Kaum war die von SARS-CoV-2 ausgelöste Krankheit halbwegs ausgestanden, hielten andere, sich überschneidende oder wechselseitig verstärkende Krisen sowie kontrovers diskutierte Kriege die Bundesrepublik Deutschland in Atem. Während sich die gesundheitlichen Folgen der Pandemie zum Teil erst jetzt bemerkbar machten und die Prozesse wegen Abrechnungsbetrugs in Testzentren oder Steuerhinterziehung bei Maskendeals stattfanden, war die Gesellschaft bereits mit weiteren Problemen konfrontiert.
Wegen des kaskadenhaften Krisengeschehens verwendet man die Begriffe der „multiplen“ oder der „Polykrise“, mit denen Zusammenhänge zwischen mehreren Krisenphänomenen hergestellt werden, ohne dass deren jeweilige Besonderheiten unter den Tisch fallen. Hatte die Covid-19-Pandemie erste Preisschübe ausgelöst, etwa bei Nahrungsmitteln und Energie, so verteuerten sich fossile Brenn- und Kraftstoffe infolge des Ukrainekrieges sowie der westlichen Sanktionen gegen Russland noch mehr. Hierdurch gerieten Menschen, die mit ihrem Einkommen ohnehin nicht über den Monat kamen, stark unter Druck. Umgekehrt profitierten Rüstungskonzerne und ihre (Mit-)Eigentümer nach Beginn des Ukrainekrieges am 24. Februar 2022 von der veränderten Lage. Dabei bestätigte sich einmal mehr, dass existenzielle Krisen die Reichen reicher und die Armen zahlreicher machen.
Trotzdem wies Bundeskanzler Olaf Scholz die These einer Spaltung der Gesellschaft in seiner am 31. Dezember 2021 von ARD und ZDF ausgestrahlten Neujahrsansprache mit der Begründung zurück, dass er während der pandemischen Krisensituation überall eine beindruckende Solidarität, eine überwältigende Hilfsbereitschaft sowie ein neues Zusammenrücken und Unterhaken wahrgenommen habe. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier schreibt in seinem Buch mit dem Titel „Wir“, das am 22. April 2024 erschienen ist: „Wir sind keine ‚gespaltene‘, keine ‚polarisierte‘ oder ‚zerbrochene Gesellschaft‘.“ Das muss jedoch in politischer wie auch in sozialer Hinsicht bezweifelt werden, denn natürlich schwächt die wachsende Ungleichheit den gesellschaftlichen Zusammenhalt, und sie gefährdet die Demokratie.
Deutschlands gesellschaftliche Entwicklungsalternativen: Rüstungs- oder Sozialstaat
Olaf Scholz gab am 27. Februar 2022 eine Regierungserklärung zur aktuellen Lage ab, in der er von einer „Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents“ sprach, diesen Begriff gleich mehrfach verwendete und ihn mit Blick auf den drei Tage zuvor ausgebrochenen Ukrainekrieg populär machte: „Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen, in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts, oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen.“ Später wurde das angekündigte „Sondervermögen Bundeswehr“ geschaffen, welches Kritiker mit den Kriegskrediten im Kaiserreich vergleichen. Nach seinem Auslaufen soll der Militäretat des Bundes laut der am 17. Juli 2024 vom Bundeskabinett gebilligten Mittelfristigen Finanzplanung von etwas mehr als 50 Milliarden Euro heute auf 80 Milliarden Euro im Jahr 2028 angehoben werden, um das durch keinerlei militärische Lagebeurteilung gestützte, sondern völlig willkürliche 2-Prozent-Ziel der NATO zu halten.
Was durch Hochrüstung auf der Strecke zu bleiben droht, ist ein ursprünglich recht großzügiger Sozialstaat, von dem die Volkswirtschaft und die Bevölkerung der „alten“ Bundesrepublik jahrzehntelang profitierten. Während der sog. Nachrüstungsdebatte in den 1980er-Jahren hat sich die kritische Friedensforschung aus gebotenem Anlass erstmals mit diesem Problem beschäftigt. „Rüstungs- oder Sozialstaat?“ lautet auch heute wieder die Alternative, vor welcher die Bundesrepublik steht. Es kann nur den einen oder den anderen geben, aber nicht beide zusammen. Denn bei exorbitant steigenden Rüstungsausgaben bleiben Transferleistungen zwangsläufig auf der Strecke, kommt die soziale Gerechtigkeit unter die Räder und spitzen sich die gesellschaftlichen Verteilungskonflikte noch mehr zu.
Wenn man die ohnehin sehr hohen Rüstungsausgaben noch mehr anhebt und das Personal der Bundeswehr wie geplant aufstockt, wird es kaum möglich sein, die enormen Herausforderungen zu bewältigen, vor denen die zerstrittene Ampelkoalition steht: Sie muss ihren Beitrag zur Lösung der Klimakrise leisten, die Modernisierung der Infrastruktur unseres Landes vorantreiben und dessen soziale Probleme (Prekarisierung der Lohnarbeit, Verarmung eines wachsenden Teils der Bevölkerung, Wohnungsnot und Mietenexplosion) lösen. Umgekehrt dürfte es künftig eher noch mehr Abstriche von dem ohnehin wenig anspruchsvollen Programm der Ampelkoalition geben.
Der soziale Friede ist gefährdet, wenn aufgrund des größten Aufrüstungsprogramms seit 1945 das Geld für lebenswichtige Aufgaben des Staates fehlt. Da man Unsummen in die Rüstung stecken, den Militärhaushalt drastisch erhöhen und die Bundeswehr noch besser ausstatten will als bisher, wird das Geld woanders zwangsläufig knapp – Geld, das dringend benötigt wird, um soziale Probleme zu lösen, die während der Pandemie entstanden sind und sich anschließend noch verschärft haben, z.B. die Verelendung im Obdachlosenmilieu und in der Drogenszene.
Wie alle übrigen EU-Staaten hat sich Deutschland am 21. Juni 2021 durch Unterzeichnung der Erklärung von Lissabon über die Europäische Plattform zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit verpflichtet, diese durch konkrete Schritte bis zum Jahr 2030 zu beseitigen. Demnach soll niemand mangels zugänglicher, sicherer und geeigneter Notunterkünfte mehr auf der Straße leben müssen; niemand länger in Not- oder Übergangsunterkünften leben, als für einen erfolgreichen Umzug in eine dauerhafte Wohnlösung erforderlich ist; niemand mehr aus einer Einrichtung (Gefängnis, Krankenhaus oder Pflegeeinrichtung) entlassen werden, ohne ein angemessenes Angebot an Wohnraum zu erhalten; niemand ohne Angebot einer geeigneten Wohnungslösung vertrieben werden, falls sich die Räumung einer Unterkunft nicht verhindern lässt; schließlich niemand mehr aufgrund seines/ihres Obdachlosenstatus diskriminiert werden. Noch ist eher das Gegenteil der Fall: Wohnungs- und Obdachlosigkeit sind in Deutschland wie fast überall in der Europäischen Union zuletzt gestiegen.
Hilfreicher als zusätzliche Rüstungsanstrengungen, ein verstärktes Militärengagement im Rahmen der NATO oder eine neue „Nachrüstung“ durch Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen wären Mehrausgaben im Sozial- und Gesundheitsbereich, um den öffentlichen Wohnungsbau wiederzubeleben, der Kinderarmut entgegenzuwirken, den Pflegenotstand zu beseitigen und die Alterssicherung für abhängig Beschäftigte wieder auf eine solide Finanzierungsgrundlage zu stellen.
Zu befürchten ist jedoch, dass sich Wohnungsnot sowie Energie- und Ernährungsarmut infolge einer unsozialen „Sparpolitik“ ausbreiten. Die anhaltend höheren Preise für Erdgas, Strom und Grundnahrungsmittel, aber auch viele Konsumgüter des täglichen Bedarfs bedeuten für Menschen, die schon vor der Covid-19-Pandemie und dem Ukrainekrieg jeden Cent drei- oder viermal umdrehen mussten, dass sie gezwungen werden, den Gürtel künftig noch enger zu schnallen.
Möglichkeiten einer wirksamen Krisenbewältigung
Um dem Zerfall unserer Gesellschaft vorzubeugen oder Einhalt zu gebieten, muss alles vermieden werden, was die sozioökonomische Ungleichheit erhöht und die Klassenspaltung zementiert. Kanzler-Appelle zum „Unterhaken“, „Zusammenstehen“ oder „Zusammenhalten“, unterlegt von der Hymne „You’ll never walk alone“, die Fans aus mehreren Fußballstadien kennen, fruchten da wenig. Sie können auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die jüngsten Krisen das Land erschüttert und seine Bewohner/innen durchgerüttelt haben. Durch die rasche Aufeinanderfolge und die Kumulation der Krisenerscheinungen fühlen sich besonders Menschen überfordert, deren materielle Situation prekär ist.
Die wichtigste Lehre aus der Covid-19-Pandemie, der Energiepreiskrise und der Inflation lautet, nicht länger den neoliberalen Verlockungen („Privat geht vor Staat“) zu erliegen und zumindest dort nicht mehr prioritär auf den Markt zu setzen, wo es um die öffentliche Daseins- und Gesundheitsvorsorge für die Bevölkerung geht. Weder garantiert ein teilprivatisiertes, gewinnorientiertes Sozial- und Gesundheitssystem eine optimale medizinische Behandlung der Kranken noch in Krisensituationen wie einer Pandemie eine maximale Versorgungssicherheit für die Gesamtbevölkerung.
Als wesentlicher Bestandteil der Daseinsvorsorge gehört die Gesundheit zurück in die öffentliche Hand. Man darf das Feld der Gesundheitsversorgung aller Bürger/innen nicht Private-Equity-Fonds, Finanzinvestoren und Kapitalanlegern überlassen. Vielmehr sollten Krankenhäuser und Pflegeheime bedarfsgesteuerte Institutionen der öffentlichen Daseinsvorsorge sein, haben sich im vereinten Deutschland aber immer stärker zu profitorientierten Gesundheitsunternehmen entwickelt. Klinikkonzerne wie Helios, Sana und Asklepios sind private, teilweise börsennotierte Unternehmen, die sich vorrangig um eine optimale Verwertung des eingesetzten (Aktien-)Kapitals bemühen und maximale Renditen erwirtschaften sollen. Statt ihr Hauptaugenmerk auf das Wohl des medizinischen Personals und der Pflegekräfte sowie auf der von diesen behandelten und betreuten Menschen zu richten, stehen hohe Dividenden für Aktionäre im Mittelpunkt der Tätigkeit.
Es gibt allerdings einen solidarischen Weg aus der Mehrfachkrise: Wenn der Wohlfahrtsstaat umfassender für einen Ausbau der sozialen, Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur sorgt und mehr öffentliche Investitionen tätigt, kann die Gesellschaft sogar im Falle einer nationalen oder globalen Katastrophe funktionsfähig bleiben, die damit verbundenen Probleme bewältigen und ihre besonders gefährdeten Mitglieder schützen.
Menschen, die durch sämtliche Maschen des bestehenden Systems der sozialen Sicherung fallen, dürfen nicht in existenzielle Bedrängnis (Wohnungslosigkeit, Überschuldung und Privatinsolvenz) geraten. Nötig wäre eine bedarfsgerechte Konzentration staatlicher Ressourcen auf Personen, die Unterstützung benötigen, um in Würde leben und überleben zu können. Das gilt für prekär Beschäftigte, Randbelegschaften ebenso wie für Soloselbstständige, manche Freiberufler/innen und Kleinunternehmer/innen, die über zu geringe finanzielle Rücklagen verfügen, um eine ökonomische Durststrecke überstehen zu können.
Längerfristig geht es um die Schaffung eines inklusiven Sozialstaates mit einer solidarischen Bürgerversicherung als Kernbestandteil. Nötig ist eine passgenaue Hilfe für unterschiedliche Personengruppen. Auf der Basis einer solidarischen Bürgerversicherung könnte eine bedarfsgerechte, armutsfeste und repressionsfreie, d.h. ohne Sanktionen auskommende Grundsicherung dafür sorgen, dass niemand durch Armut, Unterversorgung oder Überschuldung seiner sozialen Bürgerrechte beraubt wird. So ließe sich das Haupteinfallstor für Erwerbs-, Familien- und spätere Altersarmut schließen.
Um schwere Gesundheits-, Wirtschafts-, Finanz- und Umweltkrisen künftig nicht bloß durch andere Regierungsentscheidungen und pragmatisches Verwaltungshandeln gut „managen“, sondern vermeiden oder meistern zu können, braucht Deutschland außerdem mehr sozioökonomische Gleichheit und größere Gerechtigkeit im Steuersystem. Da die wirtschaftlichen Verwerfungen der Coronakrise und des Ukrainekrieges mit wachsendem Wohlstand und vermehrtem Reichtum einhergehen, ja geradezu deren Kehrseite bilden, der Staat aber durch ihre Kosten finanziell enorm belastet ist, muss die Ungleichheit durch Umverteilungsmaßnahmen zurückgedrängt werden.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zuletzt die Bücher „Deutschland im Krisenmodus. Infektion, Invasion und Inflation als gesellschaftliche Herausforderung“ sowie „Umverteilung des Reichtums“ veröffentlicht.