Prof. Dr. Enrique Rodrigues-Moura
Universität Bamberg
Der Diktator António de Oliveira Salazar regierte Portugal von 1933 bis 1968. Er war die herausragende Persönlichkeit des sogenannten Estado Novo (»Neuer Staat«), dessen Kultur er nachhaltig prägte. Im Jahr 1968 schied Salazar krankheitsbedingt aus der Regierung aus. Der von ihm beschrittene Weg wurde jedoch unter Marcelo Caetano bis zur Nelkenrevolution 1974 fortgesetzt. Diese ebnete den Weg für die heutige portugiesische Demokratie.
Salazars Estado Novo war eine ständestaatlich und nationalistisch verfasste autoritäre Diktatur. Salazar entmachtete das Parlament, verbot die politischen Parteien, schuf eine repressive Geheimpolizei und eine strenge Zensur, entwickelte einen effektiven Propagandaapparat und ging eine enge Allianz mit der katholischen Kirche ein. Der Estado Novo bediente sich zur ideologischen Kontrolle seiner Bürger kultureller Ablenkungsstrategien. Fundamental war dabei die Triade Fado, Fátima, Futebol, also Musik, Religion und Sport. Mit ihrer Hilfe konnte die Diktatur dank der neuen Massenmedien Radio und Fernsehen die große Mehrheit der im Entstehen begriffenen Konsumgesellschaft erreichen.
Was das erste Glied der Triade, den Fado (von lateinisch fatum, Schicksal), betrifft, handelt es sich dabei um einen Musikstil, der vor allem in den Städten Lissabon und Coimbra gepflegt wird. Er behandelt Themen wie unglückliche Liebe, soziale Missstände, die Sehnsucht nach einer verlorenen Vergangenheit oder einer besseren Zukunft. Zentral ist das Motiv der saudade, ein Begriff, der mit Wehmut, Sehnsucht oder sanfter Melancholie übersetzt werden kann. Die saudade ist ein historisches Konstrukt aus dem 19. Jahrhundert, das als Inbegriff des lusitanischen Weltschmerzes zu einer portugiesischen Besonderheit avancierte. Der Estado Novo begann den Fado zu vereinnahmen und zu domestizieren. Er nationalisierte und zensurierte ihn, regulierte und kontrollierte sowohl die Inhalte der Lieder als auch den Habitus und das Erscheinungsbild der Sängerinnen und Sänger.
Fátima ist nicht nur der wichtigste Wallfahrtsort Portugals, sondern auch eines der wichtigsten Pilgerziele der römisch-katholischen Christenheit. In Fátima soll im Jahr 1917 die Jungfrau Maria drei Hirtenkindern erschienen sein. Um dieser angeblichen Marienerscheinung zu gedenken, ließ die katholische Kirche mit Unterstützung des Staates eine Kathedrale von enormen Ausmaßen erbauen. In der Zeit der Diktatur wurde die Fátima-Frömmigkeit mit antikommunistischer Intention gezielt gefördert. Ein Konkordat von 1940 verlieh der Kirche das Recht, Steuern von Gläubigen einzuheben und den Religionsunterricht in öffentlichen Schulen zu organisieren. Darüber hinaus unterstützte das Regime katholische Missionen in Afrika unter dem Vorwand, das Imperium Portugal samt seinen Kolonien zu festigen.
Die Diktatur instrumentalisierte neben dem Glauben auch den Fußball. Dies geschah im Besonderen nach den europäischen Erfolgen der Fußballmannschaft Benfica Lissabon in den 1960ern und nach der hervorragenden Leistung der portugiesischen Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft von 1966. Im Zentrum des Hypes stand der in Mosambik geborene Fußballstar Eusébio, auch Pantera Negra (»Schwarzer Panther«) genannt. Eusébio wurde ideologisch zum Modellfall für den vermeintlichen Erfolg des »Zivilisationsprojekts« der kolonialistischen Diktatur stilisiert. Man könnte sogar sagen, dass der Fußball in der Zeit der Diktatur für die Einlösung des sprichwörtlich gewordenen juvenalischen Paares »panem et circenses« unabdinglich war.
Nach dem Ende des Estado Novo begann man den Fado mit den Manipulationen und Kontrollzwängen der Diktatur zu assoziieren. Aufgrund des Ruchs der politischen Instrumentalisierung, der dem Fado anhaftete, hat die ältere Generation noch heute eine ambivalente Beziehung zum Fado. Was Fátima betrifft, so verhinderte die abnehmende Volksfrömmigkeit Ende des 20. Jahrhunderts, dass sich die Wallfahrten dorthin als identitätsstiftendes Element für Portugal halten konnten. Auch war es bis zur Fußball-Europameisterschaft 2004 in Portugal nicht üblich, die Nationalflagge öffentlich zur Schau zu tragen.
Seither hat sich die Sicht auf die drei F verändert: Im Jahr 2011 erreichte Portugal – mit breitem Rückhalt in der Gesellschaft –, dass der Fado zum immateriellen UNESCO-Kulturerbe erklärt wurde. Dabei spielten neben kulturellen Anliegen freilich auch wirtschaftliche Überlegungen (Tourismus) eine Rolle. Gleichzeitig gewann Fátima durch die neuen christlichen Laienbewegungen des 21. Jahrhunderts als Anziehungspunkt für religiöse Events wieder an Bedeutung, wobei die Unterstützung des Vatikans eine grundlegende Rolle spielte. Der heutige globalisierte Fußball fungiert gleichzeitig als Moment der Identitätsstiftung und als Konsumgut. Als der Fußballspieler Eusébio im Januar 2014 verstarb, rief die Regierung eine dreitägige Staatstrauer aus. Nahezu alle Medien berichteten mit viel Pathos vom Tod eines portugiesischen Helden. Diese anachronistisch anmutende Volkstrauer lässt sich auf die Verfasstheit einer globalisierten Konsumgesellschaft zurückführen, die ständig neue Güter und Mythen benötigt. Wenige Wochen nach Eusébios Tod überreichte der Präsident der Republik nach dem Motto »rei morto, rei posto« (»Der König ist tot, es lebe der König«) dem Stürmerstar Cristiano Ronaldo einen der wichtigsten Orden Portugals.
Diese Neuaneignung von Fado, Fátima und Fußball ist nicht unbedingt Ausdruck eines nostalgischen Rückgriffs auf massenkulturelle Elemente der salazaristischen Diktatur. Eine gewisse Tendenz zu einer milderen Bewertung des Salazar-Regimes lässt sich jedoch in den letzten Jahren nicht leugnen. So kam Salazar in einer großen – von akademischer Seite viel kritisierten – Fernsehumfrage von 2007 erstaunlich gut weg. Die ideologiefreie Rückkehr von Fado, Fátima und Fußball in das Herz der portugiesischen Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts scheint eine bekannte These des Historikers José Mattoso zu bestätigen. Diese besagt, dass sich die portugiesische Nationalität seit dem 12. Jahrhundert eher aufgrund des staatlichen Zentralismus entwickelte als durch ethnische, geografische, kulturelle oder sprachliche Gemeinsamkeiten. Die mehr als 40 Jahre währende zentralistische Diktatur hat in der portugiesischen Gesellschaft Spuren hinterlassen. Und Musik, Religion und Sport haben aufgrund nationaler Entwicklungen im Kontext der Globalisierung markante Veränderungen erlebt, die das Selbst- und Fremdbild Portugals prägen.