Christoph Bongert
Deutsches Auswandererhaus
„Im ganzen Land sprechen die Menschen über nichts anderes als den Fall der Pfälzer“. Im August des Jahres 1709 beschreibt ein besorgter? wütender? Londoner Bürger in einem Brief, was in diesen Sommertagen für den Gesprächs- und Zündstoff der britischen Öffentlichkeit sorgt: Nicht der Krieg gegen Frankreich auf dem Festland, nein – die „deutschen protestantischen Flüchtlinge aus der Pfalz“. Unter dieser Bezeichnung, oder kurz einfach als „Poor Palatines“, „arme Pfälzer“, firmieren die etwa 13.000 Südwestdeutschen in den zahlreich erhaltenen amtlichen und publizistischen Schriftstücken. Was sich im Sommer 1709 in Großbritannien ereignet, könnte mit gleichem Recht oder Unrecht eine „Flüchtlingskrise“ genannt werden, wie man spätestens seit dem Sommer 2015 in Europa von einer redet. Dabei sind es gar nicht in erster Linie die Ereignisse, die Verhältnisse, die Umstände, hinsichtlich derer sich die beiden Sommer so ähnlich sind. Es ist nicht die Geschichte, die sich wiederholt – zu wiederholen scheint sich vielmehr, wie über das, was geschieht, gesprochen wird. Die immer gleichen Diskurse über die „Fremden“, woher und wohin auch immer diese kommen, folgen ihnen wie ein Schatten – schwarzmalerisch und um eine Dimension verkürzt. September 2015: Im ganzen Land sprechen die Menschen über nichts anderes als den Fall der syrischen Flüchtlinge…
Die „Poor Palatines“ – gemeint sind all jene Männer, Frauen und Kinder, die seit dem Frühjahr 1709 ihre Höfe und Häuser in Südwestdeutschland verlassen. Zwar sind nicht alle „Palatines“, also aus der Kurpfalz – aber „poor“, das sind sie durchaus. Das Südwestdeutschland der Zeit ist eine jahrzehntelang von Kriegen verheerte, von fremder Besatzung wie eigenen Fürsten ausgepresste, allenthalben von Armut gezeichnete Region. Der Jahrtausendwinter 1708/1709 tut sein Übriges: Die Kälte zerstört die Saat für die Felder und tötet das Vieh.
Ist es da verwunderlich, wenn die Menschen in dieser Lage einem Gerücht Glauben schenken, das wie ein Wunder klingt? Die britische Königin Anne schenke allen, die sie nur darum bitten, Land in ihren amerikanischen Kolonien! Und für die Überfahrt ins „gelobte Land“ komme sie überdies auf! Ein kleines Buch, das 1709 drei Auflagen erlebt und in den südwestdeutschen Fürstentümern kursiert, weiß von einer Gruppe von Auswanderern zu berichten, denen genau dies wiederfuhr. Zudem malt es die Lebensbedingungen in der britischen Kolonie Carolina in so goldenen Farben aus, dass vielleicht der Name, unter dem es heute noch bekannt ist, daher stammt: das „Goldene Buch“. Zwar lässt sich aus ihm bei unbefangener Lektüre kaum jenes königliche Versprechen herauslesen – aber pflegt nicht die Verzweiflung in jeder noch so leisen Andeutung ein Versprechen zu sehen?
Ungezählte Tausende brechen jedenfalls auf, schiffen sich auf dem Rhein ein, um über Rotterdam nach London überzusetzen. „Ihr könnt halb Deutschland haben, wenn ihr wollt; denn sie fliehen alle“, so schreibt der britische Gesandte in Den Haag angesichts der Menschenmassen, die außerhalb Rotterdams in provisorischen Lagern kampieren. Um dem Elend abzuhelfen, werden mit Billigung Queen Annes britische Transportschiffe, die auf dem Hinweg Soldaten auf das Festland bringen, dazu genutzt, um die zumeist mittellosen Menschen nach London zu bringen. Allein zwischen Anfang Mai und Mitte Juli sind es 11.000. Innerhalb weniger Wochen füllen, überfüllen sich die Quartiere der Stadt mit den „Palatines“. Der Schriftsteller Daniel Defoe spricht das aus, was wohl den meisten durch den Kopf geht: „Die große Frage, die wir uns jetzt stellen müssen, lautet: Was sollen wir mit ihnen tun?“[1]
Defoe selbst schmiedet große Pläne. Dass die „Palatines“ nach Amerika wollen, ist ihm zwar bekannt, kümmert ihn aber nicht sonderlich. Er sieht in ihnen eine Chance für Englands Wirtschaft und politische Macht. Gegen den allemal erhobenen Einwand, in Zeiten schwacher Konjunktur, hoher Arbeitslosigkeit und einem jahrelangen auszehrenden Krieg sei es nicht ratsam, so viele Fremde aufzunehmen, sagt Daniel Defoe: Wir schaffen das![2] Die deutschen Bauern und Handwerker sollen Wälder abholzen und brachliegendes Land nutzbar machen. Handelt es sich bei ihnen doch, wie er zu wissen glaubt, um „arbeitsam[e] und geschickt[e]“ Leute – „fleißig bei der körperlichen Arbeit und erfindungsreich in ihrem Beruf sowie überaus willig, in jedem möglichen Bereich beschäftigt zu werden; mit einem Wort, sie empfehlen sich rundheraus als Menschen, die für einen jeden Ort, der sie aufnimmt, einen Segen, und keinen Fluch, bedeuten.“[3] Der merkantilistische Verwertungsdiskurs über die Fremden ist damit eröffnet.
Doch bevor die großen Pläne in die Tat umgesetzt werden können, gilt es zuerst, der unmittelbaren Not abzuhelfen. Als im Stadtzentrum, wo die „Palatines“ provisorisch untergebracht sind, bereits mit Seuchen zu rechnen ist, entstehen die vielleicht ersten Flüchtlingslager der Neuzeit: Auf mehreren Gebieten außerhalb der Stadtmauer werden ganze Zeltstädte errichtet. Im Zeltlager bei Blackheath zum Beispiel leben rund 4.500 Deutsche, die aus privaten Spenden- sowie aus öffentlichen Geldern mit Brot, Kleidung und Bibeln versorgt werden. Publizistisch begleitet (und initiiert) werden die Maßnahmen von einem christlich-moralischen „Charity“-Diskurs.
Bald schon sind die „Palatines“ Ziel neugieriger Besuche und ziehen Blicke zwischen Mitleid und Abscheu auf sich. In einem privaten Brief aus dem August wünscht der Schreiber seiner bei Blackheath wohnenden, erkrankten Adressatin nicht nur baldige Wiedergenesung, sondern auch „einen besseren Nachbarn als die Pfälzer, die, wie ich fürchte, Ihre gute Luft verpestet haben. Massen von ihnen halten sich in unserem Land auf; unsere Landsleute nennen sie ‚Zigeuner’, da sie ihre Sprache nicht kennen und ihre armselige Kleidung sehen.“[4] Der Bericht eines deutschen Zeitzeugen erinnert später daran, dass „die Teutschen bey den Engelländern gantz stinckend, ja zum Hohn, Wunder und Schauspiel worden; und nun ein jeder zum Spott Palatein heissen und sich von den Kindern auf der Strasse verspeyen lassen muss“.[5]
Wenn die ersten Wochen des „Sommers der Palatines“ von einem zwischen merkantilistischem Nutzendenken und christlicher Nächstenliebe changierenden „Willkommensdiskurs“ geprägt gewesen sind, so weicht dieser im Verlauf des Jahres merklich fremdenfeindlichen Stimmen. Zynische Verweise auf die „eigenen“, einheimischen Armen, die ebenso zu versorgen wären, sind Legion. In einem zeitgenössischen englischen Pamphlet klingt die Diffamierung der „Fremden“ so: „Herumtreiber, die in ihrem eigenen Land keineswegs schlecht leben würden, wenn nicht ihre faule Veranlagung und die Nachricht von unserer wohlbekannten Großzügigkeit sie hierher getrieben hätten“.[6] Das prämierte Unwort vom „Sozialtouristen“ hat es noch nicht gegeben, aber gemeint ist es hier bereits. Aus mehreren englischen Gemeinden, die „Palatines“ aufgenommen haben, wird zudem von gewalttätigen Übergriffen auf die Fremden berichtet. „Wir schließen sie in unsere Gebete ein, aber wünschen sie außer Landes“[7] – auf diese Kurzformel bringt es eine englische Polemik und scheint damit vielen aus dem Mund zu sprechen.
Immerhin bleiben von den etwa 13.000 schließlich rund 3.000 in England. Was ist aus den übrigen „Palatines“ geworden? Die Bilanz in Zahlen fällt nüchtern aus. Rund 3.000 von ihnen werden in Irland angesiedelt. Eine deutlich geringere Zahl hat sich für kleinere Siedlungsprojekte außerhalb des Königreiches anwerben lassen. Für fast alle Katholiken endet die Reise, nach all dem Leid, der Entbehrung und Demütigung, wieder da, wo sie begann: 2.200 katholische „Palatines“ schicken die Briten zurück nach Rotterdam. Nur für etwas weniger als 3.000 erfüllt sich die Hoffnung, die sie hatte aufbrechen lassen: Sie werden nach New York eingeschifft – wo auf sie keineswegs das „versprochene“ Land wartet, sondern Fronarbeit. Ungezählt bleiben überall diejenigen, die unterwegs gestorben sind. Das letzte Wort in dieser Angelegenheit behält sich die offizielle Kommission vor, die im Jahr darauf mit der Untersuchung der Ereignisse des Jahres 1709 betraut wird. Sie kommt zu dem Ergebnis, „dass, wer auch immer dazu geraten hat, die armen Pfälzer in dieses Königreich zu bringen, als Feind der Königin und des Königreiches betrachtet werden muss“.
Aber muss dies das letzte Wort bleiben? Die ökonomischen Verwertungs-, moralischen Werte- und xenophoben Abwertungsdiskurse, die sich mit stets anderen Worten und doch immer gleicher Bedeutung seit Jahrhunderten wiederholen, haben trotz ihrer entgegengesetzten politischen Implikationen eines gemeinsam: Sie sind allesamt Antworten auf jene von Defoe gestellte Frage: „Was sollen wir mit ihnen tun?“ Heißt nicht aber die Frage so zu stellen, über die Anderen über „das Gebot der Stunde“ hinaus patriarchalisch zu verfügen? Sie aus dem Verhandlungs- und Entscheidungsraum auszuschließen, innerhalb dessen in Frage steht, was mit ihnen geschehen soll? Dieses Geschehen ist doch eines, das beide Seiten betrifft: „uns“ und „sie“. Ein Geschehen, das uns anders und die anderen zu unsrigen werden lassen könnte. Dafür aber müssen wir erst einmal neue Worte finden – und einander zu Wort kommen lassen. Nur so pfeifen wir nicht immer das alte Lied.
BU:
Das Zeltlager der „Palatines“ bei Blackheath.
Aus: Imhof, Andreas Lazarus von/Conrad Schönleben: [Des] Neu-eröffneten Historischen Bilder-Saals Siebender Theil. Nürnberg, 1740, S. 527.
[1] Daniel Defoe: Review of the State of the British Nation, 2. Juli 1709.
[2] Vgl. Daniel Defoe: A Brief History of the Poor Palatines Refugees lately arriv´d in England. London, 1709.
[3] Daniel Defoe: Review of the State of the British Nation, 6. August 1709.
[4] John Floyer an Lady Dartmouth, 23. August 1709.
[5] Das verlangte / nicht erlangte Canaan bey den Lust-Gräbern. Franckfurt und Leipzig, 1711, S. 21.
[6] A View of the Queen and Kingdom’s Enemies In the Case of the Poor Palatines. London, o. J., S. 7.
[7] The Palatine’s Catechism, or, A True Description of their Camps at Black-Heath and Camberwell. In a Pleasant Dialogue between an English Tradesman and a High-Dutchman. London, 1709.
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