Prof. Dr. Wolfgang Jantzen
„Für den Kolonisierten ist Objektivität immer etwas, was sich gegen ihn richtet.“ (Fanon 1969, 59)
Authoritarians „bring strong loyality to their ingroups, have thick-walled, highly compartentalized minds, use a lot of double standards […] But are also Teflon-coated when it comes to guilt.“ (Andringa 2011, 1)
Der Verband Sonderpädagogik (vds) umfasst ca. 8000 Mitglieder <http://www.verband-sonderpaedagogik.de/>. Er gibt die Zeitschrift für Heilpädagogik (ZfH) heraus, die alle Mitglieder kostenlos erhalten. Er ist Nachfolgeverband des 1898 gegündeten Verbands deutscher Hilfsschulen, 1955 umbenannt in Verband deutscher Sonderschulen, 2008 in Verband Sonderpädagogik (vds). Diese Namensgebung war die Beendigung eines langen Konfliktes um die systematische Aufnahme außerschulicher Probleme in das Denken des Verbandes, und damit gesellschaftlicher Aspekte in der Auseindersetzung mit Behinderung. Pole dieser Auseinandersetzung waren einerseits der Landesverband Hessen, der die Zeitschrift „Behindertenpädagogik“ (BHP) herausgibt, die von Anfang an (ab 1973) Behinderung als soziale Konstrution herausstellte und für Integration bzw. Inklusion eintrat, und andererseits der Bundesverband, der trotz aller Inklusionstünche im wesentlichen am aktuellen Sonderschulsystem festhält.
Fast zehn Jahre später ist von einem „Paradigmawechsel“ oder einer geistigen Öffnung des Verbandes zu außerschulichen oder gar gesellschaftlichen Fragen von Behinderung kaum erwas zu spüren. Die ZfH ist zum einem Organ der Sozialisation neoliberaler Nachwuchswissenschaftler und ebenso Medium der Selbstdarstellung einer dem Empirismus verpflichteten Professorenschaft, die mit einer strikten, angeblich methodologischen Kriterien verpflichteten Publikationsstrategie zu bestimmen versucht und bestimmt, was der Fall ist. Bestimmende Dimension ist Evidenzbasiertheit; alles was Pädagogik begründet, soll auf quantitativen empirischen Befunden beruhen, eine Vorgehensweise, die Adorno als blosse Verdoppelung der Realität bezeichnet hat.
Doch Folgerungen aus Zahlenkolonnen begründen keine Wissenschaft. Und ein Paradigma ist etwas anderes als eine bloßer, dem Zeitgeist geschuldeter Wechsel der Meinung.
Paradigmen sind „Ideale der Naturordnung“, die zum Verständnis einer Tatsache beitragen. So waren die Babylonier in ihrer auf mathematischen Techniken beruhenden Kalenderberechnungen Meister der Vorhersage, aber deren „Erfolge […] blieben für sie nicht weniger unerklärt als ihre Fehlschläge“ […] „Es zeigt sich ganz deutlich, daß sie die Dinge nicht verstanden.“
(Toulmin 1981, 35f). Erst durch die Theorien Newtons konnten diese Berechungen der Babylonier verstanden werden. „Tätigkeiten […] werden nur mit Recht »wissenschaftlich« genannt, weil sie mit ihren erklärenden Ideen und Idealen, die das Herzstück der Naturwissenschaften ausmachen, in einem Zusammenhang stehen.“ (ebd. 47). Wissenschafstheoretisch ist damit alles über den Datenschrott gesagt, der regelmäßig die Seiten der ZfH füllt. Die nahezu unerklärliche Abstinenz, sich mit der Entwicklung komplexerer Theoriesysteme für die „Sonder- oder Heilpädagogik“ zu beschäftigen ist damit jedoch nicht hinreichend erklärt. Und ebenso nicht die Abstinenz gegenüber unserer eigenen Theorieentwicklung, in welcher wir uns bewusst durch eine relationale Definition von Behinderung als soziale Isolation (vgl Jantzen 1987/90) von jenem Verbleiben im Schrebergarten distanzieren, für das die ZfH steht. Hier liefert die Evidenzdebatte entscheidende Aufschlüsse.
Unbestrittener Protagonist dieser seit längerem bestehenden Situation ist Clemens Hillenbrand, der eine der beiden Schriftleiter der ZfH, der innerhalb eines Jahres zum zweiten Mal als Repräsentant für Ausgrenzung, mangelnde Diskussionskultur, Lobpreisen konservativer Fachgeschichtsschreibung und fehlender politischer Sensibilität in den Blick der Öffentlichkeit geriet. Zum einen im Kontext einer vds-Veranstaltung in Weimar, die sich mit Sonderpädagogik in der NS-Zeit und ihren Auswirkungen in der Nachkriegszeit beschäftigte (taz vom 16.4.2016, 25-27), zum zweiten Mal jedoch durch das Fake einer vorgebliche Untersuchung zur Mathematikdidaktik (Ellinger und Koch 2016), mit der Absicht, die wissenschaftlich unhaltbare Posisition einer evidenzbasierten Sonderpädagogik zu verdeutlichen. Die Offenlegung dieses Fakes und die Reaktionen des vds, aber darüber hinaus auch der Schweizer Vierteljahresschrift für Heilpädagogik (VHN), sind ein politisches Lehrstück der Ausgrenzungspraktiken einer vorgeblich auf Anerkennung und Inklusion ausgerichteten Fachdisziplin.
Im November 2016 erscheint in der ZfH (S. 513-525) ein Artikel von Stephan Ellinger und Katja Koch zur Mathematik-Didaktik, geschrieben auf dem Hintergrund vorher publizierter Überlegungen, den die Autor/inn/en sofort nach Publikation dem vds als Fälschung offenlegen, diese geschah, um eine wissenschaftliche Diskussion zu provozieren. Vorschläge zu einer einvernehmlichen Lösung und einer gemeinsamen wissenschaftlichen Konferenz werden negiert. Die Redaktion der ZfH wendet sich an die Ethikkommisionen der Universitäten der Autorinnen mit der Aufforderung um deren Überprüfung. Der Abdruck ihres Beitrags zum Sinn ihres Vorgehens wird vom vds verweigert und dieser organisiert ein für eine wissenschaftliche Diskussion gänzlich ungeeignetes „Fachgespräch“, an dem ich selbst ebenso wie die Autorinnen unter Protest nicht teilnahmen (Stellungnahme der vds-Vorsitzenden ZfH 1/2017, 4-11; Bericht über das Gespräch ZfH 4, 208-210). Zudem wird Frau Koch der Rückzug aus dem Herausgeberteam der VHN nahegelegt. Die Veröffentlichung des aufklärenden Artikels erfolgt in der BHP (H. 1/2017, 9-16) ebenso wie die weitere evidenzkritische Diskussion (insb. Rödler, H. 1, 17-38;). Infolge dieser Vorgänge legt Birgit Herz, langjährige Vorsitzende der Kommission Sonderpädagogik der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft ihre Mitgliedschaft im vds mit dem Verweis nieder, dass mit der Forderung der Überprüfung eines möglichen wissenschaftlichen Fehlverhaltens in beschämender Weise an die Politik des Radikalenerlasses der 70er Jahre anknüpft werde (Sonderpädagogik in Niedersachsen, 2017, 1, 12-14).
Wenig danach ereignet sich ein weiterer skandalöser Vorgang: Der Bundespresserefent des vds verlinkt dessen Newsletters mit einem Artikel der „Jungen Freiheit“, einer wohlbekannten rechtsradikalen Zeitschrift, der Inklusion für einen Irrweg erklärt und die völligs Rückkehr zum Sonderschulsystem verlangt. Als Reaktion auf die Intervention des LV Mecklenburg-Vorpommern, von Katja Koch und von mir erklärt er lediglich sein Bedauern, die Folgen nicht vorhergesehen zu haben. Er legt sein Mandat als Bundespressereferent nieder, was vom Verband bis heute strikt geheim gehalten wird und nur einem engsten Kreis bekannt ist. Zu allem Überfluss ist das Beiheft zur ZfH mit den Vorträgen zur NS-Vergangenheit bis heute nicht erschienen. Den Autorinnen liegt trotz mehrfacher Rückfragen keine nähere Information vor.
Und schließlich erfahre ich von einem skandalösen Brief des ehemaligen Herausgebers der VHN, Urs Haeberlin, vom 16.01.2017 an den aktuellen Herausgeber der Zeitschrift, Herrn Hartmann, der zugleich allen ständigen Mitarbeiterinnen zugeht. In unerträglicher Weise wird Frau Koch unterstellt, durch Bombardierung der Welt der deutschen Sonderpädagogik mit „Streumails“ sich zur „erbarmenswürdigen Märtyrerin“ zu stilisieren. Zudem hätten zwei andere Kolleginnen schon vorher gegen ihre Mitherausgeberschaft protestiert. Letztere Behauptung erwies sich bei Nachfragen von Frau Koch als nicht stichhaltig und ihre Nachfrage bei Haeblerin selbst wurde in eiskalter Teflon-Manier abgefertigt (06.06.2017).
Es würde sich lohnen, diese Dinge im Kontext eines Faches, das nach außen hin Inklusion und Auseinandersetzung mit nationalsozialisteisdcher Vergangenheit predigt und nach innen hin autoritäre Methoden von Unterdrückung und Diskrimnierung praktiziert, näher zu untersuchen. Die Studien zum Autoritarismus bieten hierzu ein höchst geeignetes Mittel. Von einer Anerkennung von Alterität, dass der bzw. die Andere das einzig Heilige ist, das existiert, so Enrique Dussel in seiner „Philosophie der Befreiung“ (Hamburg 1989), davon ist in erheblichen Teilen dieses Verbands der Aussonderungspädagogik nicht entfernt die Rede.
Literatur:
Andringa, T. (2011): Authoritarianism and libertarianism: The political dimension of human nature. Januar 2001, Quelle nicht mehr identifierbar
Fanon, F. (1969): Die Verdammten dieser Erde. Reinbek
Toulmin, S.. (1981): Voraussicht und Verstehen, Frankfurt/M.
Prof. Dr. Wolfgang Jantzen; seit über 50 Jahren Mitglied des vds