Prof. Dr. Michael Simon
Universität Mainz
„Ein Gespenst geht um in Europa.“ Dieser erste Satz aus dem Kommunistischen Manifest von 1848 drängt sich auf, wenn man unter den gegenwärtigen Bedingungen an das Phänomen des Rechtspopulismus denkt. Allerdings herrschte um die Mitte des 19. Jahrhunderts eine ganz andere Situation als heute. Mit dem Gespenst war seinerzeit der aufkeimende Kommunismus gemeint, der die verarmten und entrechteten Unterschichten aus ihrer sozial bedrückenden Lage befreien und ihnen eine bessere Zukunft in einer neuen Welt bescheren sollte. Das moderne Gespenst richtet sich jedoch gegen eine demokratische Grundordnung, die aus den Trümmern der infernalischen Katastrophen in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts erwachsen ist. Staatspolitisch geschürter Hass, ideologische Verblendungen, Chauvinismus und Totalitarismus hatten Europa und große Teile der Welt zuvor in ein schreckliches Elend geführt. Am Ende stand die Einsicht, dass nur neue Wege der Völkerverständigung (Stichwort: UNO), der Demokratisierung und Partizipation aus den Trümmern des Ungeistes herausführen und die Basis für eine friedliche Weltordnung schaffen können. Deutschland hat dieser Politik einen nahezu beispiellosen materiellen Aufschwung zu verdanken. Seine Bevölkerung hat Rechte und Freiheiten bekommen, von denen frühere Generationen kaum zu träumen wagten. „Umsonst“ waren diese Segnungen nicht. Sie setzten das echte Bemühen um ein soziales Miteinander, um eine politische Verständigung und Pflichterfüllung im nationalen und internationalen Rahmen voraus. Dialogbereitschaft, Rücksichtnahme und der Verzicht auf nationale und soziale Privilegien waren die Garanten für den Weg in eine bessere Welt, die sicherlich nicht perfekt geworden ist, aber vielen Menschen, vor allem in Europa, Amerika, Australien und Teilen Asiens, ein Dasein in Würde und Wohlstand ermöglicht hat.
Zu den aktuellen Problemen zählen starke regionale Ungleichgewichte bei der Teilhabe an diesen Errungenschaften sowie aufseiten der führenden und „reichen“ Nationen dieser Welt ein verblassendes Bewusstsein dafür, mit welch großen Schmerzen das fragile Glück der Gegenwart erkauft werden musste. Dieser Wandel macht sich insbesondere in der Rhetorik der modernen Rechtspopulisten bemerkbar. Statt von Offenheit, Freiheit und Verständigung zu reden, tönen ihre Wortführerinnen und Wortführer von irgendwelchen nationalen Errungenschaften, die bewahrt werden müssen, von Abschottung und Eigeninteressen, die in der Gemengelage der Weltpolitik unterzugehen drohen. Donald Trump posaunt rücksichtslos aus, was in diesen Kreisen mittlerweile gedacht wird, nämlich dass das eigene Land wieder groß und mächtig werden müsse und bei allem politischen Handeln an erster Stelle zu stehen habe („America First“). Wer so denkt, provoziert Ärger und Konflikte. „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu“, lautet ein bekanntes deutsches Sprichwort, das uns an einen respektvollen Umgang mit unseren Nächsten gemahnt. Auch die Komplexität moderner Lebenswelten setzt solche einfachen Grundprinzipien des sozialen Miteinanders nicht außer Kraft, selbst wenn es heute immer schwerer fällt zu entscheiden, was Recht und was Unrecht ist. Eine große Verantwortung kommt in diesem Zusammenhang allen Medien zu, die uns wahrheitsgemäß zu unterrichten haben und deren inhaltliche Arbeit daher einer besonderen Sorgfaltspflicht unterliegt. Die Digitalisierung der Medien im 21. Jahrhundert hat maßgeblich dazu beigetragen, zusätzliche Foren der politischen Partizipation zu schaffen und unsere Gesellschaft weiter zu demokratisieren. Dass solche Foren wiederum zum Einfallstor für neue Gefahren und Vereinnahmungen geworden sind, erfordert unsere besondere Aufmerksamkeit. Unser Handeln hat sich gegen den wachsenden Einfluss rechtspopulistischer Bewegungen zu richten, die ihren Erfolg der pauschalen Diskreditierung des professionellen Journalismus als „Lügenpresse“ verdanken, dem gezielten Verbreiten von „Fake News“ und der damit einhergehenden Verunsicherung größerer Teile der Bevölkerung. Gegen solche Gespenster, die Angst verbreiten, hilft nur das Licht der Erkenntnis und Aufklärung. Sich darum zu bemühen, ist mühselig und kompliziert, denn es gibt keine einfachen Erklärungen für die Probleme der Gegenwart, auch wenn uns bestimmte politische Kreise dies suggerieren wollen. Aber es gibt faire Regeln des sozialen Handelns, an die wir uns halten sollten, wenn wir unsere Welt nicht in ein neues Chaos stürzen wollen.
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