Prof. Dr. Jochen Oltmer | Universität Osnabrück
Mit dem Ende des ›Kalten Krieges‹ und der Öffnung des ›Eisernen Vorhangs‹ 1989/90 setzten neue Migrationsbewegungen von Ost- nach Westeuropa ein. Auf den starken Anstieg der Zuwanderung reagierten die westeuropäischen Staaten rasch mit Restriktionen und Abwehrmaßnahmen: Nicht nur die Stabilität der Arbeitsmärkte galt als gefährdet, vielmehr schien mit zunehmender Fremdenfeindlichkeit auch ein Anstieg gesellschaftlicher Konflikte zu drohen. Die vor diesem Hintergrund entwickelten Maßnahmen begrenzten den Umfang der Ost-West-Migration und pressten sie in erwünschte Bahnen, indem sie beispielsweise zeitlich befristet wurden. Das aber konnte nicht verhindern, dass die Ost-West-Migration die europäischen Migrationsverhältnisse im Jahrzehnt vor und nach dem Jahr 2000 nachhaltig prägten. Schließlich führte die Osterweiterung der Europäischen Union 2004 und 2007 und damit die Einbeziehung vieler osteuropäischer Staaten in die europäische Integration zu einer erneuten Veränderung der Migrationsverhältnisse: Aufgrund der Freizügigkeit, die allen Unionsbürgern gewährt wird, verloren viele der Barrieren an Bedeutung, die zunächst noch die Ost-West-Bewegung behindert oder eingeschränkt hatten.
- Arbeitsmigration vor der EU-Osterweiterung
Ein Großteil der neuen Ost-West-Arbeitsmigration nach 1989 war zunächst ausgerichtet auf die westlichen Nachbarstaaten jenseits des ehemaligen ›Eisernen Vorhangs: Italien oder Griechenland wurden vornehmlich zum Ziel südosteuropäischer Zuwanderung, bei der insbesondere die albanische Migration ein hohes Gewicht hatte. Die Migration nach Österreich speiste sich vor allem aus Bewegungen aus Jugoslawien bzw. dessen Nachfolgestaaten, während in der Bundesrepublik Deutschland vornehmlich polnische Arbeitsmigranten beschäftigt wurden. Ein guter Teil der grenzüberschreitenden Arbeitsmigration blieb in den Bahnen von Pendelbewegungen oder saisonalen Wanderungen: Viele Menschen aus Osteuropa arbeiteten im Baugewerbe, in der Landwirtschaft, in Hotels oder Haushalten als Pflegekräfte.
Unter den Ost-West-Migrationen dominierten zunächst die Bewegungen von Polen. Die in der EG/EU registrierten polnischen Arbeitswanderer arbeiteten in den 1990er Jahren zu drei Vierteln in Deutschland. Um dauerhafte Einwanderung zu verhindern und die Zuwanderung in die Arbeitmarktbereiche zu lenken, in denen der Bedarf besonders hoch zu sein schien, vereinbarte die Bundesrepublik Deutschland Anfang der 1990er Jahre mit einem Großteil der Staaten Osteuropas Abkommen zur Regelung der Arbeitsmigration – von Bosnien-Herzegowina und Bulgarien über Kroatien, der Tschechischen Republik, der Slowakei, Serbien, Lettland, Mazedonien, Polen, Rumänien bis hin zu Slowenien und Ungarn. Zentrale Elemente waren dabei die Beschränkung einerseits des Umfangs der Zuwanderung auf der Basis des Bedarfs des Arbeitsmarkts sowie andererseits auf saisonale bzw. kurzfristige Tätigkeiten (meist ein bis drei Monate). Auch andere west- und mitteleuropäische Staaten schlossen in den 1990er Jahre und zu Beginn des 21. Jahrhunderts solche bilateralen Verträge. In deren Rahmen wurden beispielsweise im Jahr 2003 insgesamt 320.000 polnische Arbeitsmigrantinnen und -migranten beschäftigt, 95 Prozent davon in Deutschland.
Diese deutsche Beschränkung der Arbeitsmigration durch Saisonalisierung trug mit dazu bei, dass andere Ziele in Westeuropa attraktiver für polnische Zuwanderer wurden. Seit Mitte der 1990er Jahre wuchs der Umfang der Bewegungen nach Spanien, Großbritannien, Belgien, Frankreich, Italien und schließlich auch nach Irland. Dass die Erwerbsbereiche in Deutschland, die besonders häufig polnische Arbeitskräfte nachfragten, seit Ende der 1990er Jahre auch zunehmend in weiter entfernt liegenden Gebieten Osteuropas Arbeitskräfte suchten, lag aber auch an der wirtschaftlichen Entwicklung in Polen selbst: Es entwickelte sich zum Zuwanderungsland, polnische Arbeitswanderer, darunter viele hochqualifizierte Kräfte, kehrten wegen der verbesserten Erwerbsmöglichkeiten in ihr Herkunftsland zurück. Das war schließlich auch den Hintergrund dafür, dass der vielfach erwartete starke Anstieg der Abwanderung aus Polen nach Mittel- und Westeuropa nach dem Beitritt Polens zur EU 2004 ausblieb.
- Folgen der Osterweiterung der EU
Mit der Osterweiterung der EU, der Aufnahme vieler osteuropäischer Staaten in die Union und der damit verbundenen Freizügigkeit haben sich die Rahmenbedingungen der Ost-West-Migrationsverhältnisse grundlegend verändert.
Gerade die unterschiedlichen Reaktionen auf den Umgang mit den Fluchtbewegungen 2015/16 haben allerdings noch einmal deutlich gemacht, dass die EU alles andere als ein einheitlicher Migrationsraum ist. Auch die zum Teil sehr prekäre Situation von Minderheiten (insbesondere Roma) im Osten Europas und das weiterhin bestehende Ost-West-Gefälle in der Wirtschaftsleistung und in den Einkommen werden dazu beitragen, dass Ost-West-Migration auch zukünftig die Migrationssituation in der EU prägen wird.
In Deutschland lebten Ende 2015 4 Millionen Angehörige anderer EU-Mitgliedstaaten, die hier 4,8% der Bevölkerung stellten. Blickt man auf die Reihe der 2004 der EU beigetretenen 8 Staaten Osteuropas sowie auf Malta und Zypern, lässt sich mit 741.000 vor allem eine hohe Zahl polnischer Staatsangehöriger in der Bundesrepublik ausmachen. Alle andere Herkunftsstaaten blieben demgegenüber deutlich zurück: Ungarische Staatsangehörige erreichen als zweitwichtigste Gruppe eine Zahl von 178.000, es folgt Tschechien mit 54.000. Demgegenüber erwies sich die Zuwanderung aus den 2007 in die EU aufgenommenen Staaten Rumänien und Bulgarien als wesentlich höher. Sie bildeten Ende 2015 Herkunftsländer von 680.000 Migranten in der Bundesrepublik, wobei Rumänen mit 453.000 die Bulgaren (227.000) deutlich überragten. Der weit überwiegende Teil der Bulgarien und Rumänien ist erst nach dem EU-Beitritt in die Bundesrepublik zugewandert: Während die durchschnittliche Aufenthaltsdauer von Unionsbürgern in Deutschland 2015 bei über 16 Jahren lag, erreichten bulgarische Staatsangehörige einen Wert von nur 4,8 Jahren und rumänische von 4,4.
Die Zuwanderung aus Kroation als jüngstes EU-Land ist demgegenüber ganz anders geartet: Zwar hat sich der Zuzug von 2013: 25.200 auf 2015: 57.412 mehr als verdoppelt (bei allerdings zeitgleich starken Fortzügen), der größte Teil der Menschen mit kroatischer Staatsangehörigkeit befindet sich allerdings seit langem in der Bundesrepublik: Kroaten halten sich durchschnittlich seit 24,4 Jahren in der Bundesrepublik auf – ein Wert der darauf verweist, dass Kroatien als Teil Jugoslawien zu den Anwerbeländern im Kontext der ›Gastarbeiter‹-Zuwanderung gehörte. Zu beachten bleibt die hohe Fluktuation: In der Regel ist die Migration aus den osteuropäischen EU-Beitrittsländern auf temporäre Aufenthalte in Deutschland ausgerichtet, weshalb hohe Zuwanderung mit hoher Abwanderung korrespondiert: So stand der Zuwanderung von 213.000 Rumänen 2015 die Abwanderung von 127.000 gegenüber, 84.000 Bulgaren wanderten zu, 46.000 wieder ab.
Die hohe Fluktuation ergibt sich nicht zuletzt aus der Attraktivität des Hochschul- und Wissenschaftsstandortes Deutschland: Unter den Migranten aus Bulgarien und Rumänien finden sich z.B. zahlreiche Studierende und Nachwuchswissenschaftler, die einen Aufenthalt in der Bundesrepublik zur Weiterqualifizierung nutzen. Nach Angaben des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln brachten im Zeitraum von 2001–2011 29% aller Zuwanderer aus der EU zwischen 25 und 65 Jahren einen Hochschulabschluss mit, unter den Rumänen und Bulgaren lag der Anteil bei 25%, während er in der bundesdeutschen Bevölkerung mit 19% deutlich niedriger liegt. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch keine spektakulär hohe Erwerbslosigkeit ausmachen: Die Erwerbslosenrate erreichte in der Bundesrepublik im August 2014 insgesamt 7,8%, bei Rumänen und Bulgaren 9,2%, wobei die Rate der quantitativ dominierenden Rumänen mit 6,5% die bundesdeutsche Rate unterschritt – und weit unterhalb derjenigen aller Ausländer lag (15,1%). Migranten streben danach, durch ihre räumliche Bewegung Chancen zu erschließen, das gilt insbesondere für Erwerbs- und Bildungschancen. Vor diesem Hintergrund ergibt sich wegen der unterschiedlichen Attraktivität der Bundesländer ein Gefälle: Vor allem Bayern und Baden-Württemberg als wirtschaftsstärkste Bundesländer bilden Hauptziele der Neuzuwanderung.
Die medialen und politischen Debatten konzentrieren sich auf einen kleinen Teil der Zuwanderung. Vor allem 2012–2014 ist intensiv über eine ›Armutsmigration‹ aus Rumänien und Bulgarien diskutiert worden, die z.T. als ›Zuwanderung in die Sozialsysteme‹ tituliert wurde. Eine Fokussierung erfolgte auf einzelne Kommunen, die als besonders belastet erschienen. Tatsächlich ist neben der ungleichen Verteilung auf die einzelnen Bundesländer auch eine Konzentration auf einzelne Großstädte auszumachen: In München lebten 2014 23.000 Staatsangehörige Rumäniens und Bulgariens, es folgten Frankfurt a.M. mit 14.000, Berlin mit 12.000 sowie Duisburg mit 11.000. Dabei ergab sich in den verschiedenen Kommunen eine je unterschiedliche sozialen Zusammensetzung der rumänischen und bulgarischen Zuwandererbevölkerung: So waren unter den Bulgaren und Rumänen in Duisburg 33% erwerbslos, in Dortmund 26%, in anderen Kommunen vor dem Hintergrund der oben skizzierten relativ geringen Erwerbslosigkeit im Bundesdurchschnitt aber erheblich weniger. Deshalb erweisen sich auch die kommunalen Aufwendungen als sehr unterschiedlich. Mithin bietet die Zuwanderung von Bulgaren und Rumänen auch keineswegs als Ganzes eine Herausforderung für die Kommunen, sondern vornehmlich für einige wenige finanzschwache Städte, in denen sich aus dieser Zuwanderung resultierende kommunale Lasten konzentrierten.