Prof. Dr. Jochen Oltmer
Universität Osnabrück
›Flüchtlinge‹ sind laut der 1951 verabschiedeten Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) jene Migrantinnen und Migranten, die vor Gewalt über Staatsgrenzen ausweichen, weil ihr Leben, ihre körperliche Unversehrtheit, Freiheit und Rechte direkt oder sicher erwartbar bedroht sind. 145 Staaten haben die GFK unterzeichnet und sich verpflichtet, Flüchtlinge dann anzuerkennen, wenn diese eine Verfolgung wegen »ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung« nachweisen können. Mitte 2015 registrierte der UN-Flüchtlingshochkommissar (UNHCR) 20,2 Millionen Flüchtlinge, womit beinahe der Höchststand des vergangenen Vierteljahrhunderts erreicht worden ist (1992: 20,5 Millionen). Hinzu traten insgesamt 38,2 Millionen ›Binnenvertriebene‹, die vor Gewalt und Verfolgung innerhalb eines Staates ausgewichen waren.
Migration im Angesicht von Gewalt war und ist meist Ergebnis von Krieg, Bürgerkrieg oder Maßnahmen autoritärer politischer Systeme. In der Geschichte der Gewaltmigration bildeten vor allem der Erste und der Zweite Weltkrieg elementare Katalysatoren. Konflikte um und mit Minderheiten, (bewaffnete) Auseinandersetzungen um die Gestaltung des politischen Systems sowie Bestrebungen zur Homogenisierung der Staatsbevölkerungen kennzeichneten außerdem seit dem Zweiten Weltkrieg den langen Prozess der Dekolonisation, der umfangreiche Fluchtbewegungen und Vertreibungen mit sich brachte. Zentrale Folgen für das Gewaltmigrationsgeschehen hatte darüber hinaus der ›Kalte Krieg‹ als globaler Systemkonflikt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seither traten zahlreiche umfangreiche Fluchtbewegungen insbesondere im Kontext der Szenarien von Krieg, Bürgerkrieg und Staatszerfall in vielen Teilen der Welt hinzu – in Europa (Jugoslawien), im Nahen Osten (Libanon, Iran, Irak, Syrien, Jemen), in Ostafrika (Äthiopien, Somalia, Sudan/Südsudan), in Westafrika (Kongo, Elfenbeinküste, Mali, Nigeria), in Südasien (Afghanistan, Sri Lanka) oder auch in Lateinamerika (Kolumbien).
Flüchtlinge suchen in aller Regel Sicherheit in der Nähe der überwiegend im globalen Süden liegenden Herkunftsregionen, weil sie meist nach einer raschen Rückkehr streben. Darüber hinaus verfügen viele unter ihnen nicht über die finanziellen Mittel für größere Fluchtdistanzen, zudem behindern Transit- oder Zielländer oft eine Migration. 95% aller afghanischen Flüchtlinge (Mitte 2015: 2,6 Millionen) leben vor diesem Hintergrund in den Nachbarländern Pakistan oder Iran. Ähnliches gilt für Syrien: Der Großteil der Flüchtlinge von dort, rund 4,2 Millionen, sind in die Nachbarländer Türkei (Mitte 2015: 1,8 Millionen), Jordanien (700.000), Irak (280.000) und Libanon (1,2 Millionen) ausgewichen. Angesichts dessen überrascht es nicht, dass Staaten des globalen Südens 2014 nicht weniger als 86% aller weltweit registrierten Flüchtlinge und Binnenvertriebenen beherbergten – mit seit Jahren steigender Tendenz im Vergleich zum Anteil des globalen Nordens.
Anders als die Zahl der Binnenvertriebenen ist jene der Flüchtlinge in den vergangenen Jahren nicht übermäßig stark angestiegen. Umso mehr stellt sich die Frage, warum die Bundesrepublik 2015 weitaus häufiger Ziel von Fluchtbewegungen als in den Jahren zuvor wurde. Sechs Elemente eines komplexen Zusammenhangs seien skizziert:
- Finanzielle Mittel: (Erhebliche) finanzielle Ressourcen bilden eine wesentliche Voraussetzung für Migration. Unzählige Studien belegen: Armut schränkt die Bewegungsfähigkeit massiv ein, ein Großteil der Menschheit kann sich eine Migration über große Distanzen nicht leisten. 2015 aber lagen wichtige Herkunftsländer von Asylsuchenden in Deutschland in relativer geographischer Nähe (Syrien, Irak, Südosteuropa). Die Kosten für das Unternehmen Flucht vor dort halten sich mithin in Grenzen – zumindest im Vergleich zu Bewegungen aus anderen globalen Konfliktherden etwa in West- oder Ostafrika, Südasien oder Lateinamerika, die selten Europa erreichen.
- Netzwerke: Migration findet vornehmlich in Netzwerken statt, die durch Verwandtschaft und Bekanntschaft konstituiert sind. Deutschland ist 2015 auch deshalb zum wichtigsten europäischen Ziel von Asylsuchenden geworden, weil es hier seit längerem recht umfangreiche Herkunftsgemeinschaften gab, die für Menschen, die vor Krieg, Bürgerkrieg und Maßnahmen autoritärer Systeme auswichen, eine zentrale Anlaufstation bildeten. Und weil migrantische Netzwerke die Wahrscheinlichkeit für weitere Migration erhöhen, hat die Zuwanderung von Flüchtlingen in die Bundesrepublik die in den vergangenen Monaten zu beobachtende Dynamik gewonnen.
- Aufnahmeperspektiven: Staaten entscheiden mit weiten Ermessensspielräumen über die Aufnahme von Migrantinnen und Migranten und den Status jener, die als Flüchtlinge anerkannt werden. Die Bereitschaft, Schutz zu gewähren, bildet immer ein Ergebnis vielschichtiger Prozesse des Aushandelns durch Individuen, Kollektive und (staatliche) Institutionen, deren Beziehungen, Interessen, Kategorisierungen und Praktiken sich stets wandeln. Mit der permanenten Veränderung der politischen, administrativen, publizistischen, wissenschaftlichen und öffentlichen Wahrnehmung von Migration verbindet sich ein Wandel im Blick auf die Frage, wer unter welchen Umständen als Flüchtling verstanden und wem in welchem Ausmaß und mit welcher Dauer Schutz oder Asyl zugebilligt wird. In den frühen 2010er Jahren und bis weit in das Jahr 2015 hinein lässt sich eine relativ große Aufnahmebereitschaft in der Bundesrepublik beobachten. Verantwortlich dafür war eine vor dem Hintergrund der günstigen Situation von Wirtschaft und Arbeitsmarkt positive Zukunftserwartung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Die seit Jahren laufende breite Diskussion um Fachkräftemangel und demographische Veränderungen führte ebenso zu einer Öffnung wie die Akzeptanz menschenrechtlicher Standards und die Anerkennung des Erfordernisses des Schutzes vornehmlich syrischer Flüchtlinge, aus der auch eine große Bereitschaft zu ehrenamtlichem Engagement resultierte.
- Aufhebung von Migrationsbarrieren: Die EU-Vorfeldsicherung, also das System der Fernhaltung von Fluchtbewegungen, ist aufgrund des ›Arabischen Frühlings‹ bzw. der Destabilisierung diverser Staaten am Rand der EU zusammengebrochen. Die ›Mobilitätspartnerschaften‹ der EU und die vielgestaltige europäische migrationspolitische Zusammenarbeit mit Staaten wie Libyen, Ägypten, Tunesien, Marokko, Albanien oder der Ukraine hatte seit den 1990er Jahren verhindert, dass Flüchtlinge die Grenzen der EU erreichen und um Asyl nachsuchen konnten. Die Destabilisierung der politischen Systeme wirkte mit den tiefgreifenden Folgen der Weltwirtschaftskrise seit 2007 zusammen, die die gesellschaftlichen Konflikte in den EU-Anrainerstaaten verschärften, die staatlichen Handlungsmöglichkeiten beschnitten sowie die Bereitschaft und die Reichweite einer Zusammenarbeit mit der EU minimierten.
- Die Weltwirtschaftskrise wirkte auch in den inneren Ring der Vorfeldsicherung gegen Flüchtlinge hinein. Das seit den 1990er Jahren entwickelte ›Dublin-System‹ diente der bewussten Abschließung der EU-Kernstaaten und insbesondere der Bundesrepublik gegen weltweite Fluchtbewegungen. Lange funktionierte es. Aufgrund der Weltwirtschaftskrise aber waren diverse europäische Grenzstaaten, vornehmlich Griechenland und Italien, immer weniger bereit, die Lasten des Dublin-Systems zu tragen und die Flüchtlinge, die vermehrt die EU erreichten, zu registrieren und in das jeweilige nationale Asylverfahren zu fügen.
- Die Weltwirtschaftskrise führte innerhalb der EU dazu, dass die Bereitschaft klassischer und sehr gewichtiger Asylländer wie z.B. Frankreich oder Großbritannien stark sank, Flüchtlingen Schutz zu gewähren. In diesem Kontext wurde die Bundesrepublik gewissermaßen ein Ersatz-Zufluchtsland und damit zu einem neuen Ziel im globalen Fluchtgeschehen.