Prof. Dr. Christian Mann
Universität Mannheim
Die römischen Gladiatorenkämpfe sind im historischen Gedächtnis unserer Zeit höchst präsent. Sie sind Thema in preisgekrönten Kinofilmen wie „Gladiator“ (2000) oder in Fernsehserien wie „Spartacus“ (seit 2010), und sie dienen als implizites Vorbild für die blutigen Wettkämpfe in „Die Tribute von Panem“. Bei allen Unterschieden zwischen den einzelnen Verarbeitungen der antiken Gladiatorenkämpfe sind es doch stets dieselben Aspekte, die betont werden: Erstens wird die voyeuristische Lust des Volkes herausgestrichen, zweitens erscheinen die Kämpfe als ein Instrument der Mächtigen, um das Volk von seiner Machtlosigkeit abzulenken, eben durch „Brot und Spiele“ ruhig zu stellen.
Dieses Bild ist insofern richtig, als die Gladiatorenkämpfe eine enorme Popularität genossen. Das Kolosseum in Rom war ein riesiger Bau mit einem Fassungsvermögen von ungefähr 50.000 Menschen, außerdem sind Hunderte weitere Amphitheater nachgewiesen. Die Menschen, ob in Rom selbst oder in den Provinzen, wollten Gladiatoren sehen. Falsch ist allerdings die Vorstellung, die Zuschauer hätten vor allem nach möglichst viel Blut gegiert. Eine Fülle von Quellen bezeugt, dass man in erster Linie Kämpfe auf einem hohen Niveau erwartete, nicht viele Leichen. Der Gladiator Hermes wurde dafür gepriesen, dass er „siege, ohne zu verwunden“ (Martial 5,24). Ihm gelang es wohl, die Gegner durch ständige Attacken zu ermüden oder zu entwaffnen, so dass diese den Kampf aufgaben.
Wenn ein Gladiator seine Niederlage durch ein Handzeichen einräumte, wurde der Kampf von dem Schiedsrichter gestoppt. Das Schicksal des unterlegenen Gladiators lag dann in den Händen des Mannes, der die Spiele ausrichtete und bezahlte. In Rom war dies zumeist der Kaiser selbst oder ein anderes Mitglied der kaiserlichen Familie. Er konnte den Gladiator begnadigen oder dem siegreichen Gladiator den Befehl geben, seinen Kontrahenten zu töten. Doch der Spielleiter entschied nicht allein, er richtete sich auch nach den Rufen und Zeichen des Publikums. Und in der Mehrheit der Fälle plädierte das Publikum für eine Begnadigung. Berechnungen auf der Grundlage der zahlreich erhaltenen Gladiatoreninschriften haben ergeben, dass im 1. Jahrhundert n. Chr. nur etwa jeder fünfte Kampf tödlich endete. Dieser Befund ändert nichts daran, dass die römischen Gladiatorenkämpfe ein brutales Schauspiel waren, sie widerlegt jedoch die Vorstellung, es sei in erster Linie um das Blutvergießen gegangen.
Völlig in die Irre geht die Vorstellung, das Geschehen in der Arena habe von der Politik ablenken sollen. Vielmehr waren Gladiatorenkämpfe hochpolitische Ereignisse: Ihre welthistorische Einmaligkeit besteht nicht darin, dass in der Öffentlichkeit um Leben und Tod gekämpft wurde (man denke nur an die neuzeitlichen Duelle), sondern dass nach dem Kampf über Leben und Tod des Unterlegenen entschieden wurde. Im Idealfall wurde dabei ein Konsens aller gesellschaftlichen Schichten zelebriert, denn im Amphitheater waren die sozialen Eliten genauso präsent wie das breite Volk inklusive von Frauen und Freigelassenen. Das Motiv für die Begnadigung von Gladiatoren war nicht Mitleid, sondern die Anerkennung für tapferen Kampf. Und da Tapferkeit von den Römern als genuin römische Eigenschaft betrachtet wurde, fällte das Publikum ein Urteil, ob der Unterlegene sich in der Arena wie ein echter Römer verhalten habe. Und damit entschied es auch über mögliche zukünftige Mitglieder des Bürgerverbandes; denn wenn ein Gladiatoren drei Jahre überlebte, wurde er aus dem Dienst entlassen und in die Gesellschaft reintegriert. Im Amphitheater wurden also Entscheidungen über höchst sensible Fragen getroffen.
Falls im Amphitheater Einigkeit darüber sichtbar wurde, welcher Gladiator weiterleben dürfe und wer nicht, wirkte dies herrschaftsstabilisierend, aber nicht immer trat dies ein. Im Jahr 15 n. Chr. leitete der jüngere Drusus, Sohn des Kaisers Tiberius und damit ein möglicher Nachfolger, in Rom Gladiatorenkämpfe. Nach Meinung des Volkes legte er dabei allzu große Grausamkeit an den Tag und ließ mehr Gladiatoren töten, als nach allgemeiner Ansicht gerechtfertigt war. Es kam darauf zu Unruhen in Rom, und Tiberius sah sich genötigt, seinen Sohn öffentlich zu rügen (Tacitus, Annalen 1,76). Tiberius‘ eigene Popularität litt darunter, dass er den Gladiatorenkämpfen nicht selbst beiwohnte, und bereits Caesar hatte sich den Unmut des Volkes zugezogen, als er während der Spiele Briefe diktierte. Das Volk erwartete, dass auch die Mächtigen ins Amphitheater gingen und den Kämpfen zusahen, und die allermeisten Kaiser kamen dieser Forderung auch nach. Damit verbunden war die Anerkennung der Sonderstellung des stadtrömischen Volkes, denn dieses besaß im Gegensatz zu den Provinzbewohnern das Privileg, direkt mit dem Kaiser zu kommunizieren.
Besonders deutlich wird die symbolische Bedeutung der Gladiatorenkämpfe, wenn man das gesamte Spektrum des Geschehens in der Arena betrachtet. Vormittags wurden Tierhetzen gegeben, bei denen möglichst wilde und möglichst exotische Tiere gegeneinander oder gegen bewaffnete Menschen kämpften. Dieses Spektakel inszenierte den römischen Sieg über die wilde Natur, die nicht als idyllisch und schützenswert wahrgenommen wurde, sondern als feindlich. Gleichzeitig wurde dem Publikum durch Löwen, Giraffen, Bären und Wisente die Größe des Römischen Reiches vor Augen geführt. In der Mittagszeit wurden Verurteilte hingerichtet, teilweise in aufwändigen Inszenierungen. Diese brutalen tödlichen Charaden zeigten, wie gnadenlos Rom mit seinen Feinden umging. Die Gladiatorenkämpfe fanden am Nachmittag statt und waren der symbolisch komplexeste Teil der Vorstellung. Gladiatoren waren vom Tod bedroht, aber sie konnten überleben, wenn sie siegten oder begnadigt wurden. Sie galten als Außenseiter und als Verfemte, und gerade deshalb eigneten sie sich als Symbolfiguren und führten dem Publikum vor, was es hieß, wie ein Römer zu kämpfen.