Prof. Dr. Wolf-D. Bukow – Nina Berding | Universität Siegen
Worum es geht
Man hat sich angewöhnt, die globalgesellschaftliche Entwicklung und ihre Auswirkungen, nämlich Migration und Diversität aus einer nationalstaatlichen Perspektive zu betrachten und unterstellt dabei fast automatisch, dass der Nationalstaat eine noch dazu in sich geschlossene und identische Gesellschaft sei. Tatsächlich hat er aber trotz der regelmäßig wiederkehrenden Beschwörung einer nationalen Sprache, Kultur, Religion und Identität nie eine Gesellschaft dargestellt, sondern wurde erst im 19. Jahrhundert erfunden, um unterschiedlichste gesellschaftliche Formate unter einem politischen Regime zu bündeln und ökonomisch wie politisch verfügbar zu machen. Es ist an der Zeit sich darüber klar zu werden, dass es sich bei den gegenwärtigen globalen Herausforderungen und ihren Auswirkungen auf Mobilität bzw. Migration und Diversität um gesellschaftliche Herausforderungen handelt, also Herausforderungen, die das Zusammenleben betreffen. Und das Zusammenleben wird heute nach dem weltweiten Siegeszug der Stadtgesellschaften mehr denn je nach diesem Gesellschaftsformat organisiert. Es geht also nicht um den Nationalstaat, sondern um die Stadtgesellschaft, wenn die globale Entwicklung immer mehr das alltägliche Zusammenleben verändert, wenn immer mehr Ballungsräume von bislang unbekannter Größe entstehen und wenn sich ein bislang unbekannter gesellschaftlicher Wandel vollzieht, der zunehmend von Superdiversität, Supermobilität und just-in-time-Kommunikation geprägt ist. Es sind tatsächlich die Stadtgesellschaften, deren Alltag zu einem Fußabdruck globalgesellschaftlicher Wirklichkeit geworden ist und die damit das urbane Zusammenleben immer wieder neu durchbuchstabieren müssen und mehr denn je darauf aus sein müssen, eine inklusive, eine faire und gerechte Ordnung des Zusammenlebens zu sichern. Damit noch nicht genug, sie müssen sich gleichzeitig auch noch mit komplexen politischen und ökonomischen Kontextbedingungen befassen, die den Gestaltungsspielraum der Stadtgesellschaften immer wieder einzuschränken versuchen. Das zeigt sich beispielsweise am nationalstaatlich gesteuerten, von blankem Populismus geprägten Umgang mit Flüchtlingen und im Hinblick auf häufig investorengesteuerten Städtebau. Es ist mehr denn je entscheidend, dass sich Stadtgesellschaften auf das besinnen, dass sie im Kern das ausmacht, was eine lebendige Gesellschaft ausmacht. Und das bedeutet, sich auf die je eigenen Kompetenzen zu besinnen, die gesamte Bevölkerung, die Alteingesessenen genauso wie die Newcomer, fair und gerecht zu behandeln, für eine entsprechende, überschaubare und bedürfniszentrierte Ausgestaltung des urbanen Alltags für alle zu sorgen und die Menschen unter den Bedingungen zunehmender Globalisierung für lokale Belange zu mobilisieren.
Urbanität ist zum Leitnarrativ geworden
Rein quantitativ lässt sich konstatieren, dass die große Mehrheit der Weltbevölkerung schon heute in sogenannte Ballungsräume strebt und dass es immer mehr werden, die in die Städte drängen. Und schon jetzt ist absehbar, dass allein diese Entwicklung zu extremen Erwartungen an die Städte führt. Sie sind längst zum alles entscheidenden Ziel avanciert. Und das bedeutet, vor Ort wird immer mehr Arbeit, Wohnraum, Infrastruktur, Bildung etc. nachgefragt, um die notwendigen Grundbedürfnisse befriedigen zu können. Es bleibt nicht aus, dass das entsprechende Angebot immer wieder verknappt. Es lässt sich aber auch aus ökonomischen und aus ökologischen Gründen nicht so einfach ausweiten. Tatsächlich wird geschätzt, dass in 30 Jahren bereits 6,5 Milliarden Menschen in Städten wohnen werden, davon bis zur Hälfte in Slums. Allerdings ist das nur die halbe Wahrheit. Denn auf der anderen Seite klagen viele Regionen selbst in den Zentrumsländern über eine zurückgehende Bevölkerung und eine dadurch bedingte schrumpfende Nachfrage nach Arbeiten, Wohnen und Infrastruktur. Offenbar bemühen sie sich zu wenig um ihre Struktur als Stadtgesellschaft und werden deshalb links liegen gelassen.
Und eher qualitativ betrachtet ist absehbar, dass Mobilität und Diversität der Stadtbevölkerung weiter massiv zunehmen werden. Was die Mobilität betrifft, so kann man beobachten, dass die Verweildauer des Einzelnen an einem Ort abnimmt, also die Menschen immer mobiler werden und die Bevölkerung zunehmend fluktuiert. Und die Mobilität dürfte auch während der Verweildauer noch zusätzlich ansteigen, solange Arbeiten, Wohnen, Bildung und Freizeit weiter auseinanderdriften. Und was die Diversität betrifft, so nimmt die individuelle, die milieu- und herkunftsspezifische Unterschiedlichkeit immer deutlicher zu. Hierfür ist nicht nur die längst vertraute neuzeitliche Individualisierung verantwortlich, sondern hier sind auch die neuen Technologien wie das Internet zu Schrittmachern geworden. Hinzu kommt nicht zuletzt noch die mit der augenblicklichen Globalisierung verknüpften zunehmenden Konflikte und ökologischen Verwerfungen bis zum Klimawandel, die zu einer verschärften Migration und Flucht beitragen und damit am Ende noch weitere Diversitätsimpulse auslöst.
Gleichzeitig lässt sich freilich auch beobachten, dass dieser qualitativ wie quantitativ nachweisbare sehr eindeutige Trend zu mehr Stadt und gleichzeitig zu mehr Mobilität und Diversität für immer mehr Menschen hoch attraktiv erscheint. Das ist allein schon daran erkennen kann, dass die globale Mobilität nicht nur zentrumszentriert sondern vor allem auch stadtorientiert ausgerichtet ist, also mitten in die urbanen Zentren strebt. Urbanität ist sicherlich schon lange zu einem hoch motivierenden Leitnarrativ geworden, Urbanität ist uralt, ist aber heute Dank der modernen Medien und Technologien noch attraktiver und erscheint gleichzeitig leichter einlösbar als früher. Dieser Trend belegt die große Wertschätzung für ein urbanes Zusammenleben. Es geht dabei neben den genannten infrastrukturellen vor allem auch um soziale, politische, kulturelle und nicht zuletzt ökonomische wie ökologische Herausforderungen.
Der hier nur ganz knapp quantitativ, qualitativ wie motivational skizzierte Trend bringt die Stadtgesellschaften in eine extrem schwierige Lage, eröffnet ihnen aber auch ganz neue Chancen, wenn sie ihn als an sich adressiert ernst nehmen, akzeptieren und sachadäquat reagieren. In dieser Situation besinnen sich nach wie vor manche Städte und Kommunen vor allem in den Zentrumsländern auf den Nationalstaat und fordern ihn zu mehr Unterstützung, sprich Abschottung gegenüber einer “von außen” bewirkten fortschreitenden Mobilität und Diversität auf. Sie hoffen auf diese Weise, die Vorteile dieses Trends nutzen zu können und sich gleichzeitig jedem Wandlungsdruck entziehen zu können. Und sie glauben, sich dann um die sich zunehmend globalisierenden Rahmenbedingungen nicht weiter kümmern zu müssen. Viele Städte sehen das aber auch völlig anders, stellen sich diesem an sie ja auch dressierten Trend. Sie begreifen, dass er unumkehrbar ist und für sie eine richtungsweisende Herausforderung beinhaltet. Immer mehr Städte nehmen dies als Chance war und loten neue Möglichkeitsräume aus: Vielfalt als Stärke, eine Stadt für alle. Und sie bemühen sich darum, alles was wichtig ist, zunehmend in ihren Verantwortungsbereich zu ziehen und selbst in die Hand zu nehmen. Dabei werden die überkommenen, oft verdrängten urbanen Kompetenzen, vor allem auch die Tradition der europäischen Stadt immer wichtiger, weil sie eine überschaubare Urbanität versprechen, die sich heute Quartier für Quartier als neuem Möglichkeitsraum anbieten dürfte.
Allerdings verfolgen hier viele Städte noch eine Politik des sowohl als auch. Einerseits wird zunehmend bewusst, dass die erste Position langfristig zum Scheitern verurteilt ist, weil es trotz der Beschwörung umfassender, breit angelegter nationaler Traditionen und Erzählungen kaum gelingt, zwischen “guter” und “schlechter” Mobilität bzw. Diversität zu unterschieden, geschweige denn zu trennen. Anderseits wird aber auch allmählich klar, auch eine offene Position steht vor ganz ähnlichen Schwierigkeiten, allerdings aus entgegengesetzten Gründen. Denn trotz des Rekurses auf eine zunehmend attraktive “Urbanität” entstehen erhebliche Probleme allein deshalb, weil das Wissen und damit die Sensibilität für das, was Urbanität ausmacht und Erkenntnisse darüber, inwiefern Urbanität zukunftsfest gemacht werden kann, noch viel zu gering sind. Das bedeutet, die Städte fühlen sich allein gelassen. Viele Städte haben sich deshalb ganz pragmatisch erst einmal mit sowohl als auch beholfen und heben beispielsweise einerseits die mit der zunehmenden Mobilität und Diversität verbundenen Vorteile und Globalisierungsgewinne hervor, während sie auf der anderen Seite genau diese bekämpfen, sobald sie von einer “falschen”, nämlich unerwünschten Bevölkerungsgruppe repräsentiert werden. Mit dieser Strategie lösen sie aber nichts, sondern erzeugen nur noch zusätzliche Schwierigkeiten und verwickeln sich in erhebliche Widersprüche, allein schon, weil der globale Wandel keineswegs nur oder auch nur überwiegend durch Einwanderung vermittelt wird und so auch gar nicht zu steuern ist, sondern mit durch komplexe soziale, ökonomische, politische und kulturelle Vernetzungen wirksam wird.
Trotz der Debatten im Umfeld von HABITAT I, II und III stehen die Stadtgesellschaften mit ihren Debatten hier erst am Anfang und sie müssen sich überhaupt erst in ihrer Rolle als den eigentlichen Adressaten jenes Urbanitätsnarrativs zurechtfinden, dazu bekennen. Sie müssen lernen, sich entsprechend zu platzieren, vor allem aber erst einmal einen Referenzrahmen für die weitere Debatte, das urbane Quartier, entwickeln und sich von dort aus dem gesellschaftlichen Wandel erfolgreich stellen zu können.
Ein erster Versuch, sich den Herausforderungen vor Ort zu stellen
Ein sehr konkretes, spannendes und aussagekräftiges Beispiel für dieses Bemühen um eine solche Neuausrichtung ist die Diskussion, die zur Zeit über die Durchsetzung des urbanen Quartiers abläuft. Es ist ein Versuch, das Konzept einer kleinräumigen Nutzungsmischung und sozio-kulturellen Vielfalt durchzusetzen. Hier geht es im Kern “nur” um die Änderung der Baunutzungsverordnung, genauer um die Einführung einer die Traditionen der europäischen Stadt aufgreifende, lange vernachlässigten und für überholt gehaltene Gebietskategorie.
Es geht aber genauer besehen darum, das urbane Quartier so umzugestalten, dass eine funktionale wie sozio-kulturelle Exklusion zukünftig vermieden werden kann. Dazu wird eine auf inclusion und sustainability ausgerichtete Stadtentwicklung gefordert und eine entsprechende „dritte“ Gebietskategorie in den Mittelpunkt gerückt. Diese Debatte ist eigentlich schon alt und wurde im Jahr 2000 im Bericht der Kommission Zukunft Stadt 2000 das erste Mal geführt und der neue Gebietstyp wurde damals auch schon klar ausformuliert. Der neue Gebietstyp fand dann im Jahr 2007 Niederschlag in der Charta von Leipzig und ist seitdem schrittweise in die Stadtentwicklungsdebatten und in den kommunalen Alltag eingedrungen und hat dort zunehmend zu einem neuen Nachdenken über die urbane Gestaltung von kleinräumigen Zusammenhängen beigetragen. Schließlich wurde 2015 die Konzeption eines “urbanen Gebietes” von der Bauministerkonferenz der Länder aufgegriffen und das Stadtquartier dabei zum Referenzrahmen bestimmt. Und im Referentenentwurf des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit vom Juni 2016 wird die kleinräumige Nutzungsmischung auch als Referenzrahmen fixiert.
Nur als Ende März der Bundesrat der neuen Baurechtsnovelle zustimmt, fehlt ausgerechnet die kleinräumige Nutzungsmischung. Zwar postuliert die Ministerin bei der Vorstellung ihres endgültigen Novellierungsvorschlages:
„Die Baurechtsnovelle schafft neue Möglichkeiten für das Zusammenleben in der Stadt. Sie macht den Weg frei für eine dynamische, zukunftsorientierte Stadtentwicklung. Das urbane Gebiet als Herzstück dieser Novelle schafft neue Perspektiven für eine lebendige und vielfältige Stadtgesellschaft. Kommunen können Wohnen, Arbeiten und Freizeit besser miteinander in Einklang bringen. Diese Mischung erleichtert vielerorts die Schaffung von dringend benötigtem Wohnraum. Mit dem urbanen Gebiet realisieren wir das neue Leitbild unserer Stadtentwicklungspolitik: die funktionsgemischte, nachhaltige europäische Stadt der kurzen Wege.”
Aber sie verzichtet in der beschlossenen Endfassung im Blick auf die Nutzungsmischung auf jede sozial adäquate Maßstäblichkeit, eben das Quartier als Referenzrahmen. So fehlt plötzlich in der Novelle der alles entscheidende Maßstab, bildlich gesprochen handelt es sich nun um ein “Rezept ohne Mengenangaben”. Ohne eine eindeutige Kleinräumigkeit ist dieses Vorhaben nichts anderes als die Fortsetzung des städtebaulichen Fordismus. Denn eine Nutzungsmischung in einer Stadt ohne diese Maßstäblichkeit haben wir natürlich schon heute selbstverständlich in jeder Stadt, selbst in einer Stadt wie München oder Köln mit ihrer extremen sozio-kulturellen Segregation und radikalen funktionalen Entmischung.
Es kommt Tatsächlich entscheidend auf den Referenzrahmen an. Streicht man die Kleinräumigkeit bzw. die Quartierbindung, ist der Referenzrahmen automatisch die Stadt insgesamt und damit gerät die Nutzungsmischung zu einer Leerformel und die allein durch die Kleinräumigkeit ermöglichte inclusion und sustainability wird zu einer Fiktion. Das einzige, was mit einer solchen Novellierung erreicht wird, ist die Aufweichung der bisherigen Gebietstypen, ein Aufweichen, was zwar der Wohnungsindustrie, also auch den Investoren entgegen kommt, was aber im Blick auf die angekündigte Zielsetzung bestenfalls bedeutungslos ist. Tatsächlich ist sogar im Fall des Falles das Gegenteil zu erwarten, weil die bisherigen Segregations- und Funktionsentmischungstendenzen jetzt kommunalpolitisch durch punktuell in bisherige Industriegebiete eingestreuten Wohnungsbau auch noch zur Legitimation eines weiter so wie bisher genutzt werden. Die Beiträge der kommunalen Spitzenverbände und der Bauministerkonferenz im Verfahren zum Urbanen Gebiet müssen als eine dezidierte politische Absage an das Thema Nutzungsmischung insgesamt betrachtet werden. “Optional” war kleinräumige Nutzungsmischung schon bisher – mit dem bekannten Ergebnis maximaler Bedeutungslosigkeit.
Stadtgesellschaften haben nur Zukunft, wenn sie ihre Quartiere auf eine „Urbanität für alle“ umstellt und inklusiv ausrichtet
Mit dem halbherzigen Versuch wurde die Chance vertan, der Stadtentwicklung einen wirklich nachhaltigen Impuls zu geben, ihre Quartiere zu re-urbanisieren und auf die zunehmende Vielfalt und Mobilität neu ausrichten. Sie werden jedenfalls nicht motiviert, sich für den sich allenthalben abzeichnenden gesellschaftlichen Wandel zu öffnen und neue Formen des Zusammenlebens zu entwickeln. Der sich längst abzeichnende quantitativ, qualitativ wie motivational skizzierte Trend, das Urbanitätsnarrativ, bringt die Stadtgesellschaften zweifellos zunehmend in eine extrem schwierige Lage. Aber genau besehen wird ihnen auf jeden Fall mit den vom Staat veränderten Rahmenbedingungen erstmals zumindest ein Spielraum für mehr lokale Urbanität zugestanden. Damit ist in jedem Fall die Chance eröffnet, den globalen Wandel nicht nur ernst zu nehmen, sondern auch aufzugreifen und konzeptionell zu verarbeitet.
Unter dem Strich bedeutet das für die Städte: “Zurück auf Los”, oder „Rückbesinnung auf eine Urbanität für alle“. Es bedeutet aber auch, die vom Staat implementierten Integrations- und Anpassungsdebatten aufzugeben und sich stattdessen auf die eigenen urbanen Kompetenzen zu besinnen, das Bewusstsein der Vielen als Viele zu stärken, und damit die Menschen in die Lage zu versetzen, sich zu ihrer Rolle als Stadtbevölkerung im Kontext des globalen Wandels zu bekennen. Ein erste Schritt in dieser Richtung ist es, sich noch einmal eines geeigneten Referenzrahmens für die weitere Stadtentwicklung, nämlich eines urbanen Quartiers als zukunftsorientierten Möglichkeitsraum, zu vergewissern. Das kleinräumige sozio-kulturell diverse und nutzungsgemischtes Quartier bietet dafür nach allem was wir heute wissen, die besten Möglichkeiten. Dies ist eine Herausforderung, bei der die Städte nicht allein gelassen werden dürfen, weil sie sonst unter dem Druck der politischen und ökonomischen Moden allzu schnell nachgeben. Hier sind post-nationale Konzepte, und damit mehr denn je Wissenschaft und die Forschung, gefragt.