Prof. Dr. Claus Melter
William Edward Burghardt du Bois (1868-1963) ist ein Begründer der Soziologie (vgl. Morris 2015), brillanter Historiker und der Großvater der Black Studies (vgl. Warren 2011). Er setzte sich in seinen Vorlesungen, Büchern und Reden stets gegen Ausbeutung, Diskriminierung und gesellschaftliche Ungleichheit ein – und dies sowohl gegenüber rassistischer als auch kapitalistischer Ungleichheit. Durch die Schärfe, die Detailliertheit, Überzeugungskraft und emanzipatorische Radikalität seiner Analyse sowie die Vielzahl an breit rezipierten Artikeln, Reden und Büchern galt er zeitweise als „die Stimme“ der Schwarzen (vgl. Gates 2003). Seinen Satz, dass die Frage des Rassismus die zentrale Frage des 20. Jahrhunderts sei, verband er in seinen Analysen über Rechts-, Wohn-, Bildungs-, Arbeits- und Einkommensverhältnisse mit einer Kritik am Kapitalismus. Ohne veränderte Arbeits- und Besitzverhältnisse könne der Rassismus nicht grundlegend verändert werden. Autonome Wirtschaftsnetzwerke, im Besitz und unter Kontrolle von Schwarzen, schienen du Bois eine sinnvolle und notwendige Strategie, um rassistischer Diskriminierung gegenüber der Schwarzen[1] Bevölkerung auf dem Arbeitsmarkt etwas entgegen zu setzen.
Seine 1935 erschienene Arbeit über die Black Reconstruktion (1860 bis 1880), die Rolle Afro-Amerikaner_innen, die sich durch Widerstand und Flucht selbst von der Sklaverei befreit haben oder durch militärische Intervention befreit wurden, im US-amerikanischen Bürger_innenkrieg und danach hat das Geschichtsverständnis für diese Zeit maßgeblich beeinflusst. Die Lebenslagen und Handlungspraxen, die Bildungs-, Versorgungs- und Arbeitssituation der Schwarzen Bevölkerung wurden ebenso detailreich beschrieben wie der Streit um diesbezügliche Gesetze und Institutionen (z.B. dem Büro für von der Sklaverei befreite Personen – freedmen’s bureau) (du Bois 1935). Entgegen einem Schreiben ÜBER Personengruppen stellte er anhand empirischer Erhebungen die Erfahrungen, die Aktivitäten, die Meinungen und die geistig-psychische Verfassung der Schwarzen in Relation zu rassistischen Ideologien, ausbeutenden Arbeitsverhältnissen und dem Streben nach einem besseren Leben in das Zentrum seiner Analysen und analysiert die Praxen der weißen Dominanzgesellschaft.
Die Forderung nach einer Veränderung der Wohn- und Arbeitsverhältnisse verband er in den über 60 publizistischen sowie wissenschaftlich-aktivistischen Schaffensjahren mit Analysen und Vorschlägen für ein Bildungssystem und eine inhaltliche Ausgestaltung von Bildung, die die Erziehung und Bildung zu Fabrik-, Hand- und Hausarbeit weit überschritt, sondern gleiche Bildungsmöglichkeiten aller Gruppen in der Bevölkerung forderte (vgl. Alridge 2008). Trat er lange Zeit für gemeinsame Beschulung aller Gruppen ein, wurde ihm zum einen die systematische Unterfinanzierung von Schulen mit vorwiegend oder ausschließlich Schwarzer Schüler_innenschaft deutlich und er kritisierte dies scharf. Zum anderen sah er die Formen des institutionellen Rassismus in gemeinsamen Schulen, in denen die Ideologie weißer Überlegenheit interaktiv und inhaltlich in so großem Maße reproduziert wurde, das von einer Chancengleichheit nicht im Entferntesten die Rede sein konnte. Seine Analysen zu institutionellem Rassismus und Bildung sind auch heute noch wegweisend und lesenswert (vgl. Alridge 2008). Dies gilt insbesondere in Deutschland, wo klassen- und behinderungs-bezogene systematische Diskriminierung und noch mehr religionsbezogene, nationalisierende und rassistische Diskriminierung NICHT offensiv kritisiert, sondern eher verschleiert und stabilisiert werden. Nationalstaatliche (staatsbürgerliche, aufenthalts- und asylrechtliche) Diskriminierungen sind dabei stets verwoben mit rassistischen Logiken der Unterscheidung und Benachteiligung (vgl. Ozawa 2016).
Ebenfalls für aktuelle Analysen bedeutsam ist W.E.B. du Bois‘ Konzept des doppelten Bewusstseins (double consciousness), welches er u.a. in einem seiner bekanntesten Werke „The Souls of Black Folk“ (1903) entwickelt: „Nach den Ägypter_innen und Inder_innen, den Griech_innen und Römer_innen, den Teuton_innen und Mongol_innen ist die_der Schwarze[2] eine Art siebenter Sohn_siebente Tochter[3], geboren mit einem Schleier und einer besonderen Gabe – dem zweiten Gesicht – in diese amerikanische Welt, die ihm_ihr kein wahres Selbstbewusstsein zugesteht, und in der er_sie sich selbst nur durch die Offenbarung der anderen Welt erkennen kann. Es ist sonderbar, dieses doppelte Bewusstsein, dieses Gefühl, sich selbst nur durch die Augen anderer wahrzunehmen, der eigenen Seele den Maßstab einer Welt anzulegen, die nur Spott und Mitleid für einen übrig hat. Stets fühlt man die Zweiheit, als Amerikaner_in und Schwarze_r. Zwei Seelen, zwei Gedanken, zwei unversöhnte Streben, zwei sich bekämpfende Vorstellungen in einem dunklen Körper, den Ausdauer und Stärke allein vor dem Zerreißen bewahren.“ (du Bois 1903) W.E.B. du Bois hat als einer der ersten Soziologen die soziale Konstruiertheit von „Rassen“ analytisch beschrieben. „Schwarz“ ist im gesellschaftlichen Machtverhältnis Rassismus sowohl eine Selbstbezeichnung und eine politisch-analytische Kategorie, die kennzeichnet, wer im Gesellschaftssystem Rassismus diskriminiert und benachteiligt wird. Demgegenüber wird die im Rassismus privilegierte Bevölkerung als „weiß“ bezeichnet. Schwarz und weiß sind soziale Konstrukte, die in konkreten Machtverhältnissen bedeutsam gemacht und kritisiert werden. Rassismus ist also ein gesellschaftliches und veränderbares Konfliktverhältnis, ebenso wie der Kapitalismus und Geschlechterverhältnisse.
Du Bois sah Bildung und Wissen über historische Geschehnisse, Errungenschaften und Widerstandshandeln der afroamerikanischen Bevölkerung als Mittel, um Wege aus dem doppelten Bewusstsein hin zu einer selbstbewussten Identität zu finden. Das Konzept des doppelten Bewusstseins wurden von Patricia Hill Collins in ihrem beeindruckenden Buch “Black Feminist Thought. Knowledge, Consciousness and the Politics of Empowerment[4]“ (1990) sowie von Paul Gilroy in „Black Atlantic. Modernity and Double Consciusness” fruchtbar angewandt und erweitert. Nkechi Madubuko hat den Gedanken eines konstruktiven Umganges mit dem doppelten Bewusstsein und Rassismuserfahrungen in ihrem Buch „Empowerment als Erziehungsaufgabe. Praktisches Wissen für den Umgang mit Rassismuserfahrungen“ (2016) auf sehr überzeugende Weise für Beratungs-, Bildungs- und Erziehungskontexte konkretisiert.
In seinen Analysen über Rassismus, Lebenslagen, Widerstand und Handlungsstrategien der Schwarzen Bevölkerung, aber auch die Ideologie weißer Überlegenheit und damit einhergehenden Gesellschaftsstrategien, Institutionen und Handlungspraxen der weißen Bevölkerung hat W.E.B. du Bois stets bestehende Gesellschaftsverhältnisse durch historische Analysen sowie durch quantitative und qualitative soziologische Studien gegenwärtiger Verhältnisse beschrieben. Auch für die Spaltung der Schwarzen und weißen Arbeiter_innen, ein wesentliches Merkmal in den USA und anderen Ländern, hat du Bois eine nachdenkenswerte Erklärung: Die weißen Arbeiter_innen wollen durch das Festhalten an der Ideologie weißer Überlegenheit ihr Selbstbild erhöhen, anstatt gemeinsame Lösungen und Anstrengungen gegen Ausbeutung anzugehen. Demgegenüber hat W.E.B. du Bois Visionen und konkrete Vorschläge entwickelt für eine Gesellschaft, in der der faire und gerechte Ressourcen- und Möglichkeitszugänge verwirklicht werden. Sowohl in der deutschsprachigen Soziologie als auch den Geschichts- und Erziehungswissenschaften werden die Werke und Theorien von W.E.B. du Bois, einem der zentralen Gründer der afroamerikanischen Bürger_innenrechtsbewegung und Begründer der Soziologie, bisher weitgehend vernachlässigt, was wiederum die bestehenden systematischen weiß-dominierten Machtverhältnisse und Perspektiven inhaltlich und personell reproduziert. So stellt sich die Frage, wie rassismuskritische, feministische und kapitalismus- sowie behinderungskritische Perspektiven Schwarzer Wissenschaftler_innen mehr berücksichtigt werden können- und wieso dies bisher nicht erfolgte. Zeit also, W.E.B. du Bois, Patricia Hill Collins, Paul Gilroy und Nkechi Madubuko u.a. zu lesen, gemeinsame Strategien zu entwickeln – und entsprechend zu handeln.
Literatur:
Alridge, Derrick P. (2008): The Educational Thought of W.E.B. Du Bois. An Intellectual Journey. New York/ London: Teachers College Columbia University
Du. Bois, William Edward Burghardt (1903): The Souls of Black Folk. Amerst MA
Du, Bois, William Edward Burghardt (2001): Die Seelen der Schwarzen.The Souls of Black Folk. Übersetzt von Barbara Meyer-Wendt und Jürgen Meyer-Wendt. Mit einem Vorwort vonHenry Louis Gates Jr., Freiburg: Orange-Press.
Du Bois, William Edward Burghardt (1935): Black Reconstruction. An Essay toward a History of the Part which Black Folk played in the Attempt to reconstruct Democracy in America, 1860-1880. New York: Harcourt, Brace and Company
Gates Jr., Henry Louis (2003): Dunkel, wie durch einen Schleier. Vorwort. In: Du, Bois, William Edward Burghardt (2001): Die Seelen der Schwarzen.The Souls of Black Folk. Übersetzt von Barbara Meyer-Wendt und Jürgen Meyer-Wendt. Freiburg: Orange-Press, S. 7-28.
Gilroy, Paul (1993): The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness. Cambridge, Mass.: Harvard University Press.
Hill Collins, Patricia (1990/2000): Black Feminist Thought. Knowledge, Consciousness and the Politics of Empowerment. New York: Routledge.
Madubuko, Nkechi (2016): Empowerment als Erziehungsaufgabe. Praktisches Wissen für den Umgang mit Rassismuserfahrungen. Münster: Unrast-Verlag.
Morris, Aldon D. (2015): The Scholar Denied. W.E.B. du Bois and the Birth of Modern Sociology. Oakland: University of California Press.
Ozawa, Kiyoshi (2016): The Underrepresentation of Male Youth with Migration Background in Higher Education in Germany. Oldenburg: BIS-Verlag.
Warren, Nagueyalti (2011): Grandfather of Black Studies W.E.B. du Bois. Trenton New Jersey: Africa Worl Press.
[1] Als politische Selbstbezeichnung wird „Schwarz“ groß geschrieben.
[2] Leider wird in vielen Originaltexten und auch in Übersetzungen eine rassistische Terminologie verwendet. Auch in der Übersetzung des Buches „Die Seelen der Schwarzen – The Souls of Black Folk“ von Barbara Meyer-Wendt und Jürgen Meyer Wendt (2003) wird dies leider fortgesetzt, zudem wird nicht geschlechterreflexiv geschrieben.
[3] Geschlechterreflexive Schreibweise im Zitat nachträglich eingefügt (CM).
[4] „Schwarzes feministisches Denken. Bewusstsein, Wissen und die Praxis der Selbstermächtigung“