Prof. Dr. Wolf-D. Bukow | Universität Siegen
Das urbane Zusammenleben ist schon über 100 Jahren in der Diskussion, heute mehr denn je. In vielen Debatten wird seit langem vor zunehmenden sozialen, ökonomischen, ökologischen und kulturellen Verwerfungen gewarnt. Andere dagegen betonen die besonderen Freiheitsspielräume, die eine Stadtgesellschaft trotz allem bietet und setzen auf eine Stadt, die einen vielversprechenden “Möglichkeitsraum” darstellt, und fordern dazu auf, sich mehr für Urbanität zu engagieren. Dabei wird vor allem auf die Entwicklung dichter, gemischter und nachhaltiger Stadtquartiere gesetzt (Bukow 2018). Die hier alles entscheidende Frage ist freilich, inwieweit solche Debatten über den urbanen Alltag überhaupt in der Stadtbevölkerung selbst verankert sind. Denn nur dann, wenn diese Debatten der Einschätzung der Menschen selbst entsprechen, sind sie zielführend.
- Was bewegt die Menschen hier und heute?
Schaut man sich an, was die Menschen hier bewegt, so muss man erst einmal registrieren, dass ein urbaner Alltag in der Regel gänzlich routiniert abläuft. Der “Dauerablauf des Alltags” ist pragmatisch bestimmt und wird eher fraglos gelebt. Das schließt auch den Umgang mit alltäglich begegnenden Verwerfungen ein. Natürlich entstehen auch immer wieder Debatten – besonders, wenn ungewohnte Störungen oder Konflikte auftauchen oder wenn sich plötzlich etwas überraschend verändert, die bisherigen Alltagsroutinen unter Druck, ins Stocken geraten. Es sind vor allem vier Entwicklungen, die hier entsprechende Irritationen oder Verwerfungen auszulösen vermögen:
- a) Es ist auffällig, wie sich die Bevölkerungsstruktur und damit die Lebensbedingungen vieler verändert. Es gibt in den Städten immer mehr Einpersonenhaushalte und immer mehr ältere Menschen. Sie bilden in manchen Städten sogar schon die große Mehrheit. In Neubaugebieten wiederum ziehen überwiegend junge Familien mit mehreren Kindern ein.
- b) Zudem verändern sich die Lebensgewohnheiten auch insgesamt. Die Mobilität nimmt massiv zu. Dies gilt einerseits im Blick auf längerfristige Mobilität. So gibt es immer mehr Migration. Es gilt anderseits aber auch immer mehr kurzfristige Mobilität, Die Verweildauer der Bevölkerung nimmt deutlich ab. Berufspendler und Freizeittourismus nehmen enorm zu.
- c) Der urbane Raum verändert tatsächlich sein Gesicht. Vielfalt nimmt zu, manche sprechen schon von Supervielfalt. Bedingt ist dies weniger nur durch Einwanderung als vielmehr durch die massiv zunehmenden Reisen und vor allem aber durch die neuen Medien. Die Medien vermitteln neue Lebensstile, neue Moden, ja neue Weltbilder und bewirken damit zunehmend besondere, hochindividuelle Lebensweisen.
- d) Und nicht zuletzt haben sich die Arbeits- und Lebensverhältnisse in der letzten Zeit gleich zweimal radikal verändert, das erste Mal mit der Entindustrialisierung in den 70ern und 80ern des letzten Jahrhunderts und noch einmal mit der Digitalisierung unseres gesamten Alltags. Hier hat eine unglaubliche Veränderung stattgefunden, die für weite Kreise zweimal eine ganz neue gesellschaftliche Wirklichkeit bedeutet hat und bei der viele Menschen gleichsam auf der Strecke geblieben sind. Denn mit diesem Wandel waren ja auch ein massiver Wandel von der Produktionsweise bis zum Marktgeschehen verbunden.
Tatsächlich lösen die hier notierten Entwicklungen erhebliche Irritationen und Verwerfungen aus. Man kann sie generell am Alltagsgeschehen, aber speziell auch an den Veränderungen am Wohnungs- und Arbeitsmarkt, an dem Bild, was die Stadtgesellschaft mit ihren Geschäften und Einrichtungen bietet und an vielem anderen direkt ablesen. Und allmählich wird auch erkennbar, dass die verschiedenen Veränderungen oft miteinander zusammenhängen. Es ist klar, dass das dann auch Auswirkungen auf den Dauerablauf des Alltags haben muss. Die überkommenen Routinen geraten ins Stocken.
Das bedeutet, man muss sich neu arrangieren. Und das heißt auf jeden Fall, man muss seine Handlungsperspektive neu bestimmen und sich entsprechend umorientieren und das gelingt nicht immer so einfach. Das Problem ist hier nicht, dass sich die Alltagssituationen wandeln, sondern dass sie sich sehr schnell und radikal verändern, mehr als man das bis dahin gewohnt war. Es reicht heute eben nicht mehr aus, sich wie gewohnt immer wieder einmal umzustellen, sondern es geht darum, mit einem radikal beschleunigten gesellschaftlichen Wandel Schritt zu halten. Arbeiten, Wohnen, Zusammenleben, gesundheitliche Aspekte, kulturelle Belange, Freizeit – alles, was mit unseren alltäglichen Bedürfnissen zu tun hat, verändert sich nicht mehr kontinuierlich, sondern abrupt.
Nun ist nicht jeder – allein schon aus sozialen, bildungsspezifischen, ökonomischen oder altersmäßigen Gründen – in der Lage oder bereit, sich immer wieder aufs Neue auf einen derart massiven Wandel einzustellen. Die einen haben Bedenken, weil es ja sein könnte, dass sich dann ihre private, wirtschaftliche oder gesellschaftliche Positionierung verschlechtern würde. Für andere liegt es nahe, sich auf jeden Fall erst einmal auf eine Neuabstimmung in Richtung individuellem Wohlergehen zu beschränken, selbst wenn das auf anderer Leute Kosten geht. Wieder andere warten erst einmal ab oder scheren vielleicht auch gleich ganz aus.
- Es gibt einen unerfüllten Diskussionsbedarf
Genau in solchen Augenblicken entsteht auf jeden Fall ein erheblicher Diskussionsbedarf und hier ist die Stadtgesellschaft gefragt. Was aber schlägt sich davon tatsächlich in der Stadtgesellschaft, genauer in den neuen Medien, in den kommunalen Behörden und in der Zivilgesellschaft nieder? Und wer verhilft in einer solchen Lage zu einer Übersicht über die sich tagtäglich immer schneller verändernde gesellschaftliche Wirklichkeit? Hier geht es ja nicht mehr darum, bloß die gewohnte Alltagsperspektive ein wenig auszuweiten, als vielmehr darum, eine gänzlich neue Perspektive zu entwickeln – eine Perspektive, die die unerwarteten Veränderungen mit in Rechnung zu stellen vermag.
Und damit kommen einerseits die neuen Medien bzw. die sozialen Netze, generell die Zivilgesellschaft ins Spiel. Und sehr schnell ist man auch generell bei der Öffentlichkeit und neuen etablierten Medien. Schließlich werden aber auch die kommunalen Einrichtungen und je nach dem auch die relevanten gesellschaftspolitischen Instanzen interessant und damit kommt die Politik ins Spiel. Gerade wer für sich das gesellschaftspolitische Sagen beansprucht, die Parteien, werden nun wichtig. Allerdings sind die Behörden und die Parteien keineswegs automatisch bereit oder in der Lage, den größeren Zusammenhang mit in den Blick zu nehmen, geschweige denn die Verantwortung für den Wandel zu übernehmen und entsprechende Orientierungsangebote zu machen.
Gerade deutsche Behörden und Parteien geben sich allzu oft unbeteiligt, schieben die Dinge von sich weg und überlassen sie der Zivilgesellschaft. Sie bilden gerne einen closed shop, verhalten sich häufig populistisch und motivieren eher zum Abwarten oder gar zu einer Rückbesinnung auf rein individuelle Interessen. Damit werden die Parteien zu Lobbyisten.
- a) Die alten Volksparteien begnügen sich in aller Regel damit, Stimmungen abzufragen, um ihr Wählerpotential zu befriedigen. Damit bedienen sie aber ganz gezielt einen eher individualistischen, lobbyistisch orientierten Blick. Eine neue Perspektive zu entwickeln, würde nicht nur bedeuten, den größeren Zusammenhang mit zu berücksichtigen, also das Zusammenleben in den Mittelpunkt zu stellen und von dort aus die gesellschaftlichen Spielregeln auf den zunehmenden sozialen, ökonomischen, politischen und ökologischen Wandel neu abzustimmen, sondern auch, die eigene Rolle bei der aktuellen Entwicklung rechtfertigen zu müssen. Und es würde auch bedeuten gegenüber der Wirtschaft Partei für die Bevölkerung zu ergreifen, sich auf das Allgemeininteresse zu besinnen.
- b) Die rechten Parteien bieten zwar einen Perspektivenwechsel an, verwechseln dabei aber die Zukunft mit der Vergangenheit. Sie beschwören einen mythisch überhöhten Nationalismus. Er wird zu einer Verheißung stilisiert, obwohl er uns schon zwei Weltkriege beschert hat und dort, wo er heute vertreten wird, gerade dabei ist, neue Konflikte, Antisemitismus, Rassismus und Ziganismus zu schüren. Das Ergebnis ist dann, dass ein künstlich beschworenes Volk (“WIR”) gegen den Rest der Welt antritt, gegen alles, was hier nicht mitspielt, Kinder und Jugendliche, sozial schwache, soziale und religiöse Minderheiten, Einwanderer und Flüchtlinge (Butterwegge, Hentges, Lösch 2018).
- c) Die Parteien, die sich mit sozialen und ökologischen Fragen des Zusammenlebens und der gesellschaftlichen Zukunft befassen, haben erhebliche Probleme, weil das alles nur geht, wenn man das Zusammenleben in den Mittelpunkt rückt, also die Perspektive wechselt. Und sie müssen ihre Überlegungen nicht nur publik machen, sondern vor allem auch, mögliche Konsequenzen und geeignete Wege aufzeigen, damit es in die richtige Richtung weitergeht. Der Perspektivenwechsel ist nicht so einfach, weil er Realismus verlangt, d.h. eine andere Orientierung und einen Blick in die Tiefe: Es ist eben nicht so einfach, tatsächlich auszusprechen, was wir tagtäglich leben und erleben und das dann auch noch zu diskutieren. Natürlich erleben wir tagtäglich, dass Migration alt und schlicht normal ist. Aber machen wir uns klar, dass sie weiter zunehmen wird und wir deshalb ein vernünftiges Einwanderungsgesetz brauchen? Und natürlich erleben wir tagtäglich, dass die Lebensstile sich weiter verändern, Vielfalt zunimmt, jeder längst seinen eigenen Lebensstil entwickelt hat und die Medien nutzt, um Altes hinter sich zu lassen und neue Freunde zu gewinnen. Aber machen wir uns klar, dass Vielfalt längst Normalität ist und wir uns auf soziale, sprachliche, kulturelle und religiöse Vielfalt nicht nur einstellen müssen, sondern hier auch mitzuspielen haben?
- Worauf es in dieser Situation ankommt
In dieser Situation kommt es darauf an, sich über den Diskussionsbedarf noch einmal genauer zu vergewissern. Dann lässt sich besser erkennen, wo eine sozial- bzw. problemadäquate Debatte überhaupt geführt werden kann. Nur dann kann man sich gezielt informieren und wird schnell merken, was tatsächlich hilfreich ist und was eigentlich die Probleme nur noch verschärft, wenn sich z.B. bestimmte Parteien gar als Teil des Problems erweisen. Es geht um die Klärung von Herausforderungen, Problemen und Verwerfungen vor Ort, also im urbanen Alltag.
Dieses “vor Ort” heißt, es geht um die Identifikation und Einordnung von lokal erfahrbaren Störungen und Verwerfungen auf der Basis dessen, was hier und heute das Alltagsleben ausmacht. Wir erleben, dass der Alltag längst ein durch und durch urbaner Alltag ist und dass er sich zu einem Fußabdruck globalgesellschaftlicher Wirklichkeit entwickelt hat (Bukow 2018) und damit auch all die Probleme und Verwerfungen lokal präsent sind, die im globalen Zusammenhang inszeniert werden. Das bedeutet genauer gesagt erstens, der Alltag ist längst durch und durch von Mobilität geprägt, von Einkaufs-, Berufspendler- bis zu Migrationsmobilität. Und die Mobilität wandelt sich weiter, ist längst eine zunehmend virtuelle Mobilität mit Just-in-time-Kommunikation über WhatsApp und über das Internet. Und das bedeutet genauer gesagt zweitens, der Alltag ist durch und durch von Diversität geprägt. Globale Moden, Lebensstile und Religionen bestimmen unsern Alltag. Hinter all diesen Phänomenen verbergen sich schlicht neue Technologien, neue Wirtschaftsformen und eine neue globale politische Dynamik. Dahinter verbergen sich einerseits globale Konflikte, Krisen und Katastrophen. Aber dahinter verbergen sich auch hochgesteckte Erwartungen über ein besseres Leben – z.B. Urbanitätsnarrative.
Aus dieser Perspektive heraus lassen sich dann gezielt Strategien entwickeln und gemeinsame Schritte für eine zukunftsorientierte Urbanität überlegen. Dabei bekommt man auch sehr schnell ein Gespür dafür, was im Augenblick besonders wichtig ist und wer dazu was ggf. beitragen kann. So wird man die Dinge, die man im Alltag erlebt, schnell neu und anders einschätzen lernen und entsprechend anders handeln. Ein typisches Beispiel dafür sind die zahlreichen Flüchtlingsinitiativen, die sich auf der Basis zivilgesellschaftlichen Engagements gebildet haben und Flüchtlinge nicht wie PEGIDA und die AfD als Täter, sondern als Opfer einer Dynamik betrachten, der wir auch selbst ausgeliefert sind. Und man wird diskriminierende Zuschreibungen, rassistische Ausgrenzungen usw. als eine gemeinsame Zumutung und als eine Gefahr für das urbane Zusammenleben betrachten. Ethnisierung und Rassismus und Nationalismus lassen sich von hier aus als Eingriffe in das urbane Zusammenleben identifizieren. Analoge Entwicklungen lassen sich im Blick auf Umweltinitiativen ausmachen. Hier geht es darum, ökologische Probleme wie die Klimaveränderungen und dahinter agierende neoliberale Konzerne zu identifizieren und die ökologischen Herausforderungen vor Ort dazu in Relation zu setzen. Entscheidend ist, dass damit ein anderer Referenzrahmen für das urbane Zusammenleben in den Blick kommt. Es geht dann am Ende um ein Recht auf Stadt für alle (Martezki 2018). Und das verlangt, die Möglichkeiten, die sich hier und heute ergeben, immer wieder neu zu erkunden, und zu erproben, zu schauen, wo sich vernünftige Dinge anbahnen und auch wo sich nach wie vor oder auch heute erst weitere Probleme einstellen (Lefebvre 2016) und sie Quartier für Quartier, Stadtgesellschaft für Stadtgesellschaft zu realisieren. Der Maßstab dafür ist denkbar einfach: Fairness und Gerechtigkeit für alle, wie das Rawls (Rawls, Vetter 2014) in seiner Theorie der Gerechtigkeit formuliert.
Literatur:
Bukow, Wolf-D. (2018): Wandel der Urbanität. In: Nina Berding, Wolf-D. Bukow und Karin Cudak (Hg.): Die kompakte Stadt der Zukunft. Auf dem Weg zu einer inklusiven und nachhaltigen Stadtgesellschaft. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, S. 79–104.
Butterwegge, Christoph; Hentges, Gudrun; Lösch, Bettina (Hg.) (2018): Auf dem Weg in eine andere Republik? Neoliberalismus, Standortnationalismus und Rechtspopulismus. Julius Beltz GmbH & Co. KG. 1. Auflage. Weinheim: Beltz J.
Lefebvre, Henri (2016): Das Recht auf Stadt. Nautilus Flugschrift. Hamburg: Edition Nautilus.
Maretzki, A. (2018): “Recht auf Stadt” als Gegenmittel auf den europäischen Populismus? 1. Auflage. München: GRIN Verlag.
Rawls, John; Vetter, Hermann (2014): Eine Theorie der Gerechtigkeit. 19. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp.