsentiert sind. Gleichzeitig ist der Anteil von Studierenden mit Migrationshintergrund aus Nicht-Akademikerfamilien deutlich höher (21% vs. 5% bei Personen ohne Migrationshintergrund) (Treibel 2016: 126). Zudem gehen Kinder aus Akademikerfamilien zu 84% auf das Gymnasium, während es in der Vergleichsgruppe aus Nicht-Akademikerfamilien gerade einmal 37% sind (ebd.). Es zeigt sich jedoch, dass trotz milieubedingter Widrigkeiten immer mehr Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund aus bildungsfernen Familien den Hochschulzugang schaffen.
Dabei war die Pluralisierung des Bildungssystems bereits in den 1960er Jahren Gegenstand der Bildungsdebatte, als der Soziologe Ralf Gustav Dahrendorf mehr Bildungsgerechtigkeit vor dem Hintergrund der Bildungsbenachteiligung speziell der drei großen Gruppen der Landkinder, Arbeiterkinder und (katholischen) Mädchen forderte. Nach den folgenden Bildungs- und Hochschulreformen ist der Hochschulzugang aus weiteren gesellschaftlichen Milieus, darunter ab den 1980er Jahren aus bildungsfernen Gastarbeitermilieus, angestiegen.
Studienerkenntnisse
Zahlreiche Studien kommen zum Ergebnis, das für den Bildungserfolg neben dem Sozialkapital (Bourdieu: 1983) ein positives Bildungsbewusstsein der Eltern, Vorbilder im sozialen Milieu, hohe Bildungsaspiration innerhalb der Familien und Rolle der Lehrer*innen ausschlaggebend sind.
Die überhöhte Bildungsaspiration mit dem Wunsch nach sozialem und ökonomischem Aufstieg gilt als zentrales Motiv migrantischer Eltern, der nur durch eine (Hochschul-)Bildung erreicht werden kann. Hierzu setzen sie große Hoffnung in das deutsche Bildungssystem, das wiederum ein hohes Maß an Engagement der Eltern fordert. Fehlende Intervention der Eltern – etwa wegen geringerer Kenntnisse über das deutsche Bildungswesen, durchschnittlich geringerer Bildung und Sprachdefiziten – kann im deutschen Schulsystem zu schlechteren Schulnoten und zu selteneren Gymnasiumempfehlungen führen (Mudiappa: 2014). Allerdings scheint die soziale Herkunft eine weitere Bildungshürde darzustellen, da die Abbruchquote unter Studierenden mit Migrationshintergrund 2014 mit 43% gegenüber herkunftsdeutschen Studierenden mit 29% deutlich höher liegt (Ebert: 2017).
Bildungsindikatoren zeigen deutliche Unterschiede zwischen den Bevölkerungsgruppen mit und ohne Migrationshintergrund. Türkeistämmige verfügen durchschnittlich über geringere Bildungsabschlüsse als Migranten insgesamt und als die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund, allerdings entwickelt sich die Bildungsintegration im Zeitverlauf positiv.
Tabelle 1: Bevölkerung nach Schulbildung* (in%**)
Türkeistämmige Bevölkerung* |
Bevölkerung mit Migrationshintergrund |
Bevölkerung ohne Migrationshintergrund |
|
Ohne Schulabschluss | 27,4 | 13,6 | 1,5 |
Hauptschulabschluss | 35,3 | 29,7 | 28,8 |
Realschule | 18,6 | 21,3 | 20,9 |
Fachhochschulreife | 5,7 | 6,9 | 6,9 |
Abitur | 12,6 | 27,5 | 20,2 |
Anderes | 0,3 | 0,3 | 0,2 |
* Anteil an denjenigen mit in Deutschland durchlaufener Schulbildung.
Quelle: Statistisches Bundesamt (2017): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Ergebnisse des Mikrozensus 2016. Fachserie 1, Reihe 2.2. Wiesbaden, 2017. Eigene Berechnungen
Die Korrelation des verwertbaren Kapitals im Elternhaus mit dem Bildungsverlauf der Kinder spiegelt sich im schulischen Übergang wider. Während die Übergangsquote von der Grundschule auf das Gymnasium 2014/15 in NRW unter allen Schüler*innen bei 41,6% lag (Malecki 2016: 26), gelang dies nur 14% der Kinder aus bildungsfernen Familien, unter Kindern aus Haushalten mit niedrigem Bildungsniveau gab es zwischen 2010 und 2015 kaum Verbesserungen (Tabelle 2).
Tabelle 2: Entwicklung des Schulbesuchs nach Bildungsabschluss der Eltern (2010-2015)
Schulbesuch des Kindes | Höchster allgemeiner Bildungsabschluss der Eltern (in%) | |||||
Hohe Bildung | Mittlere Bildung | Niedrige Bildung | ||||
2010 | 2015 | 2010 | 2015 | 2010 | 2015 | |
Gymnasium | 61 | 61 | 31 | 30 | 12 | 14 |
Realschule | 21 | 18 | 43 | 35 | 36 | 33 |
Hauptschule | 6 | 3 | 15 | 7 | 38 | 22 |
Schule mit mehreren Bildungsgängen | 11 | 18 | 12 | 28 | 14 | 31 |
Quelle: Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Pressemitteilung vom 08. September 2016 – 312/16: Bildung der Eltern beeinflusst die Schulwahl für Kinder Statistisches Bundesamt. Wiesbaden, 2016.
Unterschiede bestehen auch beim Hochschulzugang: 77% der Studierenden insgesamt haben mindestens ein Elternanteil mit Hochschulabschluss (Middendorff 2012:11). Unter türkeistämmigen Bildungsinländern in NRW zeigt sich ebenfalls ein – allerdings weniger ausgeprägter – Zusammenhang zwischen dem Schulbildungsabschluss und dem Bildungsniveau der Eltern: Befragte mit Hauptschulabschluss stammen zu 77% aus Familien mit geringem und zu 11% aus Familien mit hohem Bildungsniveau. Befragte mit Hochschulzugangsberechtigung stammen hingegen zu 30% aus Familien mit hohem und zu 49% aus Familien mit geringem Bildungsniveau (Sauer 2016: 27).
Zentrale Ergebnisse der Studie: Beteiligung von Bildungsinländern mit Migrationshintergrund und Flüchtlingen an der Hochschulbildung in NRW
Die problemzentrierten Interviews ergeben zum Teil herkunftsspezifische Faktoren, aber auch eine große Bedeutung herkunftsunabhängiger sozialer Einflüsse in den Bildungsbiographien. Große Unterstützungsbedarfe bestehen bei Studienorganisation und -finanzierung, Orientierung an der Hochschule und sprachlicher Bewältigung des Studiums, allerdings nicht ausschließlich bei denjenigen mit Migrationshintergrund.
Angehörige mit Hochschulbildung haben insbesondere bei Studierenden mit Migrationshintergrund eine sehr wichtige Vorbildfunktion, zudem haben Familien mit Migrationshintergrund eine sehr hohe Bildungsaspiration ohne ausreichende Kenntnisse über ein Hochschulstudium und zur Begleitung des Bildungswerdegangs der Kinder. Müttern kommt besonders bei den befragten Studierenden mit Migrationshintergrund als motivierende Person eine tragende Rolle zu. Anreize für ein Hochschulstudium bei allen Studierenden sind der soziale Aufstieg, bessere Verdienstmöglichkeiten und der Wunschberuf. Die Mehrheit ist mit den Lehrer*innen zufrieden: Bei drei Studierenden (mit und ohne Migrationshintergrund) führte er zur Wahl des Wunschberufs Lehrer. Einige Studierende mit Migrationshintergrund berichten aber auch über empfundene Benachteiligungen und Hauptschulempfehlungen wegen nur vermeintlich fehlenden Potenzials.
Empfehlung an die (Hochschul-)Politik
Studierende mit Migrationshintergrund
- Weiterentwicklung des Talentscoutings der Westfälischen Hochschule zur herkunftsunabhängigen Förderung von jungen (Bildungs-) Talenten
- Zielgruppensensible Angebote in der Muttersprache an Familien und Mütter
- Stärkere Kooperation der Hochschulen mit Migrantenorganisationen
- Stärkere aufsuchende Tätigkeit der Hochschulen bereits in der Sekundarstufe I und II zur gezielten Ansprache von Schüler*innen mit Studienambitionen.
- Verstärkte Förderung von Migrantenorganisationen mit Bildungsangeboten
- Verstärkte Orientierung bei der Berufswahl auch auf den Lehrer*innenberuf
- Vermittlung von stärkeren interkulturellen Kompetenzen in der Lehrerausbildung
- Verbesserung der schulischen Ausstattung in sozial benachteiligten Quartieren
- Verstärkte Kommunikation von „Tagen der offenen Tür“ der Hochschulen an mehreren Tagen im Jahr.
- Verstärkte Einbindung von Vorbildern aus relevanten Herkunftsmilieus für die erfolgreiche Bildungskarriere in Unterstützungsmaßnahmen
- Stärkere Würdigung von Erfolgen der Zuwanderer durch Bildungspolitik und Hochschulen.
Literaturverzeichnis
Aver, Caner: Beteiligung von Bildungsinländern mit Migrationshintergrund und Flüchtlingen an der Hochschulbildung in NRW. Studie gefördert durch das Ministerium für Innovation, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Essen 2017. Abrufbar unter: https://www.connectnrw.de/media/content/Endbericht-Hochschulbildung%2005.2017.pdf
Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, kulturelles, soziales Kapital. In: Kreckel, Reinhard (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten. Soziale Welt Sonderband 2, S. 183 – 191. Göttingen 1983.
Ebert, Julia; Heublein, Ulrich: Studienabbruch bei Studierenden mit Migrationshintergrund. Eine vergleichende Untersuchung der Ursachen und Motive des Studienabbruchs bei Studierenden mit und ohne Migrationshintergrund auf Basis der Befragung der Exmatrikulierten des Sommersemesters 2014. Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung GmbH (Hrsg.). Hannover 2017.
Malecki, Andrea: Schulen auf einen Blick, Ausgabe 2016. Statistisches Bundesamt, Wiesbaden 2016.
Middendorff, Elke; Apolinarski, Beate; Poskowsky, Jonas; Kandulla, Maren; Netz, Nicolai: Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in Deutschland 2012. 20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks durchgeführt durch das HIS-Institut für Hochschulforschung, Hannover 2012.
Mudiappa, Michael; Artelt, Cordular (Hrsg.): BiKS – Ergebnisse einer Längsschnittstudie. Praxisrelevante Befunde aus dem Primar- und Sekundarbereich. Schriften aus der Fakultät Humanwissenschaften der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Band 15, 2014.
Treibel, Anette: Integriert Euch! Plädoyer für ein selbstbewusstes Einwanderungsland, Bonn 2016.
Sauer, Martina: Teilhabe und Befindlichkeit: Der Zusammenhang von Integration, Zugehörigkeit, Deprivation und Segregation türkeistämmiger Zuwanderer in Nordrhein-Westfalen. Ergebnisse der Mehrthemenbefragung 2015, Essen 2016. http://zfti.de/wp-content/uploads/2016/11/NRW-Mehrthemenbefragung-2015_Bericht_end.pdf.
Statistisches Bundesamt: Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Ergebnisse des Mikrozensus 2015. Fachserie 1, Reihe 2.2. Wiesbaden, 2017.
Statistisches Bundesamt: Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Ergebnisse des Mikrozensus 2015. Fachserie 1, Reihe 2.2. Wiesbaden, 2017. Eigene Berechnungen
Statistisches Bundesamt: Pressemitteilung vom 08. September 2016 – 312/16: Bildung der Eltern beeinflusst die Schulwahl für Kinder Statistisches Bundesamt. Wiesbaden, 2016.