Prof. Dr. Claus Melter | Hochschule Bielefeld
Die Schulbildung und die Soziale Arbeit sind auch heute durch einen dominanten Auftrag gekennzeichnet: Die Bildung und Erziehung zur Arbeit nennt sich heute Employability, Beschäftigungsfähigkeit und Verwertbarkeit auf dem Arbeitsmarkt. Jugendliche und Erwachsene sollen Ausbildungs- und (Hoch-)Schul-Abschlüsse erlangen, um eine bezahlte Arbeit (oder vielfach unbezahlte Care-Arbeit) ausüben zu können und zu sollen. Zum einen kann die Reduzierung von Bildung auf die Erziehung zur Arbeit kritisiert werden. Zum anderen ist die Konstruktion von Gruppen und deren Bildung und Erziehung zu bestimmten Arbeiten zu thematisieren.
- Kritik soll im Folgenden verstanden werden als eine Auseinandersetzung mit Denk- und Handlungspraxen sowie Verhältnissen, deren Teil wir sind. Kritisierende sind also Teil dessen, was kritisiert wird. Aktivist*innen, Pädagog*innen und Hochschullehrende stehen in Relation oder sind Teil von Firmen und Institutionen, die ungleiche Ressourcenzugänge und Handlungsmöglichkeiten für unterschiedene Gruppen herstellen.
- Wenngleich Konstruktionen auf gedanklichen Erfindungen beruhen, so entfalten sie doch physische, psychische und gedankliche Realitäten. Die Erfindung von Menschengruppen wird materiell, sozial und formal durchgesetzt oder auch kritisiert. Die Einteilung z.B. in Mädchen, Jungen und Transgender, in homo-, bi- oder heterosexuell, in mit oder ohne deutsche Staatsangehörigkeit, in „weiß“ und „schwarz“, in arm und reich, in mit oder ohne „Beeinträchtigung“ ist folgenreich. Und gegen erfolgte Erfindungen und Einteilungen können Menschen sich wehren. Dies kann geschehen, in dem z.B. die Konstruktion kritisiert oder erweitert oder indem versucht wird, den Einteilungen zu entwischen oder sie weniger bedeutsam zu machen, sie zu ironisieren, sie affirmativ zu sabotieren (vgl. Dhawan 2014).
- Die konstruierten Gruppen wurden – so die zentrale These dieses Textes – stets zu bestimmten Arbeiten in den jeweiligen Macht- und Differenzverhältnissen erzogen – und andere Arbeiten sollten diese Personen nicht ausüben. Dabei waren bestimmte Gruppen und Arbeiten höher angesehen und höher sozial, materiell und finanziell entlohnt, waren weniger gesundheitsschädigend als andere Arbeiten.
- Die Erziehung zu und durch Arbeit für unterschiedene Menschengruppen ist eine der zentralen und historisch weitgehend durchgängigen Aufgaben von Pädagogik.
- Bereits in der europäischen Antike gab es fundamentale Unterscheidungen nach Geschlecht, Herkunft, Sozialstatus und Körperlichkeit. Eine Erklärung der Wortherkunft des griechischen Wortes Pädagogik heißt „Der Sklave, der den Jungen zum Lehrer führt“. Dies entsprach der pädagogischen Praxis, dass nur Jungen, die von ihren männlichen Lehrern als schön, klug und wissbegierig angesehen wurden, erzogen und „gebildet“ wurden. Mädchen waren ausgeschlossen, ebenso Kinder aus armen oder versklavten Familien sowie Menschen, die als körperlich oder kognitiv „beeinträchtigt“ galten.
- Die Erziehung zu und durch Arbeit unterwirft bestimmte Gruppen in gewaltvoller Weise. „Die Entstehung des modernen Erziehungsdenkens“ (Spieker 2013) und die Erziehung zu bestimmten Arbeiten fußt in seiner kapitalistischen Form im europäischen Kolonialismus, wo Menschen in nicht-europäischen Ländern unterworfen, verfolgt und getötet wurden, wo die Überlebenden geschlechtergetrennt zu Haus- und Landarbeit erzogen wurden, während den europäischen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen geschlechtergetrennte Bildungsinhalte und Tätigkeiten des Leitens, Befehlens, Denkens und Beherrschens für „ihre Bereiche“ nahe gelegt wurden.
- In den kolonisierenden europäischen Ländern wurden bestehende Erziehungs- und Bildungspraxen zur bestimmten Arbeit für unterschiedene Gruppen im Austausch mit den Diskursen in den Kolonien stetig weiter entwickelt. Auch in der globalisierten und digitalisierten Welt werden Geschlechter-, Behinderungs-, Klassen- sowie Staatsangehörigkeitskonstruktionen und rassistische Vorstellungen reproduziert und bedeutsam gemacht. In einigen historischen Schlaglichtern soll im Folgenden dargestellt werden, wie die Bildung und Erziehung zur und durch Arbeit erfolgte.
Geschlechterkonstruktionen und Arbeit
Eine sehr alte historische und aktuelle Konstruktion ist die Einteilung von Menschen in männlich und weiblich (und andere Geschlechter). Dies war und ist verbunden mit Vorstellungen, wie die so eingeteilten Personen sich bewegen, sprechen, fühlen, begehren, handeln und arbeiten sollen. Die traditionelle Einteilung erfolgte in die Frauen zugeschriebene und vielfach unbezahlte Haus- und Sorge-Arbeit sowie die Aufgabe der Erziehung und Begleitung der Kinder auf der einen Seite. Auf der anderen Seite wurden Männern Arbeiten zugewiesen, die materielles und finanzielles Einkommen in den Bereichen Landwirtschaft und Produktion beinhalteten. Diese sehr grobe Einteilung hat in seiner Grundlogik und seinen Effekten immer noch bestand, was sich in Tätigkeits-, Arbeitsmarkt- und Einkommensanalysen in Deutschland auch seit den 2010er Jahren zeigt. Frauen kümmern sich mehr um Kinder als Männer, arbeiten in weniger gut bezahlten Berufsfeldern und sind vermehrt von Altersarmut betroffen, verbunden mit der Tatsache mehrheitlich von Männern ausgeübter sexualisierter und physischer Gewalt gegen Mädchen, weibliche Jugendliche und Frauen. Zudem gibt es etwas, was als heterosexuelle Erziehung von Frauen zu weiblicher Familien- und Beziehungs-Ehre benannt werden kann: Frauen werden in heterosexuellen Beziehungen oft sowohl für das Gelingen der heterosexuellen Beziehung als auch für das Auftreten und den Berufserfolg des Mannes verantwortlich gemacht.
Kolonisierung und Arbeit
In den von Deutschland unterworfenen Kolonien wurden Mithilfe von staatlichen Schulen und Missionsschulen in Kinder afrikanischer Herkunft einerseits und andererseits in Kinder europäischer Herkunft und nach Geschlechtern (Gender) (vgl. Akakpo-Numado 2011) unterschieden, um dann die Kinder zu Arbeiten der Herrschenden oder der Unterdrückten zu erziehen. Bildung war also auch vorgesehen für die unterworfene Bevölkerung, jedoch stets nur in dem Maße und mit dem Ziel, dass die Herrschaft und die Privilegien Deutschen nicht gefährdet wurden (vgl. Adick/ Mehnert 2001). In Konzentrationslagern im heutigen Namibia („Deutsch-Südwest“) gab es auch die Tötung durch Arbeit und unzureichende Nahrung (vgl. Zimmerer/ Zeller 2003).
Nationalsozialismus und Arbeit
Im Nationalsozialismus gab es zum einen Menschen kategorisiert und hierarchisiert (vgl. Kappeler 2000) und dann die Vernichtung durch Arbeit gegenüber bestimmten Gruppen. Verfolgte Menschen wurden u.a. in den Lagern in Auschwitz durch schwere Arbeit, wenig und schlechte Nahrung sowie Misshandlungen ausgezehrt, um daran zu sterben oder ermordet zu werden Dann gab es die Vorstellung von „christlich-deutscher Arbeit“ im Gegensatz zu „jüdischer Arbeit“. Erstere wurde vor allem als physisch und ehrlich kategorisiert, während intellektuelle Arbeit abgewertet wurde (vgl. Aly 2012). Und es gab die Konstruktion der „Arbeit der Seßhaften“ gegenüber der „Arbeit der Roma und Sinti“, denen das Deutsch-Sein ebenso wie den Juden und Jüdinnen abgesprochen wurde. Zudem gab es eine Änderung in den Produktionsverhältnissen, die vor allem jene Arbeiten besser entlohnte, die als kriegswichtig angesehen wurden.
Arbeit im postkolonialen, postnationalsozialistischen und kapitalistischen Deutschland.
Eine der zentralen Aufgabe von Bildung und Sozialer Arbeit ist weiterhin die Erziehung, Bildung und Subjektivierung (vgl. Kessl 2005) zu bezahlter Erwerbsarbeit und vielfach unbezahlter Care-Arbeit (Pflege und auch emotionale und hygienische Versorgung von Angehörigen, Nahrungsbereitstellung und Erziehung). Analysen des Arbeitsmarktes zeigen zum einen weiterhin, dass Berufe, in denen vorwiegend Frauen tätig sind, schlechter bezahlt werden als Berufe, wo vorwiegend Männer tätig sind. Zum anderen besteht eine Form ethnisierend-rassistischer Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt, wenn besser oder gleich qualifizierte Bewerbende „mit Migrationsgeschichte“ nicht genommen werden. Und es bestehen Formen nationalstaatlicher Diskriminierung im Asyl- und Aufenthaltsrecht, auch durch Einschränkungen im Bereich Arbeit. All dies schlägt sich in durchschnittlich schlechteren Arbeits-, Einkommens- und Wohnverhältnissen von Personen „mit Migrationsgeschichte“ nieder. Menschen, denen eine Behinderung zugeschrieben wird, werden weiterhin oftmals in Sonderarbeitsbereiche wie Werkstätten delegiert.
Fazit
Das Bildungssystem und die Soziale Arbeit, so kann als abschließende These formuliert werden, realisiert weiter geschlechter-trennende, ethnisierend-rassistische sowie Klassen-und Behinderungsverhältnisse reproduzierende Vorstellungen von unterschiedlichen Gruppen, die zu bestimmten Arbeiten gebildet werden. Kritische Ansätze dagegen werden oftmals formuliert, jedoch nur in wenigen Kontexten in Deutschland umgesetzt.
Literatur
Adick, Christel / Mehnert, Wolfgang (2001): Deutsche Missions- und Kolonialpädagogik in Dokumenten: eine kommentierte Quellensammlung aus den Afrikabeständen deutschsprachiger Archive 1884 – 1914. Frankfurt a.M.: IKO
Akakpo-Numado (2011): Mädchen- und Frauenbildung in den deutschen Afrika-Kolonien. (1884-1914). Dissertation. Universität Bochum. Bochum.
Aly, Götz (2012): Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass – 1800 bis 1933. Frankfurt a.M.: Fischer.
Dhawan, Nikita (2014): http://www.migrazine.at/artikel/deutsch-lieben-lernen
Kappeler, Manfred (2000): Der schreckliche Traum vom vollkommenen Menschen. Marburg: Schüren
Kessl, Fabian (2005): Der Gebrauch der eigenen Kräfte. Eine Gouvermentalität Sozialer Arbeit. Weinheim: Juventa Verlag.
Spieker, Susanne (2015): Die Entstehung der modernen Erziehungswissenschaft in der europäischen Expansion. Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang
Zimmerer, Jürgen/ Zeller, Joachim (Hrsg.) (2003): Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904 – 1908) in Namibia und seine Folgen. Berlin: Ch. Links