Prof. Dr. Ulrike Zöller
Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes
Soziale Herkunft und/oder Migrationsgeschichte korrelieren weiterhin mit Bildungserfolg (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016) und bestimmen das Bildungsniveau in der Bundesrepublik Deutschland (Wendt u.a. 2016). Dabei sind Kinder und Jugendliche mit Migrationsgeschichte im deutschen Bildungssystem durchschnittlich doppelt benachteiligt (SVR 2016, S. 3). Armut und strukturelle Diskriminierung koppeln sich u.a. auf den Ebenen Bildung und Erziehung (Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband 2016). Somit gehören junge Migranten immer noch zu derjenigen Gruppe von Jugendlichen, die stark von Brüchen und Risiken im Bildungsverlauf betroffen sind (Skrobanek 2015). Geringe Bildungsressourcen sind für die spätere Platzierung auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt klar von Nachteil. Eine der wichtigsten Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe und des Bildungssystems besteht demzufolge weiterhin darin, (Bildungs-)Benachteiligungen entschieden entgegenzutreten und an Chancengerechtigkeit zu arbeiten.
Nach den Prinzipien und des Standards des IFSW (International Federation of Social Workers 2014) bilden soziale Gerechtigkeit, die Menschenrechte, gemeinsame Verantwortung und Achtung der Vielfalt die Grundlagen Sozialer Arbeit. Der damit verbundene gesellschaftliche Auftrag fordert Akteure Sozialer Arbeit auf, im Rahmen von Jugendhilfe und Bildung, Maßnahmen sozialer Gerechtigkeit zu entwickeln, die präventiv an der Bekämpfung sozialer Ungleichheit ansetzen und damit Armutsverhältnisse verringern. Gerechtigkeitstheoretische Begründungszusammenhänge können perspektivenreich für Jugendhilfe und Bildungssystem sein. Bedeutsam ist dabei, dass menschliche Entfaltungspotentiale einerseits abhängig von der Verfügung über materielle Ressourcen sind, andererseits aber auch soziale und individuelle Faktoren benötigen – wie die jeweilige Infrastruktur, Berechtigungen etwas zu erhalten bzw. tun zu können, günstige Machtverhältnisse und persönliche Eigenschaften – die dann zusammengenommen den nutzenbringenden Einsatz von Ressourcen für das Individuum ermöglichen oder verhindern (vgl. Nadai 2012, S. 72). Der Auftrag der Jugendhilfe ist an dieser Stelle hervorzuheben, da jeder junge Mensch ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit unter positiven Lebensbedingungen nach § 1 SGB VIII hat. § 3 SGB VIII betont, dass insbesondere junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung gefördert und Benachteiligungen vermieden oder abgebaut werden sollen. Die Qualität pädagogischer Beziehungen spielt dabei nach Annedore Prengel (2013) eine fundamentale Rolle. Diese haben folgenreiche persönliche und gesellschaftliche Auswirkungen und damit eine hohe Bedeutung für Soziale Arbeit (ebd., S. 13).
Die Qualität pädagogischer Beziehungen bezieht sich auf den wichtigen Einfluss des persönlichen Handelns der Pädagog_innen, je nachdem, ob sie sich anerkennend oder missachtend gegenüber Kinder und Jugendliche verhalten (vgl. Prengel 2013). Teilnehmende Beobachtungen in Grundschulen konnten zeigen, dass die größte Zahl der Lehrpersonen in ihrem pädagogischen Verhalten anerkennende Muster praktizieren. Allerdings wurden auch nicht anerkennende Verhaltensmuster identifiziert. Diese wirken sich gegenüber den Kindern im Rahmen des täglichen Lehrpersonenhandelns aus. Ermutigung und Entmutigung als unmittelbare Wirkungen von Lehrpersonenhandeln sind körperlich sichtbar. Weiterhin sind nach Verletzungen kindliche Lernaktivitäten in der Regel blockiert, nach Ermutigungen kommen sie in der Regel (wieder) in Gang. Verletzungen treffen teilweise seriell die gleichen Kinder. Verletzende Muster wie Anbrüllen oder am Arm schütteln wurden wiederkehrend beobachtet. Bedeutsam ist, dass Handlungsweisen der Lehrpersonen oder anderer Erwachsener aus multiprofessionellen Teams im Anfangsunterricht sich auch auf Verhaltensweisen der Peers übertragen können (vgl. Prengel 2013). Kinder – auch solche, die zuschauen – können durch destruktives Lehrerhandeln psychisch belastet werden, was sich auf die Lernmotivation des herabgesetzten Kindes und auf die weitere Bildungsbiografie stark auswirken kann (vgl. Prengel 2013). Die Forschungsergebnisse können wertvolle Hinweise für Akteure der Sozialen Arbeit liefern, da plausibel herausgearbeitet wird, dass sich missachtendes Verhalten in pädagogischen Kontexten biografisch auf anvertraute Kinder und Jugendliche auswirken kann.
Darüber hinaus wurde untersucht, wie im sozialen und pädagogischen Raum Formen der Solidarität, die ihre Basis in den Menschenrechten haben, zwischen pädagogischen Fachkräften und jungen Menschen beschaffen sein können. Dieses Verhältnis sollte verantwortlich und solidarisch gestaltet werden, damit weder menschenrechtliche Prinzipien noch die Machverhältnisse, die im generationellen Verhältnis auftauchen, verleugnet werden. Betont wird dabei eine pädagogische Interaktion, die die kognitive Beziehung zum vermittelnden Lerngegenstand mit der emotionalen Beziehung verbindet (Prengel 2013, S. 12f). Diese Erkenntnis unterstreicht Robert C. Pianta (2014) durch zahlreiche Beobachtungsstudien. Besonders bei Kindern aus benachteiligten Milieus hänge die schulische Leistung und Entwicklung sehr stark vom Einsatz des Lehrpersonals und der damit einhergehenden zwischenmenschlichen Interaktion ab. Die pädagogische Beziehung beeinflusse das pädagogische Handeln und lenke dieses im anerkennenden oder missachtenden Verhalten gegenüber Schüler_innen (ebd.).
In der Bemessung von Gerechtigkeit sind die rechtfertigungspflichtigen Phänomene Ungleichbehandlung und Ungleichheit. In den Blick genommen werden dabei Ungleichheiten nur, insofern sie soziale Bedingungen erstrebenswerter Lebensaussichten und soziale Mechanismen darstellen, die systematische Benachteiligung reproduzieren. Gegenstand des gerechtigkeitstheoretisch geforderten Ausgleichs sind dabei die Nachteile in den Lebensaussichten der Individuen, die nicht auf freiwillige Entscheidungen zurückzuführen sind. Eine gerechte Gesellschaft ist demnach verpflichtet, zu gewährleisten, dass die Lebensaussichten eines jeden Individuums mit einer gleichen Weise gewährleistet werden (Böllert u.a. 2011, S. 518). Wird diese Richtschnur auf die Schaffung von Bildungsvoraussetzungen und –bedingungen für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche übertragen, bedeutet das für Akteure Sozialer Arbeit, Möglichkeiten zur Gewährleistung dieser Lebensaussichten zu entwickeln und dazu beizutragen, dass strukturelle oder zwischenmenschliche Bedingungen, die zur Ungleichheit führen, verringert werden. Auf die Situation vieler Kinder und Jugendlicher in benachteiligenden Kontexten bezogen, kann nach Möglichkeiten gesucht werden, dass der Alltag für den persönlichen Bildungserfolg unterstützend gestaltet wird und Jugendhilfe u.a. in den Alltag von Schule eintritt und diesen ebenfalls prägt. Im Zentrum steht die Schaffung von Strukturen, die Kinder und Jugendliche dazu befähigen, sich ihren eigenen individuellen Möglichkeiten entsprechend zu bilden sowie diese Bildung dann auch weiterführend für gelingende Lebensaussichten zu nutzen. Bildungsbefähigende Strukturen können zu mehr Gerechtigkeit im Bildungssystem führen. Es zeigt sich, dass in Kommunen ein verzahntes Ineinandergreifen verschiedener Maßnahmen erfolgreich ist. Maßnahmen sollten schon früh im Leben eines Kindes ansetzen und gemeinwesen- und sozialraumorientiert sein. Ein besonders erfolgversprechender Faktor ist hierbei der politische Wille (vgl. Caritas spezial 2012).
Das SGB VIII benennt Kinder und Jugendliche ausdrücklich als Träger eigener Rechte (Maywald 2010). Die Perspektive der Kinder und Jugendlichen ist der Ausgangspunkt im Sinne einer umfassenden Partizipation aller weiteren Überlegungen. Das Arbeiten mit Kindern und nicht für Kinder steht im Vordergrund, was ein kindgerechtes Beschwerdemanagement ausdrücklich einschließt (ebd.).
Gerechtigkeitstheoretisch begründete Soziale Arbeit stellt dabei konsequent die Qualität der pädagogischen Beziehungen ins Zentrum. Richtungsweisend sind dabei menschenrechtliche Orientierungen und die klare Botschaft, dass Menschenrechtsbildung vorgelebt und miteinander gelebt werden muss (Prengel 2013).
Gerade am Beispiel sozial benachteiligter Kinder und Jugendlicher und der auftretenden Chancenungleichheit im deutschen Bildungssystem durch soziale Herkunft und/oder Migrationsgeschichte darf Soziale Arbeit die Realisierung von sozialer Gerechtigkeit im Rahmen von Bildungsanstrengungen nicht aus den Augen verlieren. Von Bedeutung sind daher Bemühungen, schulbezogene Jugendhilfeplanung zu entwickeln und in die Bildungsplanung von Kommunen zu integrieren. Schulbezogene Jugendhilfeplanung, die sich allerdings spezifisch auf migrationsbezogene Kontexte bezieht, steht im Moment noch aus.
Literatur
Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2016). Bildung in Deutschland 2016. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration. Verfügbar unter: http://www.bildungsbericht.de/de/bildungsberichte-seit-2006/bildungsbericht-2016 1.
Böllert, Karin; Otto, Hans-Uwe; Schrödter, Mark & Ziegler, Holger (2011). Gerechtigkeit. In: Hans-Uwe Otto & Hans Thiersch (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit. Ernst Reinhardt Verlag: München und Basel. S. 517 – 527.
Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband (2016). Zeit zu handeln. Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland 2016.
Nadai, Eva (2012). Der Capability Ansatz und Armut im Reichtum. In: Hans-Uwe Otto & Holger Ziegler (Hrsg.), Das Normativitätsproblem der Sozialen Arbeit. Zur Begründung des eigenen und gesellschaftlichen Handelns. np Sonderheft. Verlag neue praxis. Lahnstein. S. 72-81.
Maywald, Jörg (2010). UN-Kinderrechtskonvention: Bilanz und Ausblick. Verfügbar unter: http://www.bpb.de/apuz/32519/un-kinderrechtskonvention-bilanz-und-ausblick 2.
Neue Caritas Spezial (2012). Politik Praxis Forschung. Deutscher Caritasverband e.V.
Pianta, Robert C. (2014). „Children cannot be successful in the classroom unless they are successful in relationships“ – Analysen und Interventionen zur Verbesserung von Lehrer-Schüler-Beziehungen. In: Annedore Prengel & Ursula Winklhofer (Hrsg.), Kinderrechte in pädagogischen Beziehungen. Bd. 2. Forschungszugänge. Opladen, Berlin & Toronto: Verlag Barbara Budrich. S. 127 – 141.
Prengel, Annedore (2013). Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz. Opladen, Berlin & Toronto: Verlag Barbara Budrich.
Sachverständigenrat deutscher Stiftungen (2016). Doppelt benachteiligt? Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem. Eine Expertise im Auftrag der Stiftung Mercator. Berlin: SVR GmbH.
Skrobanek, Jan (2015). Ethnisierung von Ungleichheiten. Disparitäten, Benachteiligungswahrnehmung und Selbstethnisierungsprozesse im Übergang Schule – Ausbildung. Weinheim und Basel: BeltzJuventa.
Wendt, Heike; Bos, Wilfried; Selter, Christoph; Köller, Olaf; Schwippert, Knut & Kasper, Daniel (Hrsg.) (2016). TIMSS 2015. Mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich. Waxmann.