Prof. Dr. Wolf-D. Bukow
Universität Siegen
Als 2015 die EU-Grenze unter dem Druck der Flüchtlinge zusammen brach und auf der Balkanroute fast 900 000 Flüchtlinge nach Deutschland kamen, reagierte die Menschen entlang der Transitstrecke mit großer Empathie und organisierte eine bis dahin nicht da gewesene Willkommenskultur. Alles sah danach aus, als ob sich angesichts des Elends der Flüchtlinge gerade in einem Augenblick, wo die Not besonders groß war, eine neue Linie im Umgang mit den Menschenrechten durchgesetzt habe. Allerdings konnte man auch beobachten, dass einige der betroffenen Regierungen und Teile der Bevölkerung diese Entwicklung nicht nur nicht mit trug, sondern sogar ungewöhnlich menschenverachtend aktiv wurde und alsbald begann, die Flüchtlinge zu skandalisieren, gegen sie Stimmung zu machen und sogar gewalttätig zu werden. Was sich hier innerhalb aller hier beteiligten Länder ankündigte, war eine Spaltung der Gesellschaft. Einige Länder machten dann auch ihre Grenzen sehr schnell wieder dicht, ohne dass nennenswert Widerstand geleistet werden. In anderen Ländern sieht es bis heute anders aus. Hier – besonders in Deutschland – stehen sich seitdem auf der einen Seite eine engagierte Zivilgesellschaft und auf der anderen Seite eine zunehmend empörte, wohletablierte Bevölkerungsgruppe gegenüber. Mobilisiert wird diese Bevölkerungsgruppe von der ursprünglich nur europafeindlichen, jetzt zunehmend flüchtlingsfeindlichen AFD, aber auch von manchen populistischen Politikern aus den Altparteien und im Fall Bayerns auch mehr oder minder direkt von Deutschland. Unterdessen hat auch der Staat Regierungsabkommen mit der Türkei und anderen Anrainerstaaten der EU geschlossen und die EU-Länder längs der Balkanroute haben Grenzzäune quer zur Route gezogen. Heute wird der Flüchtlingsstrom wieder vor den Außengrenzen der EU gestoppt. Damit ist die vor 2015 praktizierte migration policy wieder in Kraft.
Besonders in Deutschland wird die Willkommenskultur zwar nach wie vor von einer engagierten Zivilgesellschaft aufrecht erhalten, aber die flüchtlingsfeindlichen Bevölkerungsgruppen haben teils indirekt und teils sogar direkt dafür Stimmung gemacht, dass die Politik wieder zur alten Tagesordnung zurück kehrt und die Grenzen dicht macht. Wie konnte das gelingen? Haben die Flüchtlinge das Land überlastet? Danach sieht es nicht aus, weil gerade die Flüchtlinge unter dem Strich mit zum Wirtschaftswachstum beigetragen haben. War es die Diskreditierung der Flüchtlinge durch die Anschläge des IS? Auch danach sieht es nicht aus, weil es die Pogrome gegen “Fremde” schon lange gibt. Sie folgen tatsächlich bis in die Details hinein den Pogromen, die in der Zeit der Wiedervereinigung Mode wurden.
Was sich hinter dieser Entwicklung verbirgt, wird klar, wenn berücksichtigt wird, dass es hier letztlich um eine globale Konfliktlage geht. Diese Konfliktlage spielt sich derzeit auf zwei Ebene ab:
- a) Zum einen geht es um Konflikte quer durch alle Länder zwischen drei sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppierungen, nämlich zwischen dem Staatsapparat, der Zivilgesellschaft und fundamentalistischen Gruppen. Alle drei Gruppierungen sind sowohl in den Zentrumsländern als auch im gesamten Mittelmeerraum präsent. Alle drei Gruppierungen nutzen die Moderne mit ihren Technologien (Verkehrsmittel, Waffen), Kommunikationsformen (Internet und soziale Netze) und ihren Leitwerten (Urbanität und Wohlstand). Allerdings ist die Dynamik, die zwischen diesen drei Gruppierungen besteht, je nach der Region sehr unterschiedlich ausgeprägt. In Europa geht es im Rahmen dieser Dynamik darum, sich über öffentliche Stimmungspolitik innerhalb der Gesellschaft durchzusetzen. Von Lybien über Ägypten bis Syrien wird diese Dynamik zunehmend brutal und militärisch organisiert.
- b) Zum anderen geht es hier um eine Konfliktlinie zwischen den Ländern. Diese Konfliktlinie wird von einer schon sehr viel älteren Konfliktdynamik gerahmt, die auf den seit langem anhaltenden Divergenzen zwischen den Zentrums- und Peripherieländern basiert. Und hier spielen die jeweiligen Staatsapparate eine jeweils spezifische Rolle. Die Staatsapparate in den Zentrumsländer organisieren die Konfliktdynamik durch politische Bündnisse und Handelsabkommen immer wieder neu. Ein solches Konfliktarrangement zwischen den Zentrums- und Peripherieländern stößt aber immer mehr auf Widerstand. Er wird hier vor allem von den jeweiligen fundamentalistischen Strömungen getragen, in den Zentrumsländern von national-fundamentalistischen Bewegungen und an der Peripherie von religiös-fundamentalistischen Strömungen.
Beide Konfliktfelder haben viel miteinander zu tun und wirken sich gleichzeitig aus: Was das erste Feld angeht, die Konflikte zwischen den drei Gruppierungen, so ist es spannend zu beobachten, dass alle drei Gruppierungen quer durch die betreffenden Länder eine gewisse Nähe aufweisen, sich also deutlich komplementär verhalten. Die Willkommenskultur hat viel mit einer Solidarität unter Vertretern und Sympathisanten einer Zivilgesellschaft zu tun; man ist einander global nahe. Der hiesige Fundamentalismus der AfD korrespondiert in seiner Aggressivität und seiner Menschenfeindlichkeit sowie der Verachtung der Menschenrechte deutlich mit den fundamentalistischen Strömungen innerhalb islamischer Staaten; auch hier ist man tatsächlich einander global nahe. Auch die Staatsapparate agieren bei ihren Arrangements komplementär, allerdings in diesem Fall asymmetrisch komplementär. Das Problem ist bei ihnen, dass sich die demokratischen das Zentrum bildenden Staatsapparate gegenüber den oft despotischen, extrem populistischen entweder repressiv oder desolaten peripheren Staatsapparaten motiviert sehen, die Zentrum-Peripheriedynamik zum eigenen Vorteil stabil zu halten; hier ist man einander negativ komplementär nahe, denn man stabilisiert damit Entwicklung hier und Unterentwicklung und Ausbeutung dort. Und das ist wiederum der wesentlicher Grund für die bis heute andauernden Verwerfungen an der Peripherie.
So geraten die Flüchtlinge, die zunächst Opfer der quer durch den gesamten Mittelmeerraum verlaufenden ersten Konfliktlage sind, in den Zentrumsländern in die Falle. Als Opfer von sich zwischen fundamentalistischen Strömungen, antidemokratischen, populistisch agierenden Despoten und einer an der Moderne orientierten, aber ehre umorganisierten Zivilgesellschaft abspielenden Konflikte treffen sie nun auf dazu komplementäre Konfliktlagen in den Zentrumsländern. Und hier wirkt sich nun das zweite Konfliktfeld, der Zentrum-Peripheriekonflikt aus. Die Solidarität innerhalb der Zivilgesellschaft mag zwar im Rahmen der ersten Konfliktlage kurzfristig helfen, aber eben nicht nachhaltig, weil die Zentrumsstaaten im Rahmen der zweite Konfliktlage sehr schnell aktiv werden. Sie haben die Festung Europa nach einer vorübergehenden Öffnung längst wieder restauriert und sind heute darum bemüht, die Zahl der bei ihnen überhaupt noch durchgekommenen Flüchtlinge durch breit angelegte Verwaltungsmaßnahmen zu reduzieren.
In dieser Restaurationssituation stört natürlich die Solidarität einer globalen Zivilgesellschaft. Nützlich ist dagegen die Tatsache, dass es auch in den Zentren eine breite fundamentalistische Strömung gibt, in diesem Fall eine national-fundamentalistische, die man populistisch nutzen kann. Dabei geht es nicht so sehr um deren direkte Aggressivität als vielmehr um deren Motivationsbasis, die man sich zu eigen macht. Der besorgte Bürger wird zitiert, um die Solidarität der globalen Zivilgesellschaft zu reduzieren. Und wenn dann der IS Anschläge macht oder wenn sich Jugendliche unter Alkoholeinfluss ohne irgendeine Bleibeperspektive zu Bandenexzessen hinreißen lassen, dann lässt sich das motivationsmäßig ausgezeichnet nutzen, um jede Grenzschließung und einen repressiven Umgang mit den Flüchtlingen zu begründen. Keiner hat das klarer vorgeführt als der neue amerikanische Präsident Trump, der ja dem mächtigsten Zentrumsland weltweit vorsteht. Wir haben es also mit einer weltweiten Konstellation zu tun, die global von einer doppelten Konfliktdynamikbestimmt wird, wobei aber die alte Zentrum-Peripheriedynamik weiter dominiert. Und damit bestimmt auch die überkommene migration policy weiter die Lage.
Am Ende bleiben zwei Fragen. Erstens bleibt zu fragen, wie es dieser migration policy gelingt, immer wieder eine derartige Durchschlagskraft zu entwickeln. Im Kern geht es hier um zwei einander ergänzende Steuerungselemente, nämlich ein Mobilitäts- und ein Diversitätsregime[1]. Das Mobilitätsregime regelt die Möglichkeiten, welche Wege eingeschlagen werden können, um vom Herkunfts- zum Zielland zu kommen und sich hier niederlassen zu können. Das Diversitätsregime regelt, wem welche Möglichkeiten überhaupt eingeräumt werden. Das heißt, dass die migration policy Mobilitätsformate vorschreibt, die sie allerdings nur bestimmten Menschen einräumt. Ein leicht zu handhabendes Format ist das eines internationalen Studierenden. Wer zum Beispiel als Chilene in Köln studieren will, kann dies beantragen, wird dabei sogar von verschiedenen Institutionen beraten und kann sich bei einer entsprechenden Zulassung an der Zieluniversität nach einem geregelten Umzug einschreiben. Umgekehrt müsste sich ein gleichaltriger Eritreer mit dem gleichen Wunsch auf den Weg durch Nordafrika zur Mittelmeerküste aufmachen und über eine extrem gefährliche und teure Route versuchen, irgendwie über die faktisch geschlossene Balkanroute oder über das Mittelmeer nach Deutschland zu kommen. Ihm bleibt nur das Format eines illegalen Flüchtlings, der, wenn er es bis zum Zielland überhaupt schafft, noch lange nicht in Köln zum Studium zugelassen würde. Man könnte hier sehr unterschiedliche Formate anführen, die jeweils definieren, wer sich wie auf den Weg machen kann. Und sie definieren gleichzeitig, wer wie nur illegal kommen kann, weil die migration policy so ausgelegt ist, dass faktisch nur Weiße auf einfache Weise einreisen können, während coloured people faktisch auf illegale Formate verwiesen sind. Vor dem Hintergrund, dass sich Migration als eine basale Form der Mobilität tatsächlich niemals verhindern lässt, mag die heute übliche migration politicy zwar offiziell nur legale Migrationsformate ermöglichen. Tatsächlich aber erzeugt sie angesichts einer faktisch nicht zu verhindernden Mobilität gleichzeitig illegale Migrationsformate, die zudem mit einem extremen Risiko verbunden sind. Und sie erzeugt gleichzeitig neben einer legalen Kommerzialisierung der Mobilität eine kriminelle Komerzialisierung von Mobilität.
Zweitens bleibt zu fragen, wie diese migration policy in einer auf Humanität stolzen demokratischen Gesellschaft überhaupt dauerhaft durchzusetzen ist. Denn nur, wenn das gelingt, kann sie überhaupt “effizient” arbeiten. Auf der einen Seite zeigt man sich bereit, dann Mobilität zu normalisieren, wenn das Land der EU beitritt, was freilich nur unter mit dem Diversitätsregime kompatiblen Bedingen zugelassen wird. Und man zeigt sich in brisanten Situationen nachgiebig. So hat man bislang drei Mal die Grenzen zumindest teilweise geöffnet, nämlich nach dem Zerfall Jugoslawiens, nach der Wiedervereinigung und nach dem Arabischen Frühling. Auf der anderen Seite hält der fundamentalistische Nationalismus ein breites Repertoire an rassistischen Narrativen bereit, um dem Anderen den Status als Newcomer zu verweigern, ihn zum Fremden zu erklären, zu diskriminieren, zu skandalisieren, ihn auszusondern und so lange in eine perspektivenlose Situation zu zwingen, bis er freiwillig geht oder ggf. auch abgeschoben werden kann. Einer solchen Strategie gegenüber ist jede zivilgesellschaftliche Solidarität auf Dauer machtlos. Aus dem “Wir schaffen das” ist tatsächlich längst wieder ein Strategie der Begrenzung, der Perspektivenreduktion, der Ausgrenzung und der Rückführung geworden.
[1] Wolf-D.Bukow (2014): Gute Forschung verlangt eine gute Theorie. In: Wassilios Baros, Wilhelm Kempf (Hg.): Erkenntnisinteressen, Methodologie und Methoden interkultureller Bildungsforschung. Berlin. Verlag Irena Regener 81ff., S.88.