Wolfgang Borchert wäre wohl aus allen Wolken gefallen, hätte er mitgekriegt, dass einst ein sozialdemokratischer Verteidigungsminister zur Kriegstüchtigkeit Deutschlands aufrufen würde. Die schrecklichen Kriegserfahrungen stecken dem Schriftsteller damals, so unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, in den Knochen. Abscheu gegenüber und Angst vor dem Krieg durchatmen die in Schrift gegossenen Gedanken des Schwerkranken. Sein Drama „Draußen vor der Tür“, seine Gedichte und Aphorismen, sein „Manifest“ aus den 1940er Jahren – sie, die oftmals despektierlich der Trümmerliteratur zugeordnet werden, enthalten nicht nur einen gellenden Aufschrei gegen das Menschheitsverbrechen Krieg, sondern fordern unmissverständlich dazu auf, sämtliche Einstellungen, die Kriege ermöglichen, zu blockieren bzw. zu überwinden.
„Helm ab Helm ab“ heißt es in Borcherts „Unser Manifest“, „Wir haben verloren! […] Wir werden nie mehr antreten auf einen Pfiff hin und Jawohl sagen auf ein Gebrüll. Die Kanonen und die Feldwebel brüllen nicht mehr. Wir werden weinen, scheißen und singen, wann wir wollen. […] Und kein General sagt mehr Du zu uns vor der Schlacht. Vor der furchtbaren Schlacht. Wir werden nie mehr Sand in den Zähnen haben vor Angst (Keinen Steppensand, keinen ukrainischen und keinen aus der Cyrenaika oder den der Normandie – und nicht den bitteren bösen Sand unserer Heimat!) Und nie mehr das heiße tolle Gefühl in Gehirn und Gedärm vor der Schlacht.“[i]
Krasser könnte der Widerspruch nicht sein, in dem Borcherts Plädoyer zu der Aussage des deutschen Verteidigungsministers steht, die weit hinter die Einsicht des Schriftstellers zurückfällt. „Wir müssen kriegstüchtig werden. Wir müssen wehrhaft sein. Und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen“, so der genaue Wortlaut vom Oktober 2023[ii], offenbar unbeeinflusst von den Schrecken von Faschismus und Krieg. Eigentlich verschaffte Pistorius nur dem eine größere öffentliche Beachtung, was der Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, verantwortlich für das Weißbuch der Bundeswehr von 2016, bereits im Juli 2023 eingefordert hatte: Kriegstüchtigkeit.[iii] Noch deutlicher wird der Generalinspekteur im Dezember 2023. Deutschland werde es „von außen vorgegeben, wann wir kriegstüchtig sein müssen. Und das heißt für mich: eigentlich so schnell wie möglich.“[iv] Neben der Aufrüstung der Streitkräfte sieht der General zwei weitere Grundpfeiler der erstrebten Kriegstüchtigkeit: den viel zitierten gesellschaftlichen Mentalitätswandel und die „personelle Einsatzbereitschaft“. Insgesamt geht es um die Stärkung der gesamtgesellschaftlichen Resilienz, die schon im Weißbuch 2016 an zentraler Stelle der sicherheitspolitischen Strategie steht. Resilienz, so klärt uns die Gesellschaft für Auswärtige Politik e. V. auf, bedeutet „die Bereitschaft und Fähigkeit einer Gesellschaft, einen Konflikt mit den Einschränkungen und Verlusten mitzutragen. Gesellschaftliche Resilienz – mental und physisch – ist unabdingbar, um Moral und Zusammenleben aufrechtzuerhalten. Dazu gehört die Sicherstellung von Infrastruktur (Verkehr, Energie, Digitales, Gesundheit), aber auch die öffentliche Demonstration des Glaubens an den Sinn und die Fähigkeit, den Konflikt durchzustehen.“[v] Diese militaristischen Aussagen fügen sich ein in eine ganze Reihe von Verlautbarungen, die in dem strategischen Ziel gründen, die nach dem Zweiten Weltkrieg mit gutem Grund entwickelte Kultur der militärischen Zurückhaltung Deutschlands endgültig zu zerstören. Da ist die Rede davon, dass die Friedensdividende aufgebraucht sei, dass Deutschland endlich aus der Friedenskomfortzone heraustreten, dass die Wehrhaftigkeit gesteigert werden müsse. Militär und Gesellschaft müssten resilienter werden, um der ‚modernen‘ Kriegsführung Paroli bieten zu können. Auch wird die „Entfeindung“ (Gauck) zwischen den Völkern als hochproblematisch eingestuft, weil sie fälschlicherweise auf vertrauensbildende Maßnahmen angelegt sei, wo doch generelles Misstrauen und Argwohn angesagt seien.
Hand in Hand mit diesen militaristischen Aussagen geht seit Jahrzehnten eine Geschichtspolitik, die die Lehren aus den beiden Weltkriegen und dem Faschismus in ihr Gegenteil verkehrt. Die Kultur der militärischen Zurückhaltung soll durch eine neue wehrhafte Mentalität ersetzt werden, die gerade in der deutschen Vergangenheit ihre ideologische Begründung findet. Denn aus den Verbrechen des Faschismus lässt sich kein „deutsches Recht auf Wegsehen ableiten“, so der Historiker Heinrich August Winkler zum 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges am 8. 5. 2015 vor dem Bundestag[vi]; nein, aus der nazistischen Vergangenheit wird die moralische Verpflichtung Deutschlands abgeleitet, sein Militär für ehrenwerte Kriege in aller Welt einzusetzen, die mit menschenfreundlichen Motiven begründet werden. Dabei muss aus dem Weg geräumt werden, was diese Einsicht der Bevölkerung in die Notwendigkeit militärischen Engagements blockieren könnte. War die Beteiligung der BRD am Krieg gegen Jugoslawien der geschichtliche Sündenfall nach der faschistischen Erfahrung und Zweitem Weltkrieg, so stellte sie zunächst nur eine Episode auf dem Weg dar, den Konsens der Bevölkerung in die Militarisierung eines Landes herzustellen, dem das Potsdamer Abkommen von 1945 aus guten Gründen eine konsequente Demilitarisierung verordnet hatte – verboten werden sollte nicht nur die Aufstellung einer eigenen Streitmacht, sondern auch die Unterhaltung einer eigenen Rüstungsindustrie. Die Mentalität der so genannten postheroischen Gesellschaft[vii], der Politik der Militarisierung, Aufrüstung und Abschreckung ein Dorn im Auge, wird permanent unter ideologischen Beschuss genommen. So geißelte Altbundespräsident Gauck vor der Führungsakademie der Bundeswehr schon 2012 folgerichtig die glückssüchtige Gesellschaft[viii], die in hedonistischer Gedankenlosigkeit und Gleichgültigkeit die Tatsache verdränge, dass ihre Existenz sich den aufopfernden Taten ihrer Soldatinnen und Soldaten, den „Mut-Bürgern in Uniform“, verdanke, die unter dem Einsatz ihres Lebens unsere Freiheit verteidigten – überall auf der Welt.
Nach Gauck sind es vaterlandslose Gesellen, die Deutschland in den Rücken fallen, dieses Mal aber, um es an der Verwirklichung seiner gerechten, friedliebenden Absichten zu hindern, d. h. dem militärischen Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen überall in der Welt. Es handele sich hierbei um Menschen, die die Herausforderungen der neuen Zeit noch nicht begriffen hätten und die „Deutschlands historische Schuld“ missbrauchten, „um dahinter Weltabgewandtheit oder Bequemlichkeit zu verstecken.“ Nicht zufällig formulierte Gauck diese elementaren Sätze auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2014 unter dem vielsagenden Titel „Deutschlands Rolle in der Welt“.[ix] Ein vielfach geschundener und im politischen Jargon entwerteter Begriff wurde bei der neuen weltpolitischen Rollenbestimmung Deutschlands als Wohlfühlwort des Emotional Marketings eingesetzt: das positiv besetzte Wort der Verantwortung. Deutschland übernimmt endlich Verantwortung, es übernimmt die Verpflichtung, militärisch für die Gestaltung zukünftiger Herausforderungen einzutreten. Der Versuch, Kriegseinsätze durch Kombination mit dem Wort der Verantwortungsübernahme positiv umzudeuten, beraubt nicht nur das Phänomen Krieg seiner Hässlichkeit, sondern attestiert zugleich all denjenigen Verantwortungslosigkeit, die sich aus Gründen der Entspannung und Friedenspolitik dem militärischen „Engagement“ verweigern. Unter Berufung auf Geschichte werden Antimilitarismus, Anti-Kriegs-Haltungen und Friedensengagement als verantwortungslos denunziert. Menschen, die für vertrauensbildende Maßnahmen und gegen die Waffenlieferungen an die Ukraine sind, gehören als Lumpenpazifisten[x], Verschwörungsideologen und Putinversteher in die Gattung vaterlandsloser Gesellen.
Kriegstüchtigkeit und Mentalitätsveränderung in diesem Sinne bedeuten eine endgültige Abwendung von der Kultur der militärischen Zurückhaltung in der so genannten Zeitenwende. Sie zielen auf den systematischen Abbau von Einstellungen, die dem militaristischen und aufrüstungspolitischen Denken opponieren. Einher damit soll der Aufbau von Haltungen gehen, die die Resilienz der Bevölkerung angesichts der Zumutungen und Belastungen der neuen ‚sicherheits’politischen Strategien erhöhen sollen. Zum erstrebten Mentalitätswechsel passt die jüngste Aussage des kriegserprobten Joseph Fischer, dass die „pazifistische Grundhaltung“, die sich in Deutschland „breitgemacht“ habe, kontraproduktiv für den Frieden sei, daher durch eine andere, von Misstrauen geprägte Haltung ersetzt werden müsse.[xi]
Dem Tüchtigmachen für den Krieg, denn nichts anderes bedeuten Kriegstüchtigkeit und die für sie fundamentale gesellschaftliche Resilienz, muss in Friedensbewegung und Friedensarbeit die Tugend der Kriegsuntüchtigkeit entgegengestellt werden. Kriegstüchtigkeit, das müsste gerade den Deutschen eigentlich mehr als klar sein, führt auf allen Ebenen in den geschichtlichen Abgrund. Und wenn in Deutschland wieder davon die Rede ist, dass nicht nur gekämpft, sondern auch gewonnen werden, die Wirtschaft fremder Länder ruiniert werden soll, und das Wort Sieg, das Gewinnen wollen (Breuer), wieder fröhliche Urständ feiert, müssten die Alarmglocken jedem laut im Ohr schrillen.
Es ist angesichts des unüberhörbaren Kriegsgeschreis und der gigantischen Aufrüstungsmaßnahmen höchste Zeit, die angestrebte Kriegstüchtigkeit nachhaltig zu bekämpfen. Borcherts kategorischer Imperativ lautet, sich jeder Form von Abschreckung, Aufrüstung und Verfeindung zu verweigern, dazu entschieden nein zu sagen. Es ist gerade die Kriegsuntüchtigkeit, die nicht nur, aber insbesondere auch in solchen Zeiten zur fundamentalen Tugend wird. Kriegsuntüchtigkeit ist notwendig, um Zivilisiertheit zu ermöglichen. Nur wer kriegsuntüchtig ist, kann friedensfähig werden. Kriegsuntüchtigkeit ist mehr als nur die Abwesenheit einer Einstellung, die auf Abschreckung und gewaltsamer Austragung von Konflikten beruht. Kriegsuntüchtigkeit meint die konsequente mentale, geistige und psychische Abrüstung, die Herstellung einer Widerstandsfähigkeit, die Menschen gegen die Rechtfertigungsmuster von Friedlosigkeit und Aufrüstung ‚immunisiert‘. Kriegsuntüchtigkeit ist keine passive Eigenschaft, sondern eine aktive geistige Tätigkeit, die den Interessen auf der Spur bleibt, die hinter den Aufrufen zu zivil-militärischen Mentalitätsänderungen und Kriegstüchtigkeit stehen. Kriegsuntüchtig werden, heißt, sich der Mühe zu unterziehen, die Erzählungen gegen den Strich zu bürsten, die die Menschen in die Abschreckungs- und Aufrüstungsphantasien einzubinden versuchen. Kriegsuntüchtig werden heißt, den Feindbildern entgegenzuwirken, die in den Herzen und Hirnen der Menschen nisten, und derer sich die Politik bedient, um ihre Interessen durchzusetzen. Kriegsuntüchtig werden heißt nicht zuletzt, sich gegen die Militarisierung von Wörtern und Begriffen zu wehren, die schon allzu weit in den Alltag und in die Alltagssprache vorgedrungen sind.
Kriegstüchtigkeit – das ist das eigentliche Unwort des Jahres 2023. Es ist so jenseits einer zivilisierten Welt angesiedelt, dass es einem schier den Magen umdreht.
Quellen:
Borchert, Wolfgang (1979): Das Gesamtwerk. Reinbek: Rowohlt
Fischer, Joseph (2024): Wir können nicht nur auf das Gute im Menschen vertrauen…“. https://www.augsburger-allgemeine.de/politik/interview-joschka-fischer-wir-koennen-nicht-einfach-nur-auf-das-gute-im-menschen-vertrauen-id69118266.html; Zugriff: 18. 1. 2024)
Gauck, Joachim (2012): Antrittsrede bei der Bundeswehr (https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2012/06/120612-Bundeswehr.html; Zugriff: 16. 1. 2024)
Gauck, Joachim (2014): Deutschlands Verantwortung in der Welt (https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2014/01/140131-Muenchner-Sicherheitskonferenz.html; Zugriff: 16. 1. 2024)
Mölling, Christian/Torben Schütz (2023): Den nächsten Krieg verhindern. In: GFAP Policy Brief. Heft 32, S. 1-10 (https://dgap.org/system/files/article_pdfs/DGAP%20Policy%20Brief%20Nr-32_November-2023_11S_1.pdf; Zugriff: 16. 1. 2024)
Münkler, Heribert (2007): Heroische und postheroische Gesellschaften. In: Merkur. Nr. 700. 2007 (https://www.merkur-zeitschrift.de/herfried-muenkler-heroische-und-postheroische-gesellschaften/; Zugriff, 16. 1. 2024)
Nachgefragt (2023): „Wir müssen so schnell wie möglich kriegstüchtig werden.“ (https://www.bundeswehr.de/de/aktuelles/meldungen/generalinspekteur-zur-kriegstuechtigkeit-bundeswehr-5718502; Zugriff: 16. 1. 2024)
Ntv 2023: Mentalitätswandel nötig. Oberster Soldat: Bundeswehr muss wieder kriegstüchtig werden. (https://www.n-tv.de/politik/Oberster-Soldat-Bundeswehr-muss-wieder-kriegstuechtig-werden-article24260720.html; Zugriff: 16. 1. 2024)
Pistorius, Boris (2023): Wir müssen kriegstüchtig werden. (https://www.zeit.de/politik/deutschland/2023-10/pistorius-modernisierung-bundeswehr-kriegsgefahr-europa; Zugriff: 20. 1. 2024)
Winkler, Heinrich August (2015) Rede vor dem Bundestag am 8. 5. 2015 (https://www.bundestag.de/webarchiv/textarchiv/2015/kw19_gedenkstunde_wkii_rede_winkler-373858; Zugriff: 16. 1. 2024)
Der Autor: Armin Bernhard, von 2003-2023 Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Duisburg-Essen. Letzte Veröffentlichung: Die inneren Besatzungsmächte. Fragmente einer Theorie der Knechtschaft, Weinheim u. München 2021
[i] Borchert 1979, S. 308 f.
[ii] Pistorius 2023 (https://www.zeit.de/politik/deutschland/2023-10/pistorius-modernisierung-bundeswehr-kriegsgefahr-europa)
[iii] Ntv 2023: Mentalitätswandel nötig. Oberster Soldat: Bundeswehr muss wieder kriegstüchtig werden. (https://www.n-tv.de/politik/Oberster-Soldat-Bundeswehr-muss-wieder-kriegstuechtig-werden-article24260720.html; Zugriff: 16. 1. 2024)
[iv]Nachgefragt (2023): „Wir müssen so schnell wie möglich kriegstüchtig werden.“ https://www.bundeswehr.de/de/aktuelles/meldungen/generalinspekteur-zur-kriegstuechtigkeit-bundeswehr-5718502; Zugriff: 16. 1. 2024)
[v] Christian Mölling/Torben Schütz (2023): Den nächsten Krieg verhindern. In: GFAP Policy Brief. Heft 32, S. 1-10 (https://dgap.org/system/files/article_pdfs/DGAP%20Policy%20Brief%20Nr-32_November-2023_11S_1.pdf; Zugriff: 16. 1. 2024)
[vi]Heinrich August Winkler (2015) Rede vor dem Bundestag am 8. 5. 2015 (https://www.bundestag.de/webarchiv/textarchiv/2015/kw19_gedenkstunde_wkii_rede_winkler-373858; Zugriff: 16. 1. 2024)
[vii] Münkler 2007
[viii] Gauck 2012
[ix] Gauck 2014
[x] So Sascha Lobo in Spiegel-Netzwelt vom 20. 4. 2022.
[xi] https://www.augsburger-allgemeine.de/politik/interview-joschka-fischer-wir-koennen-nicht-einfach-nur-auf-das-gute-im-menschen-vertrauen-id69118266.html