Hosay Adina-Safi
Universität Hamburg
Willkommensklassen, Vorbereitungsklassen, Intensivklassen, Übergangsklassen oder Deutsch-als-Zweitsprache-Klassen: Die Vielfalt in der Namensgebung für spezielle Klassen für Kinder und Jugendliche, die erst vor Kurzem nach Deutschland migriert sind, spiegelt eine übliche Herangehensweise an deren Bildungssituation wider. Diese Sondermaßnahmen für Kinder und Jugendliche ohne Deutschkenntnisse sind nämlich kein neues Phänomen, sondern waren schon in der „Gastarbeiterzeit“ üblich, auch wenn sie im vergangenen Jahr vielerorts in großer Zahl neu eingerichtet wurden. Trotz jahrelanger intensiver Forschung und der Tatsache, dass sprachliche Heterogenität zu jeder Zeit ein relevantes Thema für Schule und Lehrerbildung ist, glauben sich viele Schulen und Lehrkräfte vor eine Herausforderung gestellt, die schwer zu bewältigen ist und für deren Meisterung sie nach Wissen und Handwerkszeug suchen. Gleichzeitig gibt es im Bereich Deutsch als Zweitsprache gut ausgebildete Fachkräfte sowie Schulen, die eine langjährige Erfahrung mit Mehrsprachigkeit und Migration in ihrem institutionellen Alltag vorweisen können. Von diesen sollte gelernt werden, unter welchen Bedingungen schulischer Erfolg möglich ist und wie eine Benachteiligung von neu zugewanderten Schülerinnen und Schülern verhindert werden kann. Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen, dass Kinder und Jugendliche aus Zuwandererfamilien im deutschen Bildungssystem über ihre gesamte Bildungslaufbahn hinweg doppelt benachteiligt sind – zu einem überwiegenden Teil durch ihre soziale Herkunft sowie durch ihren Migrationshintergrund[1]. Damit sich dies nicht weiter verfestigt und wiederholt, muss in Zukunft intensiv auf die Teilhabemöglichkeiten von neu zugewanderten Kindern und Jugendlichen geachtet werden. Vorbereitungsklassen als Ort der systematischen Einführung in das deutsche Schulsystem und die deutsche Sprache sind nur dann sinnvoll, wenn sie in ein Bildungs- und Sprachförderkonzept eingebettet sind, kontinuierlich begleitet und evaluiert werden und wenn Qualifikationsangebote für Lehrkräfte vorhanden sind.
Schulbesuch nach der Ankunft in Deutschland
Das Recht auf Bildung sowie die Schulpflicht sind in Deutschland in den Schulgesetzen und Landesverfassungen der Bundesländer verankert. Für die Schulpflicht ist in allen 16 Bundesländern das Kriterium des Wohnsitzes oder des „gewöhnlichen Aufenthaltes“ entscheidend, was im Falle von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern aber meist nicht ausreichend ist. Bei ihnen ist in einigen Bundesländern außerdem der Aufenthaltsstatus sowie die erfolgte Zuweisung zu einer Kommune, Gemeinde oder einem Landkreis ausschlaggebend. Dies führt dazu, dass Kinder und Jugendliche in z.B. Bayern oder Sachsen- Anhalt bis zu drei Monate nicht schulpflichtig sind und somit keine Schulbildung erhalten. Andere Bundesländer heben diese Regelungen zur Abhängigkeit des Schulbesuchs von ausländerrechtlichen Kriterien auf und bestimmen eine unabhängige Schulpflicht, wie z.B. Berlin, Hamburg und Bremen[2]. Schülerinnen und Schüler bzw. deren Eltern müssen sich meist bei einer zentralen Einrichtung (z.B. dem Schulamt) melden, um einer Schulform und der angemessenen Schulstufe zugeteilt werden zu können.
Im Grundschulalter (1./2. Klasse) gibt es meist die Möglichkeit, direkt in den Regelunterricht eingebunden zu werden. Dennoch gab es im vergangenen Jahr auch Vorbereitungsklassen für die ersten beiden Grundschulstufen. In Klasse 3 und 4 sowie in der weiterführenden Schule haben Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit bis zu einem Jahr – in manchen Bundesländern auch länger – in einer Vorbereitungsklasse zu lernen. In höheren Altersstufen (15-18 Jährige) wird ein erster Schulabschluss bzw. eine berufsvorbereitende Maßnahme ermöglicht, wenn der Übergang in die Sekundarstufe II nicht erfolgen kann.
Unterricht in Vorbereitungsklassen am Beispiel von Hamburg[3]
Je nach bisheriger Bildungsbiographie werden die Schülerinnen und Schüler in Hamburg zunächst in zwei Arten von Vorbereitungsklassen eingewiesen. Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe 1, die das lateinische Alphabet und die Grundrechenarten nicht beherrschen, lernen zunächst ein Jahr lang in einer Basisklasse. Alle anderen besuchen eine sog. Internationale Vorbereitungsklasse, in der im ersten halben Jahr (Grundstufe) alltagssprachliche und im zweiten halben Jahr (Aufbaustufe) bildungssprachliche Fähigkeiten erworben werden sollen. Die Verweildauer ist im Regelfall individuell ein Jahr, sie kann aber bei raschem Lernerfolg abgekürzt werden. Es beginnen und beenden also während eines Schuljahres ständig Schülerinnen und Schüler diese Klassen. Derzeit gibt es in Hamburg 228 Basis- und Vorbereitungsklassen. Das Hauptziel ist zunächst der Erwerb der deutschen Sprache sowie die möglichst schnelle Einbindung in den Regelunterricht.
Für Jugendliche, die nach ihrer Ankunft in Deutschland altersgemäß den Jahrgangsstufen 9 oder 10 zuzuordnen sind, gibt es in Hamburg eine zweijährige Vorbereitungsmaßnahme, die auf den Erwerb des ersten allgemeinbildenden Schulabschlusses vorbereitet. Mit diesem Abschluss können die Schülerinnen und Schüler dann in einer Regelklasse den mittleren Schulabschluss oder die Hochschulreife erwerben, oder aber in das berufliche Ausbildungssystem einsteigen.
Der Übergang in das Regelsystem – die eigentliche Herausforderung
Den Schülerinnen und Schülern wird nach dem Übergang in die Regelklasse, in der sie Unterricht mit Gleichaltrigen und denselben Unterricht wie diese erhalten, individuelle Unterstützung und Deutschförderung in der sog. dritten Phase geboten. Ein solcher Übergang kann am besten durch die enge Kooperation der Lehrkräfte aus der abgebenden Vorbereitungsklasse mit den Lehrkräften der aufnehmenden Regelklasse und anderen beteiligten sozialpädagogischen oder schulpsychologischen Fachkräften gelingen. Die Möglichkeit zu dieser Zusammenarbeit für jede Schülerin und jeden Schüler ist im schulischen Alltag oft nicht gegeben, zumal es auch vorkommt, dass Schülerinnen und Schüler nach der Vorbereitungsklasse an eine andere Schule wechseln bzw. aufgrund von Wohnortwechsel oder mangelnden Kapazitäten wechseln müssen. Lehrkräfte der aufnehmenden Regelklasse aber sollten zu einer individuellen Förderung beitragen können. Diese muss auf bisherige Fördermaßnahmen und Erkenntnisse über den Leistungsstand und die Lernerfahrungen einer Schülerin oder eines Schülers aufbauen. Ist dies nicht möglich, gestaltet sich der Übergang in die Regelklasse zu einem Neuanfang, der für die weitere Bildungsbiographie der Schülerinnen und Schüler entscheidend sein kann.
Bislang sind Vorbereitungsmaßnahmen im Bildungssystem sowie die Lern- und Leistungssituation in einer Vorbereitungsklasse nicht wissenschaftlich untersucht worden. Konzeptionell sollen Vorbereitungsklassen als sichere Umgebung, als geschützter Raum im Sinne eines Auffangsystems gestaltet werden, die eine Eingliederung in das Regelschulsystem erleichtern und auf dasselbe vorbereiten. Dieser Zielsetzung steht aber ein Effekt gegenüber, der desintegrativ wirkt: Zu bedenken ist, dass es sich bei der Errichtung einer speziellen Klasse um die Konstruktion einer Gruppe handelt, die nur vermeintlich zusammenhängt. Die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe ist weder natürlich noch selbst gewählt. Aus einer migrationspädagogischen Perspektive wird dieser Konstruktionsprozess mit Blick auf sprachlich ausgedrückte und in Handlungsmustern erkennbare Formen der Diskriminierung im Umgang mit den so konstruierten „Anderen“ kritisch gedeutet[4].
Quo Vadis?
Die Zukunft der neu zugewanderten Schülerinnen und Schüler ist Teil der Vergangenheit vieler, die heute als erfolgreiche Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund, als Teil der Migrationsgesellschaft Deutschland oder auch als Verlierer des Bildungssystems bezeichnet werden. Das deutsche Bildungssystem hat nach dem Grundgesetz den Auftrag, alle Schülerinnen und Schüler ihren individuellen Fähigkeiten angemessen zu fördern, um sie an der Gesellschaft teilhaben zu lassen. Vorbereitungsmaßnahmen als erste Station in der deutschen Schule für neu zugewanderten Schülerinnen und Schüler haben die Funktion, einen Übergang zwischen der „letzten Station“ in der bisherigen Bildungsbiographie und dem weiteren Bildungsverlauf im deutschen Schulsystem zu ermöglichen. Die Vorbereitungsmaßnahme enthält in sich weitere Übergangsphänomene, wie den Einstieg in ein neues soziales Umfeld, die Orientierung im neuen Schulalltag, die Überwindung sprachlicher Hürden sowie abschließend die Findungsphase im Regelschulsystem und die damit verbundenen Chancen auf einen guten Schulabschluss. Um dieser Komplexität gerecht werden zu können, bedarf es nicht nur des professionellen Umgangs der Institution Schule und der Lehrkräfte mit diesen Schülerinnen und Schülern; es müssen außerschulische Angebote zur Teilhabe an gesellschaftlichen Aktivitäten hinzu kommen, um Gelegenheiten für Begegnungen und Austausch zu schaffen und somit Zugehörigkeit zu einer größeren, selbst gewählten Gemeinschaft zu ermöglichen. Es bedarf erfolgreicher Vorbilder und Personen, die beratend und unterstützend eingreifen können, wenn es um wichtige Entscheidungen für die Zukunft junger Menschen geht, und es braucht Offenheit für ihre Wünsche, Bedürfnisse und Ziele. Bildungswege dürfen neu zugewanderten Schülerinnen und Schülern nicht verschlossen werden. Das Abitur wird oft als etwas nicht Erreichbares dargestellt, viele sprechen auch von Zuwanderung als Chance, unbesetzte Ausbildungsplätze zu füllen. Letzteres kann nicht Ziel unseres Bildungssystems sein, in dem jede Schülerin und jeder Schüler selbstbestimmt über seinen Bildungs-, Berufs- und somit Lebensweg entscheiden kann. Der barrierefreie Zugang zu Hochschulbildung sowie zum Ausbildungs- und Arbeitsmarkt muss für neu Zugewanderte gewährleistet werden, wenn es um die Zukunft der jungen Bevölkerung in Deutschland geht.
[1] Siehe hierzu den Forschungsbericht des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration: Doppelt benachteiligt? Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem. Eine Expertise im Auftrag der Stiftung Mercator. Mai 2016.
[2] Eine detaillierte Übersicht über die rechtlichen Grundlagen für den Schulbesuch von neu zugewanderten Schülerinnen und Schülern bietet Massumi/ von Dewitz (2015): Bestandsaufnahme und Empfehlungen. Neu zugewanderte Kinder und Jugendliche im deutschen Schulsystem. Hrsg. vom Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache und vom Zentrum für LehrerInnenbildung der Universität zu Köln.
[3] Siehe Rahmenvorgaben zur schulischen Integration zugewanderter Kinder und Jugendlicher in Regelklassen, Hrsg. Behörde für Schule und Berufsbildung Hamburg (2012) zur Konzeption der Vorbereitungsmaßnahmen in Hamburg.
[4] Vgl. Mecheril, Paul/ Shure, Saphira (2015): Natio-ethnokulturelle Zugehörigkeitsordnungen über die Unterscheidungspraxis „Seiteneinsteiger“. In: Bräu, Karin/ Schlickum, Christine (Hrsg.): Soziale Konstruktionen in Schule und Unterricht. Zu den Kategorien Leistung, Migration, Geschlecht, Behinderung, Soziale Herkunft und deren Interdependenzen. Opladen, Berlin, Toronto, S. 109-122.