Prof. Dr. Wolf D. Bukow
Universität Siegen
Zur Fragestellung
Seit langem wird in der Einwanderungsdebatte jeder, der nicht aus dem Westen oder der EU kommt, kritisch betrachtet und hier oft besonders auf seine oft islamische Religionszügehörigkeit hingewiesen. Und alles, was sie sichtbar machen könnte, wird schnell zum Symbol für eine mangelhafte Integrationsbereitschaft stilisiert. Neuerdings versucht man sogar, die Kritik noch zu verschärfen, exemplarisch an der Burka die Selbstverteidigungsbereitschaft des “ westlichen” Kulturkreises zu demonstrieren und dies dann auch rechtlich durch das Laizismusprinzip zu untermauern.
Einem kritischen Beobachter wird schnell klar, dass es sich bei der laizistisch angeleiteten Fragestellung um eine politisch extrem verengte Fassung der Frage nach dem Verhältnis zwischen Religion und Staat generell geht – letztlich um die Frage nach der Bedeutung einer Religion innerhalb heutiger Gesellschaften und nach dem Umgang mi . Und hier ist bis heute vieles offen. Es handelt sich um eine sehr komplexe Gemengelage, in der der Islam nur ein religiöses Format neben vielen anderen ist. Es lässt sich eben kaum vermeiden, überall und auch in der eigenen Gesellschaft alsbald die je nach Region sogar noch unterschiedlichsten Versionen von Religionen, Konfessionen, religiösen Bewegungen und Gemeinschaften bis hin zu neuen Alltagsreligionen mit ins Blickfeld zu rücken. Und es lässt sich auch nicht vermeiden, irgendwann zu erkennen, dass man es mit einer einerseits jeder Gesellschaft “intrinsischen” Herausforderung zu tun hat und es anderseits viele lokalen Traditionen mit zu berücksichtigen gilt. Im deutschen Religionsverständnis ist dann z.B. immer auch das neuzeitliche Bemühen zu berücksichtigen, aus den Erfahrungen mit Religionskriegen, mit der Aufklärung, mit den verschiedenen Versionen des Antiklerikalismus und Antisemitismus und heute mit fundamentalistischen Bewegungen zu lernen. Von dort her zeichnet sich ein distanziertes bis neutrales Verhältnis zwischen “säkularen”gesellschaftlichen Interessen und ggf in religiösen Gemeinschaften geprägten individuellen Motiven ab, das eben dazu geführt hat, die Religionsfreiheit im Grundgesetz zu verankern.
So gesehen geht es beim Islam einfach nur um den Status einer bislang eher marginalen Religion innerhalb der Gesellschaft. Und das legt erst einmal eine wissens- oder religionssoziologische Betrachtungsweise nahe. Von hier aus kann man sich an einschlägigen sozialgeschichtlichen Theorien wie der Säkularisierungsdebatte orientieren. Erst dann ist es sinnvoll, rechtliche Fragen in den Mittelpunkt zu stellen und sich auf die Rolle einer Religion im Staat zu konzentrieren, wobei sich erst einmal ein Verweis auf menschenrechtliche Prinzipien anbietet (“Religionsfreiheit”). Vergleichend wäre es dann auch möglich, den Laizismus als regulatives Prinzip mit einzubeziehen .
Die Laizismusdebatte und ihre Wurzeln
Bei der Laizismusdebatte wird man schnell feststellen, dass diese Debatte von Beginn, wie deren Ursprünge in Frankreich belegen, sehr nationalstaatlich geprägt ist und selbst in einem Land wie der Türkei, die sich sehr eng an sie angelehnt hat, zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen geführt hat. So steht in Frankreich bis heute die Vorstellung eines gegenüber Religionen bzw Kirchen neutralen Staates im Mittelpunkt. Zum Beispiel gibt es keinen staatlich organisierten Religionsunterricht an den staatlichen Schulen, wohl aber ein Zeitfenster für einen privaten Religionsunterricht. Dagegen verhält sich in der Türkei der Staat zwar auch gegenüber den Religionen distanziert, wenn er – um beim Beispiel zu bleiben – den Religionsunterricht aus staatlichen Schulen verbannt, aber diese Distanziertheit ist nicht neutral gemeint, sondern sie soll einen unkontrollierten religiösen Einfluss auf staatliche Institutionen unterbinden. Die Distanzierung ist einseitig gemeint, weil der Staat anderseits eine eigene Behörde eingerichtet hat, die sich als Behörde theologisch positioniert, bestimmte konfessionelle Strömungen innerhalb des Islam begünstigt und nichtislamische Religionen sogar diskriminiert. Der Laizismus folgt, wie schon diese beiden Beispiele deutlich zeigen, in der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Religion und Gesellschaft keinem eindeutigen Prinzip, sondern es handelt sich um ein Instrument, das die Interessen eines Nationalstaates gegenüber religiösen Institutionen oder Gemeinschaften definieren soll und im Detail einerseits von dem historisch sehr unterschiedlich entwickelten Selbstverständnis eines Nationalstaates und anderseits von der jeweiligen sehr spezifischen Ausgestaltung der jeweils im Staatsgebiet verbreiteten Religionen abhängt.
Mit anderen Worten, der Laizismus ist dann interessant, wenn man ihn länderspezifisch differenziert und hier als ein nationalstaatspezifisches Konzept betrachtet, das einen spezifischen Staat mit den entsprechenden lokalen Religionen in ein Verhältnis setzt. Das französische Konzept resultiert aus der Restauration nach der (antiklerikalen) französischen Revolution und der Erkenntnis, dass man endlich eine den Kirchen und Religionen gegenüber neutral-distanzierte Haltung definieren muss, um Frieden zu schaffen (Auswirkungen der Dreyfus-Affäre). Das türkische Konzept resultiert aus der Zeit der Gründung des türkischen Nationalstaates nach dem Ersten Weltkrieg und ist sehr eng mit der Geschichte des Völkermords an den Armeniern und den Aramäern und Verfolgungen der christlich-orthodoxen Griechen am Ende des Osmanischen Reichs 1914–1923 verknüpft. Vor diesem Hintergrund ging es darum, mit den verbliebenen religiösen Gruppierungen einen den neuen Staat nicht gefährdenden modus vivendi zu finden. Von dort her war er von Beginn an zwar distanziert, aber nicht neutral, sondern positionell-kontrollorientiert (trotz des Vertrags von Lausanne von 1923, der den neuen türkischen Staat zur Religionsfreiheit gegenüber anderen Konfessionen und Religionen verpflichtete). In beiden Beispielen geht es aber nicht um eine wohlwollend distanzierte Würdigung religiöser Deutungspotentiale, sondern um die Sicherung des staatlichen Machtanspruchs – in Frankreich unter endgültigem Verzicht auf eine katholisch-konfessionelle Positionierung und in der Türkei unter Indienstnahme einer bestimmten konfessionellen (sunnitischen) Positionierung.
Schon in diesem kurzen Vergleich lässt sich einiges erkennen, was belegt, dass die Laizismusdebatte problematisch, nämlich nicht nur hoch voraussetzungsreich, sondern vor allem auch erheblich zu vage ist, wenn es um die Klärung der Rolle von Religionen in einer Gesellschaft geht. Ihre Kernproblematik besteht in der nationalstaatlich fokussierten “nationsemantischen” Engführung der Definition des Verhältnisses zwischen Religion und Gesellschaft. Es ist ein Verhandeln von in nationalistische Erzählungen eingebetteten Deutungsmustern ohne jeden Wirklichkeitsbezug. Diese Problematik wird immer wieder, zuletzt an der Minarett-, Kopftuch und der Burkini-Debatte erkennbar.
Die Grenzen einer Laizismusdebatte
Die Grenzen der Laizismusdebatte werden schnell deutlich, wenn man sich aktuelle Beispiele vergegenwärtigt. Sie ist tatsächlich hoch voraussetzungsreich, denn sie berücksichtigt nicht die situativen bis historischen Rahmenbedingungen und damit den sozialen Sinn eines Phänomens. Bei der Minarettdebatte ignoriert sie nicht nur die Vorgeschichte dieser “Turm”-Konstruktion sondern auch, dass andere seit je analoge Turmkonstruktionen (Kirchtürme) errichten. Bei der Kopftuchdebatte wird ignoriert, dass es sich um ein Kleidungsstück handelt, das sowohl im säkularen als auch religiösen Kontext weltweit verbreitet ist. Bei der Burkini-Debatte wird der modische Hintergrund dieser Erfindung, bei der ja europäische Badegewohnheiten variiert werden, die noch vor wenigen Jahrzehnte maßgebend waren. Hier wird das Religiöse an einer sehr nationalistisch herausgearbeiteten Semantik festgemacht. Um ein religiöses Symbol handelt es sich bei einem Phänomen nur dann, wenn es von einem “Nationalstaatsfremden” zur Repräsentation seiner religiösen Einstellung genutzt wird. Wird unter diesen Voraussetzungen eine Laizismusdebatte entwickelt, dann kann es nur noch darum gehen, dass der Staat seinen Anspruch als ein alles umfassender Nationalstaat in einer Situation zu stabilisieren versucht, in der die nach wie vor angestrebte Regulierung der gesamten gesellschaftlichen Wirklichkeit und sein Hegemonieanspruch angesichts der zunehmenden Mobilität und Diversität im kulturellen und insbesondere auch im religiösen Feld fraglich wird. Der Laizismus wird eingesetzt, um vorgeblich “staatsfremde” Erscheinungen zu neutralisieren. Das Kernproblem verbirgt sich in dem “vorgeblich”. Hier entwickelt der Nationalstaat eine tatsächlich fundamentalistische Orientierung, indem er sich wie selbstverständlich zu eigenen religiösen Wurzeln zu bekennen beginnt. Nicht zufällig spricht man von einer christlich geprägten Leitkultur. Faktisch wird damit die religiöse Resilienz ganzer Bevölkerungsgruppen provoziert, die sich nicht diesem vorgeblichen Fundament verdanken. Und das Ergebnis ist das Gegenteil von einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Religion und Gesellschaft. Es nur eine Frage der Zeit, bis weitere religiöse Gruppierungen in diesen “semantischen Strudel” geraten und beginnen, sich einem eigentlich historisch längst überholten staatlichen Hegemonieanspruch zu entziehen und eigene Fundamente zu postulieren.
Folgerungen
Wer sich auf eine sehr eng gefasste juristische Fassung des Problems beschränkt, hier eventuell sogar nur laizistisch argumentiert, der sollte prüfen, was er alles ausklammert und muss auf jeden Fall die besonderen Bedingungen in Rechnung stellen, unter denen sich diese Debatte in den letzten einhundertundfünfzig Jahren vorzugsweise in Frankreich entwickelt hat und heute angesichts der globalen Konfliktlagen wieder virulent wird. Nur so lässt sich aus ihr vielleicht etwas Sinnadäquates lernen.
Versucht man die Rolle von Religionen in einer Gesellschaft auszuloten, so zeigt sich sehr schnell, dass dabei eine Fragestellung, die sich allein auf den Islam konzentriert, der Komplexität der Sache nicht gerecht wird. Aber auch die Laizismusdebatte führt nicht weiter, weil sie nur in einem ganz nationalstaatlich dominierten bestimmten Kontext funktioniert und die unterschiedlichsten Positionen umfasst. Wenn die Frage sachadäquat diskutiert werden soll, muss das Verhältnis individueller religiöser Motive und Gemeinschaften innerhalb einer säkularen, formal organisierten deliberativen Gesellschaft in den Mittelpunkt gestellt werden. Das kann breiter gesellschaftswissenschaftlich orientiert oder enger juristisch fokussiert – unter Bezug auf die in der Verfassung aus Erfahrung heraus verankerte Religionsfreiheit – geschehen. Dabei ist es wichtig, die Erfahrungen ernst zu nehmen, die zu dem Verfassungsprinzip geführt haben. Man wird dann nämlich schnell erkennen, dass sich die Religionsfreiheit nicht auf eine psychische Befindlichkeit beschränkt, sondern deren Manifestation im Habitus, in der Kleidung, in Alltagsroutinen, durch Gemeinschaften, “heilige” Sprachen und öffentlich sichtbare Symbole einschließt. In der Regel machen die alteingesessenen Religionen von diesem Recht sogar extensiv Gebrauch. Es ist eine Frage der Gleichberechtigung, das auch jüngeren Religionen zuzugestehen, sobald sie lokal verankert sind.