Prof. Dr. Peter Rödler | Universität Koblenz-Landau
The trouble with diversity
How we learned to love identity and ignore inequality (Michaels 2006)
Wahlen in Deutschland: eine Partei für die Gewohnheit, eine für Gerechtigkeit, eine Partei für die Umwelt, eine Partei für die Eliten, eine Partei für Bayern, eine Partei für die Rettung Deutschlands und 42 weitere …, Allgemeinplätze und Einzelaspekte keine gesellschaftspolitischen Entwürfe[1]. Westliche Demokratien: Trump ‚Amerika first!‘, May ‚Rule Britannia‘, Polen ‚Kaczyński first‘, Ungarn, Österreich … – etablierte nationale Identitäten. Was ist von der Idee der Globalisierung geblieben? Was ist, was war die Globalisierung? Gab es sie je und was könnte sie sein?
Besinnen wir uns am Anfang unserer Überlegungen darauf, dass Europa seine Bedeutung als ‘Kontinent’ weniger geografischen Merkmalen als seiner geschichtlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Verbundenheit verdankt. Diese Verbundenheit besteht als Grundlage des Europa unserer Zeit, neben der zentralen Bedeutung der Aufklärung vor allem in der Erfahrung der beiden Weltkriege am Anfang des letzten Jahrhunderts und hier insbesondere in der vormals unvorstellbaren Barbarei der Nazis. Diese Erfahrung führte, unter Rückbezug auf Pläne eines europäischen Zusammenschlusses von 1929/30, zu Bestrebungen, einen Verbund der europäischen Staaten zu gründen. Eine Vielzahl verschiedener Bewegungen mit diesem Ziel bildeten 1948 die Dachorganisation ‚die Europäische Bewegung‘. Diese nicht an Regierungen gebundenen privaten Bestrebungen erreichten 1948 die Gründung des Europarates als völkerrechtlich anerkannter Organisation.
Ziel dieser Organisation war nicht zuerst die Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung in Europa, sondern vor allem die Förderung, der Erhalt und der Schutz der Verständigung (auch mit Hilfe wirtschaftlicher Beziehungen) zwischen den verschiedenen Ländern und d.h. letztlich der Ideale und Grundsätze eines gemeinsamen europäischen Erbes. Dies führte als Höhepunkt zur Europäischen Menschenrechtskonvention sowie zur Europäischen Kommission für Menschenrechte und zum Europäischen Gerichtshof. Es zeigt sich, das moderne Europa war, auf Grund der Erfahrung zweier Kriege, zum Zeitpunkt seiner Gründung weniger eine Wirtschafts- als eine Wertegemeinschaft. Die pluralistische Ausrichtung dieser Werte verlieh dabei dem Individuum eine zentrale Rolle.
Heute hat diese Orientierung eine Veränderung erfahren. Die wirtschaftlichen Inhalte gerieten zunehmend in den Vordergrund. Die Förderung der Stringenz wirtschaftlichen Handelns erforderte vor allem die Deregulation nationaler, den schrankenlosen Wirtschaftsfluss begrenzender Eigen-Arten, und die Schaffung uniformer internationaler Regularien. So wandelten sich die ursprünglichen kulturellen Werte einer Ausrichtung an Versöhnung[2] und humaner Liberalität hin zu der Position eines funktionellen Wirtschaftsliberalismus, in dem die gefeierte Individualität der Menschen nicht in ihrem Eigen-Sinn, sondern in ihrem mit den Wirtschaftsinteressen verbundenen Eigennutz gesehen wird. In dieser Wandlung zeigt sich die Dialektik der Aufklärung “Der Mythos geht in Aufklärung über und die Natur in bloße Objektivität.” (Horkheimer und Adorno 1947, S. 19).
In den vorchristlichen Mythen wurde die Welt in ihrer unübersichtlichen Dynamik als Wirkungen von Göttern, Helden usw. erklärt und unter den Bedingungen von Gebet, Opfer, Orakel – letztlich alles Rituale – scheinbar beherrschbar gemacht. Im Zwischenschritt des (christlichen) Monotheismus wurde diese Dynamik nicht mehr durch das Wirken widerstreitender Götter erklärt. Die vielen verschiedenen Aspekte der Welt wurden unter dem einheitlichen Gedanken einer Gottes-Schöpfung subsumiert, die aus dem Glauben heraus zu verstehen versucht wurde: „Denn ich suche nicht zu verstehen, damit ich glaube, sondern ich glaube, damit ich verstehen kann.“ (Anselmus Cantuariensis und Theis 1078, S. 20). Diese Hinwendung zur Welt bildete damit schon den ersten Vorschein der Aufklärung. Diese realisierte sich letztlich, sicher auch unter dem Eindruck der christlichen Gräueltaten im Mittelalter, mit der Säkularisierung und begründete damit die intellektuelle Beherrschung der Menschenwelt.
Damit scheint der Glaube an Abbildungen der Welt jenseits ihrer Realität, der in vielerlei Hinsicht Macht und Unrecht ermöglicht hatte, ein für alle Mal besiegt. Die Klarheit des neuen ‚vernünftigen‘, naturwissenschaftlich begründeten und beweisbaren Weltzugangs scheint als allgemein verbindliche und damit für alle gleiche und alle gleich machende demokratische und friedenstiftende Lebens- und Verhandlungsbasis gewonnen. Adorno und Horkheimer entzaubern diese Vorstellung in ihrem Werk Dialektik der Aufklärung (1947). Sie zeigen, dass dieses Weltbild, das allein an der Realität orientiert ist, letztlich zu einem Verlust von Bedeutung und Sinn tendiert.
Dieser Weltbezug alleine auf die reinen Fakten ist mit einem Verlust wesentlicher menschlicher Eigenschaften erkauft und wird damit wiederum der Fülle der Erscheinungen der Menschenwelt nicht gerecht, entfremdet die Menschen von ihren Möglichkeiten. Adorno und Horkheimer nennen diesen Prozess ‚Verdinglichung‘, d.h. die Menschen werden – und nehmen sich selbst – in dieser Perspektive nur noch rein faktisch als Ding unter Dingen wahr. Sie werden so zu Objekten, zu einer Ware die der Nutzung unterworfen ist. Dies verlangt von den Individuen Selbstbeherrschung und Selbstperfektionierung im Sinne der wirtschaftlichen Anforderungen als Voraussetzung für eine erfolgreiche Teilnahme an den Gesellschaftsprozessen. Phänomene wie der übergroße Fokus auf den Körper, der bis hin zu Anabolikagebrauch und Schönheitsoperationen fit, gesund und schön modelliert wird, beweisen die Verallgemeinerung dieser Haltung bis in den Privatbereich hinein. In dieser Perspektive zeigt sich das Individuum als bedingungslos autonom, letztlich gleichzeitig auch asozial auf sich zurückgeworfen.
Dieser Gesellschaftsentwurf der sich in seiner Sinnleere als alternativlos, als quasi finale Wahrheit darstellt[3], da alle über die reine Funktion hinausgehenden Bedeutungen in diesem Entwurf als potenziell ideologisch und totalitär disqualifiziert werden, beweist sich in eben dieser alternativlosen ‚Einzig-Gültigkeit‘ als ein aufgeklärter Mythos, der im Unterschied zu voraufgeklärten Mythen aber kein Identitätsangebot macht. Statt dessen wird den jeweiligen Sinnhaftigkeiten der einzelnen Individuen eine absolute Bedeutung zugestanden, solange sie nicht eine ALLGEMEINE Bedeutung behaupten; identitäre Besonderheiten wie die Ehe für Alle erhalten höchsten Zuspruch und Aufmerksamkeit und auch die erste Toilette für Transsexuelle in Berlin ist einen Nachricht in Print- und TV-Medien wert. Das kontinuierliche Sterben im Mittelmeer und in der Sahara sind, seit die Flüchtlinge nicht mehr bis zu uns vorstoßen keine Nachricht wert. Natürlich freue ich mich über alle Möglichkeiten, die unsere Gesellschaft den verschiedensten Subkulturen bietet, ich beziehe mich nur auf den Unterschied in der öffentlichen Aufmerksamkeit.
Eine weitere Individualisierung der Identitätsbildung ergibt sich durch die neuen Medien: “In einer Welt, die geprägt ist durch schwache Bindungen und immer weniger Vertrauensbeziehungen, stellt sich für die Menschen die Frage nach der Herausbildung einer Identität und der Anerkennung durch Andere neu und andersartig. Denn Identität entsteht immer nur im Zusammenwirken mit der Umwelt[4]; …. Aber die natürlichen Orte der Anerkennung schwinden; was früher der Kitt zwischen Familienmitgliedern, Freunden und auch Kollegen ausmachte, holt man sich heute beim digitalen Freundeskreis. … Anerkennung wird heute gemessen in Google-Treffern, der Anzahl von Lesern eines Blogs, der Anzahl von ‘Freunden’ auf Facebook und an Kontakten auf professionellen Networking-Plattformen wie Xing oder LinkedIn. Und unsere Identität gestalten wir nach Belieben und je nach Tagesverfassung: Wie wir unser Profil auf Facebook präsentieren, ist wohl in den meisten Fällen weniger von Tatsachen als vielmehr von Wunschvorstellungen getrieben.” (Stampfl 2013, 24 f)
Vor dem Hintergrund all dieser Entwicklungen wird klar, dass die Menschen in dieser Gesellschaft immer weniger Chancen haben, sich die Fähigkeit zur Versöhnung anzueignen, die die Voraussetzung für das Zusammenleben in tatsächlichen Gemeinschaften, in ihrer kulturellen Vielfalt und den aus diesen entstehenden Konflikten wie auch solidarischen Anforderungen, bildet.
Der Ansatzpunkt einer Gegenkraft gegen diese Situation ist die Verschiebung des Fokus von den je einzelnen Identitäten auf die Verhältnisse zwischen den Individuen hin zu den Verhältnissen zwischen den Individuen und die Ungleichheiten sowohl in Bezug auf materielle, kulturelle und kommunikative Ressourcen die dann sichtbar werden. So würde vor dem Hintergrund ein voraussetzungsloses Grundeinkommen zumindest die Existenz weiter Kreise sichern, die heute um Ihre Existenz fürchten und oder sich in entwürdigenden Lebenssituationen als ‚Überflüssige‘ allein gelassen fühlen. Erst in der Wiederentdeckung einer verbindlichen – d.h. verlässlich, aber auch mit Ansprüchen an ihre Mitglieder auch Konflikte auszutragen, statt die Gemeinschaft zu spalten – Sozialform in der alle ausreichend gut aufgehoben und anerkannt sind, ist für ALLE Mitglieder dann auch einen reale, stabile Identitätsentwicklung in und gegenüber dieser Gemeinschaft möglich: Nicht Identität oder Gemeinsinn sondern Identität aus dem Gemeinsinn heraus!
- Literaturverzeichnis
1 Anselmus Cantuariensis; Theis, Robert (1078): Proslogion. Anrede : lateinisch / deutsch (Erstveröff.: 1078). Stuttgart: Philipp Reclam.
2 Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W. (1947): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente ; [Friedrich Pollock zum 50. Geburtstag]. Unter Mitarbeit von Friedrich Pollock. 1. Aufl. Amsterdam: Querido-Verlag.
3 Michaels, Walter Benn (2006): The trouble with diversity. How we learned to love identity and ignore inequality. 1st ed. New York: Metropolitan Books. Online verfügbar unter http://catdir.loc.gov/catdir/enhancements/fy0659/2006046541-b.html.
4 Rödler, Peter (2014): Kültütel Cesitliligin Önemi Üzerine – Hepsi Bircoktur -Icselleme Tartismalari Acisindan. Inklusion und Integration-alle sind viele. In: PoliTeknik (4), S. 12. Online verfügbar unter https://politeknik.de/hepsi-bircoktur-icselleme-tartismalari-acisindan-kueltuerel-cesitliligin-oenemi-uezerine-koblenz-landau-ueniversitesi/.
5 Stampfl, Nora S. (2013): Die berechnete Welt. Leben unter dem Einfluss von Algorithmen. 1. Aufl. Hannover: Heise (Telepolis).
[1] Mir ist bewusst, dass ich hier eine kleinere Partei, bei deren wesentlichen VertreterInnen ich einen solchen Gesellschaftsentwurf sehe unterschlagen habe, um hier keine Parteienwerbung zu machen.
[2] Hier ist zu Unterscheiden zwischen dem Ziel der Versöhnung (Adorno), d. h. das Treffen trotz oder auf der Basis eines bestehenden Konfliktes und dem Ziel der Verständigung (Habermas) als Lösung eines Konfliktes. Es ist klar, dass allein die Haltung der Versöhnung bei der Vielfalt der beteiligten Kulturen eine Chance hatte.
[3] Es gab Stimmen, die mit dem Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus, ein ‚Ende der Geschichte‘ behaupteten.
[4] Siehe hierzu auch: Rödler 2014